Warum ich bisher ziemlich wahrscheinlich zu wenige und definitiv die falschen Filme geschaut habe? Bei meinem ersten Besuch eines ethnologischen Filmfestivals wurden mir die Augen für neue Welten eröffnet.
Es ist ein Feiertag, wunderschönes Wetter und vor den Eisdielen haben sich unüberschaubare Schlangen gebildet. Wahrscheinlich würde ich die ersten Sonnenstrahlen des Jahres heute ebenfalls am Rheinufer nutzen, aber ich habe meiner Freundin schon vor Wochen ein Versprechen gegeben. Wir haben uns für das Koblenzer Filmfestival angemeldet und so stehe ich nun wenige Minuten vor Beginn des ersten Films in einem dunklen und unterkühlten Gewölbekeller. Ich lasse den Blick über die Anwesenden streifen und sehe so manche Rasterlocke, eigenewillige Kleidungsstücke und der bedruckte Jutebeutel darf wohl bei niemandem fehlen. Ich glaube, ich vergaß es zu erwähnen: Hier geht es nicht um irgendwelche Hollywood-Blockbuster, sondern um ethnologisches Filmmaterial. Aber ich fühle mich nach einem köstlichen Matcha Tee und ersten kulturkritischen Gesprächen eigentlich ganz gut bei den zahlreichen Kulturwissenschaftlern aufgehoben.
Kohle gegen Leben
„Coal India“ heißt der erste Film und wurde von den beiden Studenten Felix Röben und Ajay Koli 2015 veröffentlicht. 47 Minuten sollte er lang sein, aber ich werde so von den Bildern gepackt, dass die Zeit, in welcher der Film spielt, mein eigenes Zeitgefühl aufsaugt. Es geht um den Kohleabbau im indischen Kusunda-Gebiet. Mit beeindruckenden Bildern wird der Alltag der zahllosen Menschen unter der Last der schwarzen Steine und der nie endenden Arbeit gezeigt. Hier arbeitet jeder Tag und Nacht – alte Frauen, Kinder und selbst Schwangere atmen den Kohlestaub ununterbrochen ein und versuchen das Nötigste zu verdienen. Ja, selbst ich in diesem Koblenzer Keller, tausende Kilometer entfernt, bekomme das Gefühl, die Kohle in meine Nase einzusaugen und ihren Geschmack auf meiner Zunge wahrzunehmen. Diese Arbeiter kennen kein anderes Leben. Sie wissen, sie werden in dieser Mondlandschaft des Kohleabbaus genauso sterben, wie auch ihre Kinder. Diese Art von Staub und Schmutz lässt sich nicht von der Haut abwaschen. Der Dreck dieser Welt wird eins mit dem Körper, denn dreckiger kann man seine Kohle kaum verdienen. Das geht unter die Haut!
Der Körper wird uns von den Gefilmten immer im Schatten der eigenen Arbeitskraft dargestellt. Eine alte Frau sagt stolz in die Kamera: „Ich bin unabhängig, denn ich verdiene mein Geld immer noch mit meinem eigenen Körper.“ An Orte wie diesen wurde also die körperliche Arbeit „outgesourced“, wo Menschen noch heute unter vorindustriellen Bedingungen ihr tägliches Brot verdienen müssen. Der Alkoholmissbrauch ist da häufig die einzige Möglichkeit, für einige Stunden aus der Begrenztheit des eigenen Daseins herauszutreten. Aber ganz konträr zu den Eindrücken dieser schmutzigen Geschichte ist das Ende: Tanzende Kinder, singende Erwachsene und humorvolles Handeln auf dem Markt geben dem ganzen Film eine völlig unerwartete Wendung. Es soll kein Hilferuf sein, kein Aufruf, sondern die Darstellung einer anderen Lebenswelt. Mit all ihren Facetten.
Die Reise geht weiter
In den nächsten Filmen werden mir schwimmende Kamele präsentiert und das älteste Auktionshaus Indiens auf dem Weg zur Modernisierung gezeigt. Ich merke schon, das sind hier alles Themen und Welten, die bisher weder Teil meiner Gedanken, geschweige denn Teil meiner Gespräche gewesen sind. Ich spüre die Neugier in mir, schäme mich aber auch ein wenig für Gedanken, die mich fragen, was ich hier überhaupt tue und wie lang wohl noch die Schlange vor der Eisdiele sei. So bleibt es doch zumindest zu fragen, ob ich mit diesen Inhalten nur mal auf einer kleineren studentischen WG-Party mit unnützem Wissen prahlen werde, oder ob es hier wirklich um eine profunde Erweiterung meines Horizontes geht.
