Mal vergeht sie wie im Fluge, mal fließt sie zähflüssig dahin und mal bleibt sie einfach stehen, so wie jetzt im Lockdown – die Zeit. Was sie aktuell mit uns anstellt und wie wir uns in der Endloswarteschleife am Puls der Zeit halten.

„World War Z“, „Outbreak“, „I Am A Legend“, „28 Days Later“, „Contagion“, ein Blick auf die Premieren einiger Fiction-Filme der letzten Jahre und wir sehen unser Leben mit anderen Augen. Zwar spielen darin nicht Kate Winslett oder Brad Pitt die Hauptrolle, doch die Ähnlichkeit zu Viren, die die Welt bedrohen, zu mutierten Wirtstieren oder der Hoffnung auf einen Impfstoff, ist bedrückend. Das eigene Leben wird zu Material für einen Blockbuster, das Zuhause zu einem Stück des roten Teppichs, der Terminkalender plötzlich zum Drehbuch? Neben einem Augenzwinkern bedarf es einer guten Portion Durchhaltevermögen und viel Sitzfleisch, denn der Film hat deutlich Überlänge.
Ein kleiner Virus und ein großer Lockdown wirbeln unser aller Zeitgefühl gewaltig durcheinander. Das Leben im Lockdown, manchmal kriecht, manchmal schlendert es vor sich hin. Es hält sich genau an die Regieanweisungen, die im Moment zugegeben langatmig sind. Seit Monaten hängen wir gefühlt fest. Gerade war es März, jetzt schon Juli? Oder erst?
Dreht sich die Welt wirklich langsamer oder sind das meine Gedanken, die nicht mehr in meinen gewohnten Tagesrhythmus passen?
Woran liegt das? Das menschliche Gehirn verfügt zwar über einen Tag-Nacht-Rhythmus, dem Nucleus Suprachiasmaticus sei Dank, aber eine tickende „Innere Uhr“, wie es oft heißt, gibt es nicht. Wir messen Zeit mithilfe von unseren Tätigkeiten. Wir können abschätzen, wie lange es dauert zwei Stunden zu arbeiten, aber nicht, wie sich diese zwei Stunden an sich anfühlen. Muss man diese absitzen, ist das wahnsinnig zäääääh und laaang, mit Beschäftigung verstreicht die Zeit viel schneller.
Das ist wohl das, was das „Warten“ so schmerzlich macht. Wie nervtötend die fünf Minuten bis der Bus kommt oder die zehn Minuten, die sich die Freundin verspätet, sein können, weiß jede/r, der/die sich noch an die Zeit vor dem Smartphone erinnert. Was hilft beim Warten, ist, sich abzulenken. Ein Buch, ein Gespräch, sogar nur einmal um den Block gehen. Von wegen, Vorfreude ist die schönste Freude.
Fünf Minuten sind nicht gleich fünf Minuten
Zeit ist nicht nur relativ, sondern auch subjektiv. Der aktuelle emotionale Zustand, in dem sich jemand befindet, kann ebenfalls beeinflussen, wie lange „nur noch fünf Minuten“ sind.
Platt formuliert könnte man sagen: wer sich freut, für den vergeht die Zeit schneller. Vielleicht ist an der Vorfreude also doch etwas dran.
Auch Erwartungen haben einen Einfluss auf den Zeitfluss. Verspätungen oder lange Meetings sind so schwer zu ertragen, da man nicht weiß, wie viel Zeit man hierfür erwarten muss.
Im Skript Corona treffen diese beiden Regieanweisungen aufeinander. Das Warten ohne zu wissen, was man erwarten kann. Kein Wunder, dass man meinen kann, man hänge seit März in der Warteschlange, vergleichbar mit der, einer Telefonhotline. Es bleibt einem nichts anderes übrig als die monotone Melodie aus dem Hörer hinzunehmen, jedes Mal, wenn sie von Neuem beginnt, kurz aufzuschnappen – für einen kurzen Augenblick zu meinen, das Warten hätte jetzt ein Ende. Gibt es erlösende Neuigkeiten? Doch nein, das nervtötende Gedudel geht weiter. Wir müssen unseren passiven Teil in dieser Endlosschleife hinnehmen, so schwer es auch fällt. Das Warten auf Veränderungen oder gar ein Ende des Lockdowns ist nicht leicht. Zum einen da niemand diese Zeit abzuschätzen vermag, zum anderen weil im nun räumlich begrenzten Alltag auch nicht viel Bewegendes geschieht. Im Home Office zum Beispiel sind die Tagesabläufe sich deutlich ähnlicher als im Büro unter KollegInnen und dem ein oder anderen Auswärtstermin. Das gleiche gilt für soziale Kontakte. Viele Aktivitäten, die nun entfallen oder verschoben werden, brächten gewöhnlich unser Zeitgefühl in Schwung. Da ist es nicht verwunderlich, dass der Szenenwechsel im aktuellen Film so einschläfernd wirkt.
