Ohne es absichtlich so geplant zu haben, taucht Norina an einem einzigen Tag im Oktober 2024 tief in zwei sich gegenseitig ausgrenzende Lebensrealitäten in und um Jerusalem ein. Den Vormittag verbringt sie unter vergnügt studierenden jungen Jüdinnen und am Nachmittag schüttet ihr eine muslimische Freundin aus Ostjerusalem ihr Herz über die Zustände und Bedingungen in ihrer Community aus.
Von Tora, Talmud und jüdischem Dating
Zum Beit Midrash kommen praktizierende jüdische junge Frauen sogar ein Jahr, nachdem sie ihr Programm dort absolviert haben, für den Monat vor Yom Kippur freiwillig zurück, um weiter zu lernen (denn es gibt immer mehr im jüdischen Glauben zu erforschen, mehr Bücher zu lesen, mehr Verse der Tora und des Talmud zu verstehen und zu debattieren), zu beten, in Gemeinschaft zu leben und sich auf das neue Jahr und den Tag der Sühne – Yom Kippur – vorzubereiten.

Die Anlage lädt zum dankbaren Gebet ein, bietet wunderschöne Aussichtspunkte und ein modernes und komfortables Gebetshaus. Nach Morgengebet und Frühstück ist das selbstständige Lernen zu zweit oder zu dritt an der Tagesordnung. Die Lehrerin einer Kleingruppe verteilt ein Blatt zum Tora-Vers des Tages und glücklicherweise haben Lieles Lernkameradinnen ebenfalls einen US-amerikanischen Hintergrund, wodurch wir uns alle auf Englisch unterhalten können.
Wir haben es tatsächlich geschafft, ein wenig zu lernen (das bedeutet, zuerst den Tora-Vers, dann den entsprechenden Abschnitt im Talmud und anschließend unterschiedliche Kommentare von Rabbis zu lesen und zu verstehen versuchen). Die meiste Zeit unterhalten wir uns aber über ganz andere Dinge. Zuerst werde ich über meinen Hintergrund und mein Studium in Jerusalem ausgefragt. Dann wollen die Mädels einiges über Ähnlichkeiten und Unterschiede im christlichen Glauben wissen, vor allem über meinen Aufenthalt im Kloster in Frankreich – bevor ich nach Israel zog – an den ich dort stark erinnert wurde. Und schließlich tauschen wir uns ausgelassen über jüdisches Dating – die Pros und Kons des Systems – aus. Ich fühle mich auf Anhieb in dieser Schule wohl und werde herzlich von Lieles Freundinnen aufgenommen.
Gesegnet in das neue Jahr
An der anschließenden Unterrichtsstunde kann ich leider nicht aktiv teilnehmen, weil diese auf Hebräisch gehalten wird. Doch dadurch hat sich meine Motivation, weiter Hebräisch zu lernen, deutlich verstärkt. Vielleicht kann ich nächstes Jahr schon mehr verstehen! Immerhin nehme ich wahr, in welch schöner Atmosphäre hier gelernt wird. Ein Mädchen malt mit Aquarell-Farben, ein anderes stickt ein Kunstwerk auf ihre Jeans-Jacke und Liele schreibt eifrig in wunderschöner Handschrift mit. Die jungen Frauen sind hier, weil sie das möchten! Sie wollen die jüdischen Schriften, Traditionen und die Bibel besser verstehen und nehmen deswegen gerne am Unterrichtsgespräch teil.

Es geht um den Auftrag in Levitikus 23,40, am ersten Tag von Sukkot ein Bündel aus Dattelpalmenblättern, Weiden und Myrte gemeinsam mit einer zitronenartigen Frucht zu schnüren, damit das neue Jahr, das laut jüdischer Tradition bald auf das Laubhüttenfest folgen wird, mit Segen in Empfang genommen werden kann. In der anschließenden Mittagspause erklärt mir Liele, dass es in dem ganzen Monat Unterricht um Sukkot, das Laubhüttenfest, ging und dabei um die Frage, ob die zu bauende Hütte eher den Tempel oder das eigene Zuhause repräsentieren soll. Je nach Verständnis verändert sich auch die Bedeutung der einzelnen Mizwot, der Gebote, im Zusammenhang mit dem Fest. Die Zeit in der Midrasha vergeht viel zu schnell und nach dem Mittagessen muss ich mich wieder auf den Heimweg begeben. Dina, eine von Lieles Freundinnen, hat mich direkt wieder eingeladen.
