Was bedeutet der Brexit für Europa in der Welt und wie geht es weiter? Ist eine EU ohne Großbritannien undenkbar? International kann sich das Gleichgewicht verändern, indem die EU ihre gemeinsame Stimme stärkt und eindeutiger ihre demokratischen, den Menschenrechten verpflichteten Werte vertritt. Die Mitgliedsstaaten müssen jetzt einen für alle akzeptablen Weg zu dieser Einigkeit finden.
Der Brexit hat überrascht. Nicht nur Europa, nicht nur David Cameron, auch viele Out-Voters. Die Ironie dieser Entscheidung, mit der Wenige gerechnet haben, auf die noch weniger Menschen gehofft haben, liegt vor allem in ihrer Willkür. Willkür, weil niemand so genau zu wissen scheint, was jetzt eigentlich passiert. Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union legt zwar fest, dass jeder Mitgliedsstaat im Einklang mit seiner nationalen Verfassung die Union verlassen kann und dass die Bedingungen hierzu mit der Union verhandelt werden müssen. Aber die Details sind noch offen, und da es allein Großbritannien obliegt, das Austrittsgesuch einzureichen und Cameron sich Zeit lassen möchte, steigt die Ungewissheit für die anderen Mitgliedsstaaten.
Wäre das Referendum anders ausgegangen, wüssten jetzt alle, was passiert. Dass überhaupt ein Staat jemals die EU wieder verlässt, ist sicherlich nicht im Sinne ihrer Gründer gewesen. Der Ausstiegsartikel wurde daher auch erst im Lissabonner Vertrag von 2007 eingeführt. Sieben Jahre nach dessen Ratifizierung könnte dieses Szenario, das oft als Todesstoß für europäische Integration betitelt wird, nun erstmals in Kraft treten.
Ohne Großbritannien auf der globalen Bühne
Aber was bedeutet dieser mögliche Austritt Großbritanniens für die EU und ihre Mitgliedsstaaten? Ist es wirklich so, dass er mehr über die EU aussagt als über Großbritannien, wie Brendan Simms, Professor an der Cambridge University, in einem Vortrag an der Maastricht University behauptete? Die EU wird oft kritisiert, weil sie zu intransparent und den Bürger/innen zu abstrakt sei. Sie wird als ineffizienter Bürokratie-Apparat dargestellt, der sich eher mit der Krümmung von Gurken als mit der Lösung wichtiger politischer Probleme befasse. International wird die EU kaum als Verhandlungspartner anerkannt. Was bei solchen Auffassungen und Einschätzungen oft vergessen wird, ist aber die Kompetenz-Regelung zwischen der Union und ihren Mitgliedsstaaten. Letztere versuchen, möglichst viel Mitspracherecht einzubehalten. Das erklärt besonders die Schwäche der EU auf internationaler Bühne, denn dort sind neben den EU-Vertretern stets auch 28 nationale Vertreter der Mitgliedsstaaten anwesend. Aber während jeder Staat seine eigenen Interessen gefährdet sieht, wenn sie im Kollektiv mit 27 anderen vertreten würden, scheint es den Regierungschefs nicht in den Sinn zu kommen, dass ihre individuellen Interessen international ohnehin geringe Bedeutung haben. Wenn das Interesse von 500 Millionen Europäer/innen international mit einer Stimme repräsentiert würde, wäre das weitaus effektiver als eine Stimme für 83 Millionen Deutsche, eine weitere für neun Millionen Schweden, eine für 60 Millionen Italiener und so weiter.
Europäische Zukunft
Selbstverständlich sind die Interessen der europäischen Staaten nicht immer gleich, sonst würde niemand es für notwendig halten, nationale Interessen eigenständig zu vertreten. Aber europäische Staaten können sich auf gemeinsame Ziele einigen, wie das Bestehen der EU beweist. Warum sollten sie das nur intern und nicht auch global tun? Für Großbritannien, ein Land das auch allein internationale Anerkennung und Stellung genießt, diente die EU immer nur vorwiegend wirtschaftlichen Zwecken. Sogar Margaret Thatcher, als europa-kritische Premierministerin bekannt, befürwortete mehr Integration mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987, die die Vollendung des Binnenmarktes zum Ziel hatte. Bei Themen, die nicht den Handel betrafen, war das Inselkönigreich aber weniger begeistert. Gerade deshalb ist das mögliche Ausscheiden Großbritanniens eine Chance für die Union, einen Schritt voranzugehen und sich zu reformieren. Die Mitgliedsstaaten könnten mehr Integration wagen und die Kompetenzen der EU so ändern, dass ihre Arbeitsweise effektiver würde.
Hierzu müssen der EU nicht unbedingt neue Kompetenzen übertragen werden. Eine Reform der Entscheidungsmechanismen, die Prozesse schneller gestalten würde, indem Akteure auf bessere Weise involviert werden, wäre ein Schritt zu mehr Effizienz in der EU. Beispielsweise könnte die Gesetzgebung durch den Rat der Europäischen Union (in dem nationale Minister sitzen) und das Europäische Parlament konstruktiver gestaltet werden, indem jeweils Beratungen zu den Beweggründen beider Institutionen stattfinden, bevor die Europäische Kommission einen Vorschlag einbringt. Hilfreich wäre es auch, wenn Rat und Parlament ebenfalls das Recht zur Gesetzesinitiative hätten, da sie ihre Vorstellung dann uneingeschränkt und unter Umständen sogar gemeinsam einbringen könnten. Diese internen Reformen würden die Position der EU auf internationaler Bühne kaum verändern. Das mögliche Ausscheiden Großbritanniens sollte die Mitgliedsstaaten aber dazu anregen, über die Frage der globalen Bedeutung der EU zu reflektieren und den Wert der Union zu erkennen. Wenn Barack Obama schon Großbritannien in Aussicht stellt, sich als individueller Staat hinten anzustellen, was bedeutet das erst für die anderen europäischen Staaten?
Gefjon Off
Liebe Lisa,
ein schönes Plädoyer für die EU 😉
Dass ein Zusammenschluss wie die EU eine vorteilhaftere Position in der internationalen Politik bringt, sehen die Briten offenbar anders… fragt sich, warum. Möglicherweise schwelgen sie noch im alten Commonwealth-Patriotismus und haben noch nicht ganz wahrgenommen, dass das Empire nicht mehr existiert und auch die britische Industrie längst nicht mehr die Vorreiter-Position aus Industrialisierungszeiten besetzt. Die Medien und leere Versprechen von populistischen Politikern werden auch einen großen Beitrag geleistet haben.
Deswegen glaube ich, dass eine interne Reform der EU, von der die meisten EU-Bürger sowieso nie erfahren würden, zwar wichtig aber an dieser Stelle nicht entscheidend ist. Viel wichtiger wäre eine einheitliche, bürgerorientierte Öffentlichkeitsarbeit, die im Politik/Gesellschafts/Wirtschafts/Geschichts-Unterricht an Schulen ansetzt und durch sachliche Aufklärung populistische Auffassungen widerlegt.
Die Leute müssen lernen, was sie an der EU haben, bevor es zu spät ist… Hätte man den Briten vor dem Referendum die Augen geöffnet (und hätten sie sich die Augen öffnen lassen), wäre die Wahl sicher anders ausgegangen. Sonst gäbe es im Nachhinein wohl nicht den Wunsch nach einem zweiten Referendum…