Jemanden gehen zu lassen, ist immer schwer. Besonders, wenn diese Person nicht nur akzeptiert, sondern zutiefst geliebt, umsorgt und geschätzt wurde – mit und trotz Beeinträchtigung. Mit einem Brief an ihre Tante lässt Michaela uns teilhaben, was es bedeutet, wenn auch Demenz als Erkrankung bei Menschen mit Down-Syndrom das Leben auf den Kopf stellt.
Liebe Tante Anja!
Ich schreibe dir diesen Brief, auch wenn ich weiß, dass du meine Worte nicht mehr lesen und wahrscheinlich auch nicht mehr verstehen kannst. Seit meinem letzten Brief ist viel passiert und das ist auch okay, vielleicht ganz normal und trotzdem nicht nur leicht und einfach.
Mittlerweile wohnst du nicht mehr bei meinen Großeltern zu Hause, die allergrößte und schmerzhafteste Veränderung in ihrem Leben. Und wir vermissen dich auch! Sehr! Wie du auf uns zukamst und uns sehnsüchtig und herzlich umarmt hast, wenn wir zur Tür hereinkamen, dein Strahlen über Sekt zu besonderen Anlässen (und wir wussten auch die normalen Sonntage und Familienzusammenkünfte zu feiern), nicht zuletzt deine Freude über Luftballons oder wenn man dich kitzelte…
Jetzt hat die Demenz auch vor dir nicht Halt gemacht. Und mit Down-Syndrom ist dein Körper mit fast 50 gealtert wie der meiner Großeltern – er hat aber auch viel geleistet, das muss schon auch gesagt werden!
Denk´ einmal, wie du uns bei Spaziergängen so oft im Stechschritt davongelaufen bist. Jetzt sitzt du meistens in einem Rollstuhl im Pflegeheim oder liegst im Bett, weil dich deine Beine nicht mehr tragen und du nur noch wenig Kraft hast. Ohne Unterstützung – und in unserem Fall mehr als die zu Hause – geht es leider nicht mehr. Es ist derselbe schwere Abschied wie bei anderen, die an Demenz erkranken: Es ist, als wäre ein Teil von dir schon vorausgegangen. Und doch bist du noch hier, wofür wir alle dankbar sind.
Die Besuche im Heim sind mal tränenreich, mal lachen wir über eine Kleinigkeit und freuen uns, wenn du deinen Pudding isst oder ein Stück geschmuggelten Kuchen von Oma…
Ich weiß, es ist irgendwann Zeit, Abschied zu nehmen und dich auch gehen zu lassen. Ich glaube fest, dass du im Himmel sein wirst, wo du keine Schmerzen mehr haben wirst und auch keine Beeinträchtigung mehr. Sag, werden wir uns dort wiedersehen? Ich wünschte es mir so sehr!
Nie werden wir all die schönen Momente mit dir vergessen, deine vielen Male, die du „Hausis“ machen musstest, wenn man dich fragte, was du so treibst. Du hast mit uns, deinen Nichten, den Schulalltag mit gelebt und sämtliche „Prüfungen“ in deiner Fantasie bestehen müssen. Dein breites und herzhaftes Lachen, deine Vorliebe für Turnschuhe – auch im Haus – und Volkstänze im Wohnzimmer – der immer gleiche Schritt. So will ich dich immer in Erinnerung behalten, auch wenn das nicht heißt, dass ich dich jetzt schon aufgegeben hätte.
Du gehörst einfach zu unserer Familie – das ist doch klar!
Und es bricht mir das Herz, wenn ich sehe, wie schwer es Oma und Opa fällt, dass sie dich jetzt so sehen – du, ihr geliebtes Kind, für das sie viel gegeben haben. Und nun sind auch sie hilflos, weil sie merken, dass das, was du wirklich brauchst, ihre eigenen Kräfte übersteigt.
Doch es ist ok. Ich bin mir sicher, du würdest das auch so sagen, wenn du es noch könntest.
Wir lieben dich deshalb nicht weniger. Wir freuen uns über jede Geste, die zeigt: Du nimmst uns (noch) wahr, wenn wir dich besuchen.
Bis ganz bald, meine Liebe!
Von Herzen alles Gute, deine Nichte
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