Von Unbeschwertheit zu Lebensnöten
Zurück in Jerusalem treffe ich mich mit meiner palästinensischen Freundin, die ich an dieser Stelle Shirin nenne, in einem Café im arabischen Viertel Sheikh Jarrah. Sie möchte nicht, dass ich ihren Namen hier erwähne. Ihr werdet verstehen, warum. Denn nachdem sie mich nach meiner Familie, meinem Bruder (den sie während seines Besuches in Jerusalem auch einmal getroffen hat), unserer Reise nach Jordanien und meinem Neffen gefragt hat, schüttet sie mir ihr Herz über die angespannte Lage aus.
Der iranische Raketenangriff hat in ihr unbeschreibliche Angst ausgelöst, weil es in ihrem Haus und in ihrer Nachbarschaft keinen Schutzbunker gibt. Mit Tränen in den Augen erklärt sie mir, dass doch jeder Mensch ein Recht auf ein Leben in Frieden und Schutz hat. Sie besitzt die US-amerikanische Staatsbürgerschaft, doch würde sie für ein Auswandern die Erlaubnis ihres Vaters benötigen, und die bekommt sie nicht. Auch darf sie mit ihren 30 Jahren als Lehrerin an einer arabischen Schule nicht aus ihrem Elternhaus ausziehen.
Ohnmächtig im Angesicht von Herausforderungen und Druck von außen und von innen
In Jerusalem fühlt sie sich sehr unfrei. Es ist ihr nicht erlaubt, mit ihren Schülern über den aktuellen Konflikt zu reden, dabei würde sie gerne für die unterschiedlichen Perspektiven sensibilisieren. Seit dem 7. Oktober 2023 hat sie aufgehört, gewissen Facebook-Seiten zu folgen, weil israelische Soldaten in Kontrollen den Arabern die Handys abnehmen und ihre Social Media-Aktivitäten und Fotos auf den Geräten überprüfen. Sie darf keine Kommentare verfassen, noch nicht einmal ein Like setzen.
Besonders der 7. Oktober in diesem Jahr war schwer für sie, weil ihrem Gefühl nach nur die israelische Seite beleuchtet wurde, es aber keinen Raum gab, das Leid der betroffenen Araber im ganzen Land anzusprechen. Sie fühlt sich ohnmächtig und stimmlos. Auch hat sie panische Angst vor IDF (Israeli Defense Forces)-Soldaten, die in ihrem Viertel teils unangekündigt die Häuser der Anwohner betreten.

Dann erzählt Shirin mir von ihren Schülern, für die sie Lehrerin, Therapeutin, Mutter und Schwester sein muss, weil diese jungen Menschen tief verletzt sind, in Shirins Augen einerseits wegen des Konflikts, andererseits aber auch wegen der Kultur, in der sie aufwachsen. Meine Freundin zählt viele Punkte auf, in denen sich ihre Kultur und Religion verändern müssen, damit Menschen in Freiheit und Frieden leben können. Und sie wünscht sich so sehr, dass sie einen positiven Samen in die Herzen ihrer Schüler säen kann, der zu seiner Zeit aufgeht und gute Frucht bringt.
Sie vertraut mir an, dass in ihrer Kultur regelmäßig aus den unterschiedlichsten Gründen Femizide begangen werden. Männer brüsten sich geradezu damit, ihre Schwester oder Ehefrau umgebracht zu haben, weil diese sich falsch verhalten habe. Eine von Shirins Schülerinnen äußerte das Ziel, zu heiraten und von ihrem Mann umgebracht zu werden. Als sie erwähnt, dass eine andere Schülerin von ihrem Vater sexuell missbraucht wird, bricht es mir das Herz. Ich habe schon vorher ähnliche Geschichten gehört, doch jetzt sind sie so nah und greifbar.
Wo ist Gott? Und vor allem, WER ist Er?
Meine Freundin ist überzeugte und mit Leidenschaft praktizierende Muslima. Gott bedeutet ihr alles. Auch deswegen können wir eine so enge Beziehung aufbauen: Unser Glaube an einen liebenden und souveränen Gott verbindet uns. Wenn wir uns darüber austauschen, wie wir Gott kennengelernt haben, wer Er für uns ist und wie wir mit Ihm interagieren, dann verstehen wir uns sehr gut.
