Erst gab es Aufruhr um die Verhaftung der Band Pussy Riot. Dann kam ein Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“. Anfang 2014 wurde kritisiert, dass der Bau der Wettkampstätten in Sotschi die Umwelt nachhaltig schädigen wird. Russland wird kritisiert für seine Internetzensur, für seinen Umgang mit Gastarbeitern und Oppositionellen. Hauptsächlich gilt die Kritik dem Präsidenten und dessen Politik. Dann kam die Ukraine-Krise. Jeden Tag ist Putin in der Zeitung oder im Fernsehen zu sehen. Mit kurz geschorenem Haar und ernstem Gesichtsausdruck gibt der russische Präsident Interviews zum Datenschutz, militärischem Vorgehen auf der Halbinsel Krim und den Beziehungen Russlands mit den USA. Ein düsteres Bild, das daher von Russland und seinem Präsidenten gezeichnet wird. Einen Urlaub oder längeren Aufenthalt in Russland haben derzeit wahrscheinlich nicht viele Deutsche vor. Eine junge Studentin will das Ganze jedoch nicht aus dem fernen Deutschland beobachten. Esther Fitzinger will ein Auslandssemester in Russland machen. Sie ist trotz Kritik gespannt auf Land und Leute. Vielleicht auch ein bisschen gerade deswegen.
Seit über einem Jahr studiert die 20-Jährige Wirtschaftswissenschaften mit Schwerpunkt Betriebswissenschaft in Nürnberg. Von Februar bis Juni 2015 will sie an der HSE Universität in Moskau, der National Research University-Higher School in Economics ein Sommersemester verbringen. Die Universität im Zentrum der Hauptstadt Russlands zählt zu den führenden und größten Universitäten des Landes. Auch im Ausland hat die Universität einen guten Ruf und steht in regem Austausch mit ausländischen Universitäten. Doch das Semester in Moskau ist nicht die erste ausländische Bildungseinrichtung, die Esther kennenlernt: Ein Jahr hat sie bereits im westlichen Zentrum dieser Welt gelebt, in den USA.
Von Missouri nach Moskau
Während der zehnten Klasse im Gymnasium verbrachte Esther ein Austauschjahr im Bundesstaat Missouri in den USA. „In diesem Jahr habe ich viele neue Leute kennen gelernt, schöne Erfahrungen gemacht und auch sonst viel über Land und Leute erfahren. Genau das erhoffe ich mir von meinem Auslandssemester jetzt auch.“ Durch ihr Jahr in den USA hat Esther bereits Auslandserfahrungen gesammelt. Die waren durchweg positiv. Im Oktober wird sie wieder dorthin reisen und bis zum Jahresende in Oklahoma leben. Zwei Monate später geht es, wenn alles klappt, nach Russland. Davon erwartet sie sich genauso positive Erfahrungen, wie die, die sie in den USA machen konnte: „Russland hat mich schon immer fasziniert. Letztes Semester habe ich an der Uni einen Russischkurs belegt und war total begeistert. Deswegen habe ich mich für ein Auslandssemester in Russland entschieden, obwohl ich eigentlich immer nach Spanien wollte.“
Sollte Krieg ausbrechen, bleibt Esther in Deutschland
Die Pläne für das Auslandssemester entstanden schon vor Ausbrechen der Krise in der Ukraine. Ihre Pläne will Esther trotz der angespannten Lage in Europa nicht aufgeben. Bis jetzt gibt es auch keinen Grund, warum die deutsche Studentin in Russland nicht sicher wäre und ihr Auslandssemester nicht antreten sollte. Sollte sich die Lage jedoch tatsächlich weiter anspannen, ist nicht sicher, ob Esther ein Visum für ihr Semester bekommen wird. Eine Gefahr besteht nicht, sagt sie. Trotzdem ist das Auslandssemester nicht ganz sicher, das kommt ganz darauf an, wie sich die Lage in den nächsten Monaten entwickelt. Und alles hängt davon ab, ob Esther von den russischen Behörden ein Visum für ihr Auslandssemester bekommt. Einfache deutsche Staatsbürger oder Studenten waren bis jetzt von den Reisebeschränkungen nicht betroffen. Das galt Anfang des Jahres nur für US-amerikanische Gesandte, und auch russische Beamte durften keine Reisen in den Westen antreten. Falls Krieg ausbrechen sollte, wird Esther nicht nach Russland gehen. „Aber falls sich die Lage wirklich dramatisch verschlechtern sollte, dann würde das die Uni in Deutschland wahrscheinlich auch gar nicht zulassen.“
„Ich bin schon gespannt auf das Auslandssemester und wie die russische Bevölkerung die Lage in Europa sieht“, sagt die 20-Jährige. Trotz aller berechtigten Kritik am russischen Staat und seinem Präsidenten zeigt Esthers Plan, gerade in diesem Land zu studieren und die Menschen dort kennenzulernen, dass man kein Schwarz-Weiß-Denken anderen Ländern und Kulturen gegenüber entwickeln sollte. Ihre Sicht der Welt erinnert daran: Es ist wichtig, offen zu bleiben für Neues und die Sichtweisen anderer Menschen nicht zu verurteilen, sondern sich dafür zu interessieren und sie anzuhören. Dialog ist schließlich auch in der Politik das Wichtigste. Wieso nicht im Kleinen damit anfangen.
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