Auch der abstrakteste Spannungsverlauf kann zum öden Alltag werden.
Jetzt müsste man meinen, alle suhlten sich in Langeweile und verlangsamtem Leerlauf. Doch was mir in letzter Zeit auffällt, steht dazu paradox: spontan Menschen zu einem Telefonat oder gar Spaziergang zu gewinnen ist beinahe unmöglich. Vor oder zu Beginn der Corona-Krise gelang mir das besser, obwohl wir da alle „keine Zeit“ und dann plötzlich „zu viel Zeit“ hatten. Die Ausrede mit der Zeit war schon damals eine Frage der Priorisierung und eine salonfähige Ausrede . Aber hat der Corona-Alltag die nicht gerade aufgedeckt?
Jede/r hat sich in diesen letzten, den Alltag umkrempelnden Monaten seine eigene Zeitrechnung erschaffen und sich in seiner persönlich wohligen Routine eingenistet. Ich ertappe mich selbst dabei, Telefonate zu planen und auf die Tageszeit zu schieben, die ich mir hierfür eingerichtet habe. Davor muss ich mich stringent an meinen Zeitplan halten, damit ich einen Tag spüren kann – und vor allem meinen Selbstanspruch an das, was ich für Produktivität halte, erfüllen. Auf einmal lag mein Tagesablauf komplett in meiner Hand: keine festen Termine, die Arbeitszeit viel flexibler und viel schwerer von der Freizeit abzugrenzen. Und so schuf ich mir meine eigene Routine, meine Tageszeiten, die ich befolge, damit ich etwas zu folgen habe. Ein spontaner Anruf am Vormittag kommt ungelegen, hab ich doch am Nachmittag so viel freie Zeit, die ich noch füllen muss. Tut mir leid, ich melde mich später!
Was bleibt, wenn der Vorhang fällt?
Man denke an die eigene Kindheit zurück. Unendlich lange kommt sie vor, ist sie einmal vorbei. Da so viele Ereignisse, so viele erste Male wie nie, vom Gehirn abgespeichert wurden, nimmt man diese als eine relativ lange Zeitspanne wahr. Hier zeigt sich eine Parallele zu unserem neuen Alltag. Auch jetzt gibt es viel Bemerkenswertes und erste Male. Wenn wir in ein paar Jahren in Gedanken an „diese verrückte Zeit“ schwelgen, dann wird sie uns ebenfalls lang vorkommen, doch vermutlich nicht, wie die vier oder fünf langatmigen Monate, die hinter uns liegen. Denn die Rückschau kann Zeiten verzerren. Sie bleibt wohl im jetzigen Szenario unsere letzte Hoffnung. Der Gedanke, zu wissen, dass diese Monate in der Warteschlange sich später nicht wie „verwartete“ Monate anfühlen müssen, hat, zumindest für mich, etwas Tröstliches.
Bis dahin bleibt wohl nichts anders als Abwarten und Däumchen drehen. Dabei die Drehrichtung ab und an wechseln. Denn Routinen brechen, Ungewöhnliches eingehen, womöglich ein erstes Mal versuchen, das lässt den Sekundenzeiger schneller ziehen. Eine Prise Spontanität und du wirst sehen, es fühlt sich an wie die große Freiheit – ein Werbetrailer für eine Komödie – zur Abwechslung mal ein anderes Genre als die tägliche Fiction.
Zurück in den Kinosaal, in dem das Publikum zunehmend unruhig wird. Denn jeder/m ist klar: dieser Film ist nicht gut – kein Spannungsbogen, geschweige denn Romantik. Er ist langatmig. Wir sehen dem Ende entgegen, dem Happy End, bei dem wir nicht nach Hause, sondern nach draußen gehen. Bei dem wir die kleinen, früher so alltäglichen Dinge, die man fast nur noch aus Filmen kennt, wieder erleben als würden wir es zum ersten Mal tun.
Ist die Vorstellung vorbei, werden wir uns den Abspann dieses Film vermutlich nicht noch mit geduldiger Muße ansehen: Die Zeit wird Fahrt aufnehmen, ein Strudel aus den Erlebnissen, die wir so lange auf die Wartebank schieben mussten, wird uns packen. Wir werden unsere Routinen spontan fallen lassen – und zack, den Blick auf die Uhr vergessen. Inmitten unserer neuen/alten, kleinen und abwechslungsreichen Tätigkeiten wird sich der Stundenzeiger wieder im Stechschritt drehen. Ehe wir uns versehen, werden wir uns wieder nach ruhigeren Zeiten sehnen. Oder ist es möglich und vielleicht sogar wünschenswert, ein wenig von dieser neu entwickelten Zeitrechnung der Langsamkeit zu erhalten?
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