Shirin hat ein liebevolles und weiches Herz. Und sie ist ehrlich. Sie erzählt mir, dass im Islam gelehrt wird, die Bibel sei zwar ein heiliges Buch, doch sie wurde über die Jahrhunderte von Mönchen abgeändert. Dann fragt sie mich, ob das stimmt. Ich erkläre ihr, dass Juden und Christen die identische Bibel haben, zumindest was das Alte Testament angeht. Wenn Mönche die Bibel verfälscht hätten, so würden sie die Juden ganz bestimmt nicht nutzen.
Mit einer Muslima in die Bibel schauen
Ich erzähle ihr von meiner eigenen Beziehung zur Bibel, zu Gottes Wort. Ich glaube, dass Gott sich selbst in der Bibel den Menschen vorstellt, um mit ihnen eine Beziehung aufbauen zu können, entweder durch Gesetze oder Prophetien oder Geschichten, in denen Er mit den Menschen interagiert. All dies soll Gottes Charakter verdeutlichen. Normalerweise laufe ich nicht mit meiner Bibel in der Tasche herum. Doch ausgerechnet heute habe ich sie dabei. Ich hole sie heraus und lasse Shirin einen Blick in meinen Schatz werfen.
Wir unterhalten uns noch weiter über die Bibel, Gottes Charakter, Hoffnung durch Jesus und König David. An zwei Stellen drückt meine Freundin aus, wie wichtig es ist, Dinge nicht nur über andere Menschen zu lernen, sondern mit diesen Menschen direkt ins Gespräch zu kommen. Heute hat sie viel Neues von mir über den christlichen Glauben gelernt. Das kann ich nur erwidern. Durch sie erhalte ich Einblicke in die muslimische Lebenswelt. Sie nimmt mich ebenso in ihre Denkweise, ihren Glauben und ihre Kultur mit.
Erneut verfliegt die Zeit im Nu, auch wenn ich nach einem solch intensiven Gespräch ziemlich erschöpft bin. Tatsächlich darf ich am Ende noch für Shirin beten und sie segnen. Sie liebt es, wenn ich spontan laut bete. Wir fahren gemeinsam im Bus nach Hause. Ich grüße den Busfahrer freundlich. Sie sagt mir anschließend, dass es arabischen Frauen nicht gestattet ist, Busfahrer anzusprechen.
Woher kommt der Friede mitten im Sturm?
Zuhause angekommen begrüßt mich der laufende Fernseher mit Nachrichten zuerst wieder auf den 7. Oktober bezogen und anschließend über den Monster-Hurrikan, der auf die USA zusteuert. Auch meine Nachrichten-Apps auf dem Handy lassen mir keine Ruhe. Ich bin müde und möchte einfach nur schlafen. Gerade fühlt sich alles zu schwer und überwältigend an. Doch ich bin zum Telefonieren mit meiner Freundin Annemarie verabredet. Sie lebt und arbeitet seit 2,5 Wochen in Tansania. Gott sei Dank nehmen wir uns wirklich noch Zeit zum Reden. Annemarie hilft mir, meinen Tag zu verarbeiten und die Gedanken und Anliegen am Schluss vor Gott zu bringen.
Ja, ich glaube, dass Gott in Kontrolle ist. Ich vertraue auf seine Treue und habe seinen Segen in meinem Leben erlebt. Ich weiß, dass Er gut ist. Ich weiß, dass Er einen guten Plan hat. Ich habe gesehen, wie Er mitten im Chaos neues Leben hervorbringen kann. Ich glaube ganz fest, dass die Liebe Gottes, die die Welt erschaffen und in Jesu‘ Tod am Kreuz den Tod als solchen besiegt hat, die mächtigste Kraft im Universum ist. Und doch verstehe ich so viele Dinge nicht.
Ich bin zutiefst dankbar für den Segen, in dem ich aufwachsen durfte. Ich bin dankbar für die Freude und den Frieden, die Jesus in mein Leben gebracht hat. Doch manchmal fühlt sich mein Herz in der Brust sehr schwer an, wenn mir bewusst wird, wie viele Menschen genau das nicht haben, was mein Leben so reich macht. Herr, nimm mein Leben und setze es dafür ein, dass anderen Menschen Gutes wiederfährt und sie zur Quelle des Lebens, zu Dir, kommen…
Deine Fortsetzung zeigt wieder wie intensiv du in Beziehungen lebst und mit einem demütigen Herzen Raum schaffst für Begegnung und Verständnis. Ich wünsche dir, dass dein Wunsch am Ende des Berichtes immer mehr in Erfüllung geht.