Als das Licht wieder angeht und damit der erste Filmblock zu Ende geht, bin ich zumindest völlig zerstreut. Ohne dass ich mich in diesen letzten zweieinhalb Stunden überhaupt bewegt habe, wurde mein Geist wohl stärker als bei fast jeder meiner bisherigen Urlaubsreisen bewegt. Meine Gedanken sind immer noch bei Nomaden, streitenden indischen Brüdern und ganz besonders bei Kindern, die ihre Haut noch nie vollends befreit von Kohlestaub gesehen haben. Geisterhafte Fragen treiben ihr Unwesen in meinem Kopf: Das soll die Welt sein? Diese Szenen sollen sich tagtäglich auf diesem Planeten abspielen? Draußen, zurück in der warmen Sonne, muss ich mich in Gesprächen sammeln und erneut rekonstruieren, was ich da gerade alles gesehen habe.
Mann, war das peinlich…
Die Pause war recht kurz angesetzt und so hatte ich mich noch nicht ganz wieder zusammengesetzt, da finde ich mich schon in den Wäldern Papua Neuguineas wieder. Genauso wie bei Blockbustern gibt es auch solche und solche Ethnofilme. „Skin has Eyes and Ears“ von Daniela Vavrova wurde dabei schon zuvor als ästhetischer Film angekündigt, der Lebenswelten und Atmosphären einfangen möchte. Es folgten endlose Szenen, in denen die Filmemacherin Menschen aus Ambonwari auf Flüssen und Waldwegen begleitete. Der Film sollte mir die Grenzen der Sinnesvermittlung durch Filmmaterial aufzeigen. Und machen wir es kurz: Ja, das hat er wohl. Und ja, ich bin eingeschlafen.
Jetzt öffne ich die Augen wieder und blicke um mich, bin leicht verwirrt von den Bildern auf der Leinwand und meine Freundin grinst mich nur an. „Ist nicht schlimm, du warst nicht der einzige.“, flüstert sie mir ins Ohr. Das war wohl wirklich zu hart für mich. Hier ist klarzustellen, dass es ethnologischen Filmen niemals darum geht, künstlich über erdachte Geschichten Spannung zu erzeugen. Der Film zeigt eben das, was vor die Kamera kommt. Und so geht es diesen Filmen niemals um Perfektion, sondern darum, die „Einfachheit“ eines fremden Alltags darstellbar zu machen. Aber auch Einfachheit ist nicht einfach zu verstehen. Denn ethnologische Filme stellen Kulturgüter dar, die nicht voraussetzungslos zu genießen sind. Mir fehlte hier ganz klar die Bildung, was Methoden der Ethnografie und Hintergrundwissen aus der Ethnologie angeht, um diesen Film in seinem wahren Wert schätzen zu können.
Fazit
Auch die beiden folgenden Tage wurden verschlungen von Geschichten aus israelischen Friseurläden, amerikanischen Tankstellen und britischen Rinderfarmen. Bei all diesen Reisen an die teilweise entlegensten Ort dieser Welt mit all diesen intimen Bildern von fremden Menschen wurde mir eines klar: Die besten Geschichten schreibt immer noch das Leben selbst. Und die ethnologischen Filme geben echte Impulse. Meine Gedanken hören nun völlig neue Fragen: Wo sind eigentlich all die Nomaden hin? Was passiert in den Kohleminen Indiens? Und wie sah eigentlich die Kuh aus, dessen Milch ich trinke? Dabei kribbelt es mir immer wieder in Händen und Füßen, als müsste ich doch irgendwas machen. Muss man diesen Menschen nicht helfen, kann ich die Natur nicht besser schützen oder kann ich zumindest diese Orte einmal mit eigenen Augen sehen?
Aus Spaß sagte ich in einem Gespräch mit anderen Zuschauern: „Die Ethnologen haben die Welt nur verschieden gefilmt, es kommt aber darauf an sie zu verändern.“ Aber das ist wohl der falsche Gedanke. Die Ethnologie soll uns nicht aufzeigen, an welchen Orten wir noch Hand anlegen müssen, um „westliche Werte“ durchzusetzen, sondern möchte die letzte kulturelle Vielfalt einfangen, die der „McDonaldisierung“ noch nicht zum Opfer gefallen ist. Und so erzählte zum Beispiel einer der anwesenden Filmemacher, wie er eigentlich die Geschichte einer historischen Peitsche filmen wollte und wie er dann letztlich einen Film über zwei rivalisierende Brüder drehte. So spielt eben nur die wahre Welt.
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