Ihr halbes Arbeitsleben lang hat Christine S. immer „Ja“ gesagt, wenn man sie um etwas gebeten hat. Ein, zwei Stündchen länger im Büro bleiben? Klar. Die Leitung des kleinen Dienstags-Kurses übernehmen? Gern. Den Posten der stellvertretenden Fachseminar-Leitung annehmen? Unbedingt! Heute schafft sie es nicht einmal mehr, mit einem „Ja“ einen neuen Tag zu beginnen.
In ihr Buch versunken sitzt sie auf der Couch. Ihre Augen scheinen die Seiten des Romans förmlich zu verschlingen. Trotzdem wirkt Christine S. ruhig, ausgeglichen. Hin und wieder nimmt sie einen Schluck aus der bunt gemusterten Teetasse. Sie trinkt Kamillentee. „Das beruhigt mich zusätzlich“, sagt sie lächelnd. Ein Blick auf ihre Armbanduhr lässt sie zusammenschrecken. Hastig steht sie auf und kramt in der untersten Schublade ihres Medizinschranks. Ihre Hände zittern, auf ihrer Stirn haben sich Falten gebildet. „Beinahe hätte ich wieder vergessen, meine Antidepressiva zu nehmen“, gesteht sie mit leiser Stimme. In ihr kocht es, seit die Nerven durchgebrannt sind. Seit zwei Jahren geht es ohne die tägliche Dosis Antidepressiva nicht mehr. Ungern erinnert sie sich an Wochenenden, an denen sie zu ihrer Tochter nach Straßburg gereist war, ihre Tabletten jedoch zu Hause vergessen hatte. Schnell wurde Sie unruhig und launisch, wollte nichts unternehmen und verspürte eine tiefe Müdigkeit, selbst nach mehr als acht Stunden Schlaf. Vor allem aber wollte sie ihre Ruhe haben, wollte nicht unter Menschen sein oder mit irgendjemandem reden.
Ist Burn-out überhaupt eine Krankheit?
„Das sind alles durchaus typische Symptome für das Burn-out-Syndrom“, hat mir der Psychologe damals versichert. Oder nein, er sagte nicht Burn-out, er nannte es „Erschöpfungsdepression“. Wie die Psychologen die Krankheit bezeichnen, mit der die 59-Jährige nun seit zwei Jahren zu kämpfen hat, ist für die Sekretärin zweitrangig. Das „Burn-out-Syndrom“ definierte der Psychoanalytiker Herbert Freudenberger 1974 erstmals als das „Nachlassen bzw. Schwinden von Kräften oder Erschöpfung durch übermäßige Beanspruchung der eigenen Energie, Kräfte oder Ressourcen.“ Eine Diagnose stellen jedoch die wenigsten Psychologen. Viel öfter steht als Diagnose „Erschöpfungs- oder Angstdepression“ auf dem orangenen Überweisungsschein an den Psychotherapeuten. Laut einer Studie des Robert Koch Instituts waren 2012 6,6 Prozent von 7.807 Burn-out-Erkrankten in der Altersgruppe zwischen 50 und 59 Jahren – Christine S. ist eine von ihnen.
„Das ist doch keine Krankheit. Manche Leute sind es einfach nicht mehr gewohnt, zu arbeiten“ oder „Burn-out-Betroffene? Das sind doch alles verweichlichte Persönlichkeiten.“ Das sind Sprüche, die Christine S. zur Weißglut bringen. „Solchen Leuten wünsche ich, dass sie nur einen Tag lang in meiner Haut stecken. Denen wünsche ich, dass sie erleben, wie es ist, keine Nacht durchschlafen zu können, weil sich die Gedanken drehen und drehen und einen nicht zur Ruhe kommen lassen. Denen wünsche ich, dass sie spüren, wie es ist, zu wissen, dass man aufstehen muss, physisch dazu aber einfach nicht in der Lage ist und deshalb sofort ein schlechtes Gewissen bekommt. Und über den Vorwurf mit den verweichlichten Persönlichkeiten kann ich nur lachen. Gucken Sie sich Miriam Meckel an, die jüngste Professorin Deutschlands und eine absolute Powerfrau. Auch sie ist am Burn-out-Syndrom erkrankt, wie man in „Brief an mein Leben“ nachlesen kann.“
Der Motor läuft, bis er plötzlich überhitzt
Ihre Hände umklammern das Wasserglas, das neben der Teetasse steht. Sie nimmt einen großen Schluck und atmet einmal tief durch. Es gibt Tage, an denen kann Christine S. nicht aufstehen. Ihr Kopf befiehlt es ihr und sie würde auch gerne, aber sie kann es einfach nicht. Sie fühlt sich schlapp und ausgelaugt. Man sieht ihr das nicht an. Ihr auffälliges Erscheinungsbild sticht sofort ins Auge. Knallpink geschminkte Lippen sind umrundet von einer wilden, roten Lockenmähne. Das Gelb der großen, runden Kette, die sie trägt, findet sich im grün-blau-gelb gemusterten T-Shirt wieder. „Das ist Absicht. An Tagen an denen ich es aus dem Bett schaffe, lege ich Wert auf ein Outfit, das Lebensfreude ausstrahlt. Dass ich mich innerlich nicht immer so fühle, geht keinen etwas an.“
