Es ist Mittwochmorgen, Zehn Uhr. In der Medienethikvorlesung knallt uns unser Professor ein Titelblatt der bekanntesten deutschen Boulevardzeitung vor die Nase. Unter dem Namen „Harald Glööckler“ steht in fetten, weißen Großbuchstaben „KOKAIN-SKANDAL!“ mit dem Nachsatz „Strafverfahren gegen Modezar“. Daneben prangt ein riesiges Foto des Modesigners. Im Artikel heißt es wie folgt: „Nach BILD-Informationen ermittelt die Berliner Staatsanwaltschaft gegen Modezar Harald Glööckler (48). Es geht um den Verdacht von Drogenbesitz – möglicherweise sogar Drogenhandel! […] Der Verdacht: Bei den Lieferungen soll es um mehr als zehn Gramm Kokain gegangen sein. […] Ein Zeuge hatte detailliert gesagt, wann und wo der Modedesigner das Kokain gekauft haben soll. […] Glööckler erklärte gestern über seinen Lebensgefährten Dieter Schroth, die Vorwürfe seien „an den Haaren herbeigezogen“.
Berichterstattung zu verantworten?
Aus (medien-)ethischer Sicht ist diese Berichterstattung absolut verwerflich. Die Überschrift „KOKAIN-SKANDAL“ vermittelt den Lesern den Anschein, Harald Glööckler sei des Drogenhandels oder zumindest des Drogenbesitzes überführt. Dem ist aber nicht so. Dass es sich lediglich um einen Verdacht handelt, wird erst im Artikel deutlich. Dennoch kann kein Journalist nur aufgrund von einer einzigen Zeugenaussage jemanden in diesem Maße vorverurteilen. Je schwerer der Vorwurf ist, desto mehr Quellen sind nötig, um einen ethisch einwandfreien Bericht zu verfassen. Tatsächlich hat die BILD mit ihrer Berichterstattung nicht nur gegen ethische Maßstäbe des Pressekodex, sondern auch gegen das Gesetz verstoßen.
Das Landgericht Köln erwirkte wegen Verleumdung und Rufmord eine einstweilige Verfügung gegen die Zeitung. Der BILD wurde verboten, die Vorwürfe gegen Glööckler zu wiederholen – andernfalls drohe ein Ordnungsgeld von 250.000 Euro. Das einst so „pompööse“ Bild, das die Öffentlichkeit von dem Modezaren hatte, bekam dennoch herbe Kratzer. Bereits einen Tag nach Veröffentlichung des BILD-Artikels folgten rund 3.000 weitere Medienberichte über den „Fall Glööckler“. Der Designer reagierte prompt: Er gab eine Pressekonferenz, in der er zwar keine Fragen von Journalisten beantwortete, die Vorwürfe der BILD aber entschieden von sich wies. Die Berichterstattung gefährdete sowohl die wirtschaftliche als auch die soziale Existenz von Glööckler. Denn obwohl er die Vorwürfe dementierte, blieben der Gesellschaft die (falschen) Verdächtigungen im Gedächtnis.
Sorgfaltspflicht? Was heißt das?
Wie schon der Volksmund so schön sagt: „Im Zweifel für den Angeklagten.“ Solange das Gericht noch kein Urteil gefällt hat, können sich Staatsanwaltschaft, Polizei und angebliche Zeugen also mit ihrer „Vorverurteilung“ noch so sicher sein, der Angeklagte gilt bis zur Verurteilung als unschuldig. Journalisten dürfen aber nicht vorverurteilen. Sie sind der Sorgfaltspflicht unterworfen. Neben der Pflicht zur wahrheitsgemäßen Berichterstattung gehört die journalistische Sorgfaltspflicht zu den wichtigsten Pflichten der Presse. Festgehalten ist sie in den Landespressegesetzen, beispielsweise in Artikel 3, Absatz 2 im bayrischen Pressegesetz. Konkret bedeutet das, Journalisten müssen Informationen und Nachrichten unabhängig und sachlich, mit Sorgfalt auf Wahrheit und Herkunft überprüfen. Ganz besonders wichtig ist hierbei, die betroffenen Personen nach Möglichkeit zu Wort kommen zu lassen – das hat die BILD-Zeitung im „Fall Glööckler“ vernachlässigt. Außerdem müssen Journalisten zwischen der Privatsphäre der Person und dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit abwägen: Welches Interesse überwiegt im konkreten Fall?
Über Skandale berichten oder selbst Skandale schaffen?
Der Bundesgerichtshof hat hier einen strengen Maßstab veranschlagt, weil die Presse in Deutschland hohes Ansehen und Vertrauen genießt und einen weitreichenden Einfluss hat. Lediglich der Sachverhalt der „Eilbedürftigkeit“ kann der Sorgfaltspflicht Einhalt gebieten. In speziellen Fällen, beispielsweise vor Wahlen können auch Verdachtsmomente ausreichen, um eine Berichterstattung zu rechtfertigen, da sie unter enormem Zeitdruck entstehen muss. Einzelne Personen sind stärker geschützt als größere Gruppierungen, da sie mit einer belastenden Berichterstattung leichter angreifbar sind. In jedem Fall muss der Journalist der Gegenseite die Möglichkeit zur Stellungnahme bieten, wobei objektive Zweifel auch als solche berichtet werden müssen. Bei der Übernahme aus anderen Medien ist höchste Vorsicht geboten: Egal wie seriös die Quelle erscheinen mag, ein guter Journalist überprüft sie durch mindestens eine weitere.
Einige Wochen nach der ersten Veröffentlichung titelt die BILD: „Staatsanwaltschaft fegt Koks-Verdacht vom Tisch“. Auf bild.onlie heißt es: „Keine Beweise für Kokain-Vorwürfe! Staatsanwaltschaft stellt Ermittlungen gegen Modezar Glööckler ein". Dass die BILD selbst die Vorwürfe publik gemacht hat, erwähnt kein Redakteur mit einem Sterbenswörtchen. Auf Glööcklers Homepage ist auch heute, fast ein halbes Jahr nach Veröffentlichung des Artikels, noch folgender Hinweis zu sehen: „Achtung: Angeblicher Kokain-Skandal ist ein Medien-Skandal“. Nicht alles, was in unserer journalistischen Macht steht, ist auch gut. Sicher ist es eine Aufgabe von Journalisten über Skandale zu berichten. Aber genauso sicher ist es zweifelsohne keine Aufgabe von Journalisten, selbst Skandale zu schaffen.
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