Das Göttingen International Ethnografic Film Festival (GIEFF) bietet jedes Jahr spannende Eindrücke aus der Schatzkiste des Ethnofilms. Was aber ist der Ethnofilm und was macht dieses Filmgenre so einzigartig?
Der Himmel ist in ein blasses Rosa getaucht. Die aufsteigende und unbarmherzige Sonne schiebt sich langsam aber sicher hinter einer Gebirgskette empor. Die Nebelschwaden, die der Atmosphäre ein schier unwirkliches Kleid überstülpen, schaffen Atmosphäre. Es erinnert an ein impressionistisches Meisterwerk, an die späteren Künstlerjahre eines Claude Monet. Da das Spiel mit Licht, Farbe und Form sich vollkommen von einer naturgetreuen Darstellung löste, konnte man nur noch erahnen, welche Naturschönheit sich hinter Farbe und Impression verbirgt. Doch dieses Bild eines blass-rosa Himmels zeigt sich auf einer Leinwand und in seiner vollen Pixelstärke, so dass das Erahnen nach nur wenigen Minuten einer unverkennbaren Wirklichkeit weicht. Es ist der Auftakt zu einem zweitägigen Filmmarathon und der Eröffnungsfilm des diesjährigen GIEFF in Koblenz.
Der Dokumentarfilm erfreut sich sicherlich nicht der größten Aufmerksamkeit unter den zahlreichen Filmgenres. Zumal ein ethnografischer Dokumentarfilm nach anderen, sagen wir mal besonderen, Spielregen spielt. Oder spielt er gar nicht? Eben diese Spannung zwischen Spielen und Nicht-Spielen ist vielleicht eines der herausragendsten Merkmale des Dokumentarfilms, wobei dem Montieren und Zusammenscheiden des gefilmten Materials eine besondere Rolle zukommt. Dem Dokumentarfilm traut man gemeinhin mehr zu als den gängigen Spielfilmen. Er ist authentischer, sagt man. Das soll er zumindest sein. Eine objektive Wahrheit kann uns natürlich kein Film vermitteln, doch der von mir liebevoll „Ethnofilm“ genannte ethnologische Dokumentarfilm erhebt zumindest den Anspruch einer wirklichkeitsgetreuen Darstellung, eines ihm am Herzen liegenden Sachverhalts.
Grenzen?! Fehlanzeige!
Eine allgemeingültige Definition, was nun einen ethnografischen Film ausmacht, kann und darf es nicht geben. Was den Filmemacher vor und während des Filmprozesses erwartet, unterliegt großen Schwankungen. Meist entwickelt sich eine Geschichte erst im Prozess des Filmens selbst. Ich muss stets bereit sein, Änderungen anzunehmen, mich ihnen anzupassen, Ideen umzuwerfen, Standards neu zu setzen und alles immer wieder zu hinterfragen. Die größte Tugend muss es sein, mit dem Film zu verschmelzen – nein, der Film zu sein.
Ursprünglich sollte der Film als eine weitere Methode der Ethnologie zusätzliches Forschungsmaterial generieren. Der Ethnologe wurde dabei von Fragen der Vermittlung getrieben: Wie kann ich etwas, dass in Worten kaum oder nur schwer zu fassen ist, einer breiteren Masse verständlich oder zugänglich machen? Wie kann ich das, was ich erlebe konservieren? Und wie kann ich mich erklären? Probleme, die Forscher im Feld immer begleiten und die nach einer Beantwortung suchen. Solche und ähnliche Fragen waren auch schon einmal Teil meiner eigenen Überlegungen und Begleiter auf einem langen und kreativen Prozess des Filmens.
Verstehen wir die Ethnografie als die Beschreibung, das Skizzieren oder die Darstellung eines Volkes, zumeist eines fremden, so nähern wir uns zumindest etymologisch der Bedeutung und Vorstellung dessen, was einen Ethnologen ins Feld verschlägt. Der ethnographische Film will also Inhalte im interkulturellen Kontext vermitteln. Doch wie macht er das?