Das war nicht immer so, in Christine S. Leben lief lange Zeit alles rund. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder. Als der Nachwuchs älter wurde, wurde es Christine allein zu Hause zu langweilig. Sie gab Seminare an verschiedenen Fachhochschulen. Es machte ihr Spaß. Als ihr eine gute Freundin eine Sekretärinnen-Stelle an einer Altenpflege-Schule in Bonn anbot, konnte sie nicht ablehnen. Zuerst versuchte sie, alle Schulen unter einen Hut zu bringen. Sie wollte keinen enttäuschen, wollte es allen recht machen. Sie arbeitete teilweise zehn Stunden am Tag, kam selten zur Ruhe. Lange Zeit war das Normalität für die 59-Jährige. „Ich habe mich immer mit meiner Arbeit identifiziert, habe den Aufgaben, die zu erledigen waren, immer eine hohe Priorität zugeordnet. Was zu erledigen war, war eben zu erledigen. Und dass das manchmal mehr war, mehr als ich verkraften konnte, habe ich einfach ignoriert.“ Ihr Motor lief und lief, bis er schließlich überhitzte. Vorboten gab es sehr wohl – Christine S. hat sie alle ignoriert.
Was kann bei Burn-out getan werden?
Es war ihr Körper, der ihr das erste Warnsignal gab. Ein Magengeschwür wurde entdeckt, verursacht durch den ständigen Stress, dem die gebürtige Französin täglich ausgesetzt war. Sie bat den Arzt, sie für eine Weile krank zu schreiben. Aus einer Weile wurden knapp zwei Jahre und auch heute arbeitet Christine S. nur sechs, statt üblich acht Stunden täglich. Sie denkt viel nach: über sich, über das Leben, über das Burn-out. Sie überlegt nun, eine Psychotherapie zu beginnen. „Durch bin ich wohl noch nicht“, sagt sie leise. Die Falten zwischen ihren Brauen verstärken sich. Lange hat sie gezögert, und als sie schließlich den Mut aufbringen konnte, einen Termin bei einem Psychotherapeuten zu machen, fiel sie aus allen Wolken: bis zu drei Monate Wartezeit musste sie in Kauf nehmen. Damals war sie nicht bereit, so lange zu warten, sie entschied sich gegen die Therapie. „Ich dachte, ich finde ganz allein in die Normalität zurück. Damit lag ich wohl falsch.“ In letzter Zeit erlitt sie mehrere Rückschläge. „Es ist ein Gefühl, als hätte man eine Glocke über dem Kopf, man nimmt alles nur mit einer gewissen Apathie war. Trotz der Antidepressiva erlebe ich noch immer Tage, an denen ich einfach nicht aus dem Bett aufstehen kann“, beschreibt sie die Situation.
Ein Wundermittel gegen das „Burn-out-Syndrom“ gibt es nicht. Antidepressiva werden am häufigsten verordnet, da sie antriebssteigernd und stimmungsaufhellend wirken. Experten erachten aber eine kognitive Verhaltenstherapie als effektiver. Für Burn-out-Betroffene ist es außerdem wichtig zu erkennen, wo ihre Belastungsgrenzen liegen. „Ich glaube, mein größtes Problem ist es, nicht `nein´ sagen zu können, wenn man mich um etwas bittet. Daran sollte ich wirklich etwas ändern.“ Sie blickt auf ihr gut gefülltes Bücherregal und spielt mit der knallgelben Kette, die sie trägt. Ihr Blick wandert über die Buchrücken, auf denen die Titel etlicher Romane und Biografien zu erkennen sind. Das Vibrieren ihres Handys reißt sie aus den Gedanken. Eine SMS von ihrem Mann, der wissen will, ob alles okay ist. Sie lächelt: „Jeder macht sich direkt Sorgen, wenn ich alleine bin. Dabei bin ich am glücklichsten, wenn ich Zeit für mich habe und lesen kann. Lesen geht immer, es beruhigt mich und lässt mich das vergessen, über was ich mir sonst den Kopf zerbreche.“ Sie schüttet sich Tee nach, streicht sich eine rote Locke aus der Stirn und greift lächelnd zu dem Buch, was auf ihrem Nachttisch liegt. Es ist „Brief an mein Leben“ von Miriam Meckel.
Schreibe einen Kommentar