Der Blickwinkel macht´s
In den Filmprozess starte ich zumeist als unbeteiligter Beobachter. Doch während meiner Arbeit entwickelt sich auch meine Rolle als Filmender weiter. Sie verändert sich häufig noch einige Male und schafft somit eine neue Dynamik. Die nach und nach entwickelten Bilder gleichen einer rituellen Transformation, ganz so wie es der bekannte Ethnologe Victor Turner im Hinblick auf Rituale in fast allen Kulturen erklärt. Der Filmemacher hält demnach nicht nur Rituale einer ihm fremden Kultur fest, er wird selbst zum Ritus. Denn für Turner bedeutet Ritual der Übergang von einem Zustand in einen anderen. Vom Kind zum Erwachsenen, vom Ledig- zum Verheiratet-Sein, vom unbeteiligten Beobachter zum Teil der Gruppe, zum Schaffenden.
Veränderung ist genau das, was ich mir vom ethnografischen Film erhoffe. Einen neuen Blickwinkel auf bereits Bekanntes, einen Blick auf völlige Unbekanntes, so dass ich meine Rolle neu überdenken kann.
Coal India heißt der Film, der mich beim GIEFF 2016 nachhaltig beeindruckt hat. Er ist bildgewaltig und verstörend zugleich. Neben fantastischen Aufnahmen und faszinieren Bildern, der fast mystisch anmutenden Kusundaarea in Indien, gesellen sich Bilderharter körperlicher Arbeit der Bewohner dieser Gegend. Es ist der Abbau von Kohle, der die Menschen dort über Wasser hält und deren Arbeit an vorindustrielle Zeiten erinnert. Es ist kaum vorstellbar, dass Menschen im 21. Jahrhundert noch so leben können. Unter ärmlichsten Bedingungen, die nahezu an Versklavung erinnern, schuften Menschen im Kohlebruch bei sengender Hitze, ohne Schuhe zwischen Geröll und spitzen Steinen, die Kohle auf dem Kopf in Körben transportierend. Zwischen Schutt und Asche blitzen in der Sonne die surrealistisch wirkenden, bunten indischen Laster, die die aufgeladene Kohle weiter ins Zentrum verfrachten. Vorbei an Dörfern, die sich um das Kohlerevier gebildet haben und an Kindern, die unter waghalsigen Aktionen auf Laster Klettern, um Kohle für sich abzufangen. Zwischen Entsetzen und Faszination für das Gesehene steht immer die Frage im Raum: Wie gelingt es dem Filmemacher, solch eine Nähe zu seine Protagonisten aufzubauen? Wie können Bilder, die so entsetzlich sind, solch eine visuelle Stärke entfalten und nahezu schön sein?
Es ist der Blick des Filmemachers. Es ist sein Talent, eine Intensität aufzubauen, die uns an die Leinwand fesselt. Es ist das Gespür für Menschen und Kulturen, die wir im Film sehen und fühlen können. Wir sind alle visuell geprägt; Bilder sagen oftmals wirklich mehr als Worte, schaffen Atmosphäre, helfen zu verstehen, da wo Worte scheitern.
Für mich ist der ethnografische Film Kunst, und zwar im besten Sinne. Auch wenn „Ästhetik“ hier oft als Schimpfwort verstanden wird, denn der ethnografische Film erhebt den Anspruch einer objektiv-rationalen, wissenschaftlichen Arbeit. Eine falsch verstandene Wissenschaftlichkeit allerdings verhindert das Übertreten von Grenzen, das Schaffen von neuen Standards und somit das richtige Verständnis von Film. Für all die Bilder, die Grenzen überschreiten und einen neuen Blick auf die Welt eröffnen, wäre diese wissenschaftliche Perspektive doch auch viel zu schade. Nur eines ist unabhängig vom Blickwinkel: Dass auch der Eindruck eines jeden Films nur subjektiv sein kann und muss.
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