Mit großer Erleichterung haben die meisten auf die Weihnachtslockerungen der Coronabestimmungen reagiert. Tim Huyeng befürchtet einen irrationalen Rechtsglauben, der nur durch das Aufbrechen alter Gewohnheiten nicht zur Katastrophe führt. Ein Kommentar.

In emphatischer Vorfreude begannen soeben die ersten Vorbereitungen im Familienkreis, das Weihnachtsfest zu organisieren. Die derzeitigen Bestimmungen erlauben sogar für die meisten ein Fest im Stile „Alles wie immer“. Zehn Erwachsene, zuzüglich Kinder bis 14 Jahre – viel mehr hält das übliche deutsche Wohnzimmer sowieso nicht aus. Das heißt, eigentlich geht es dieses wie jedes Jahr für alle Erwachsenen in Paarbeziehungen nur wieder um das Ausknobeln, wann man zu wem fahren möchte.
Dieses Jahr ist die Frage aber noch komplizierter. Denn schließlich trägt man beim zweiten Treffen möglicherweise die Viren des ersten bereits mit sich. Wer also eine unliebsame Schwiegermutter aus der Risikogruppe besitzt, kann dieses Jahr den Naturterrorismus der Pandemie klug einsetzen (Zynismus!). Und auch ohne diesen schwarzen Humor teilen zu müssen, geht von diesem Weihnachten eine Eskalationsgefahr aus, die so bisher noch nicht bekannt ist.
Die Pandemie wird sich für die Weihnachtsfeiertage keinen Urlaub nehmen und genau deswegen stößt die gesellschaftliche Gutgläubigkeit der geplanten staatlichen Regeln an gewisse Grenzen meines Verständnisses. Wenn sich zehn erwachsene Personen gleichzeitig treffen dürfen, aber man sich jeden Weihnachtstag theoretisch sogar an zwei Familienbanketts den Bauch vollschlagen kann, so könnte es leicht dazu kommen, dass man innerhalb weniger Tage auch 30 Kontakte und mehr auf sich vereint.
Alles in engen Räumlichkeiten, ohne Belüftung (man könnte sich ja erkälten), mit vielen gemeinsamen Kontaktoberflächen und lauten Jubelgesängen nach jedem Geschenk, das keine Socken oder Schals unter der Verpackung zum Vorschein bringt. Das klingt für mich als virologischen Laien durchaus nach einem beachtlichen Festschmaus auch für jede Art von Virus.
Das zentrale Problem – weil man es nicht oft genug sagen kann
Nun noch einmal das zentrale Problem der Epidemie: nicht das individuelle Risiko an dem Virus zu versterben ist entscheidend, sondern, ob unser Gesundheitssystem mit dem Strom an (intensiv-)pflegebedürftigen Patienten zurechtkommt. Das Schreckensszenario für junge Menschen von 18 Jahren (solange sie nicht selbst in der Pflege tätig sind) ist also weniger, dass sie an Covid-19 erkranken und dann die nächsten drei Monate im Koma verbringen (aber auch das kommt vor), sondern dass die Intensivstationen voll laufen und die Jugendlichen nach ihrem vermeintlichen Motorradunfall nicht mehr in den Genuss unserer modernen Medizin kommen und versterben, während man sie unter normalen Umständen vielleicht hätte retten können.
Der Extremfall, dass vor den Krankenhäusern tatsächlich Patienten ausgewählt werden müssen, wurde bereits im Frühjahr unter dem Stichwort „Triage“ diskutiert; aber das bereits jetzt Krankenhäuser überlastet an ihre Grenzen kommen und Zeit sowie Ressourcen zur Pflege von Intensivpatienten knapp werden, liegt auf der Hand. Die Pandemie fordert Opfer, die gar nicht am zentralen Erreger erkrankt sind, aber nicht mehr die maximalen Möglichkeiten unseres Gesundheitssystems nutzen können. Um es klar zu stellen: das kann kein Vorwurf an das Krankenhauspersonal sein, sondern nur das Verstärken ihrer Klagerufe.
Deswegen macht es keinen Sinn, sich auf Vergleiche zu versteifen, wie viele Coronatote wir im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung zu beklagen haben, um somit suggestiv die Gefahr „herunterzurechnen“. Wir jungen Menschen handeln nicht nur altruistisch, wenn wir unsere Kontakte reduzieren, sondern ermöglichen uns auch selbst, die bestmögliche Behandlung erhalten zu können, wenn wir diese benötigen. Egal ob Alkoholvergiftung, Blinddarmentzündung oder Pfeiffersches Drüsenfieber – junge Menschen sind schneller von einer stationären medizinischen Versorgung abhängig als sie das wahr haben wollen.
Mit 300 km/h zur weihnachtlichen Familienfeier
Teilweise bekommt man aber nun das Gefühl, als seien die Herdentriebe des Menschen in Bezug auf Weihnachten stärker als rationale Abwägungen. Wie Huskys in Alaska, die nach einem langen Sommer nun endlich wieder gemeinsam in das abenteuerliche Schneegestöber aufbrechen wollen, können es die Deutschen scheinbar kaum abwarten, einen großen Schlitten an nicht-intendierten Nebenfolgen hinter sich herzuziehen.
Das in meiner Umwelt lauteste Argument blickt neiderfüllt auf das Glück des Nachbarn, das man unmöglich, ohne es nachzuahmen, am Weihnachtstag ertragen kann. Wenn es doch alle machen, wieso dann nicht auch wir? Im Falle einer Pandemie lohnt sich aber antizyklisches Denken. Das rationale Gegenargument lautet schließlich: Weil alle anderen etwas machen, machen wir es nicht.
Aber nicht nur, dass die deutschen Weihnachtshuskys so lange an der Leine ziehen, wie der Nachbar eben auch nicht aufhört; so verstehen sie aber auch die eigenen Ausbreitungsmöglichkeiten nicht als Handlungshorizont, der nicht erreicht werden soll, kann beziehungsweise muss, sondern erkennt den rechtlichen Handlungsrahmen als Pflichtnutzungsbereich. Immer wieder ist zu hören: Aber jetzt dürfen wir doch, dann sollten wir auch!
In Einzelfällen noch gefolgt von einem völlig unangebrachten „Carpe diem“. Eine rechtliche Sollensanordnung in Form einer Norm kann aber unterschieden werden in Erlaubnis und in Gebot. Klassisches Beispiel: auf einigen Teilen der deutschen Autobahnen darf man auch durchaus 300 km/h fahren (falls der eigene fahrbare Untersatz das schafft), aber dieses „Recht“ auf Selbstgefährdung ist nur eine Möglichkeit, die davon lebt, dass sie nicht alle gleichzeitig nutzen wollen. Sowohl vor dem Hintergrund der Ökologie wie auch der Gefährdung Dritter, ist auch hier noch nicht das letzte Wort gesprochen, aber evident scheint zunächst, dass man es auch langsamer angehen darf und wahrscheinlich auch sollte.
Risiken abschätzen
Unsere Gesellschaft ist eine Risikogesellschaft und der Staat reagiert mit der Begrenzung von Risiken (vor allem von vulnerablen Gruppen); versucht aber alle Risiken mit Verweis auf das Allgemeinwohl zu vermeiden – ein jeder solcher Versuch müsste in einen Totalitarismus enden. Die Coronamaßnahmen unterstehen ebenfalls dieser Logik und überschrieben mit „Lockdown light“ versucht die Bundesregierung seit November, den schmalen Grad zwischen gesellschaftlicher Legitimität und effektiver Pandemiebekämpfung zu nehmen. Tatsächlich haben die bisherigen Schritte erfolgreich die exponentielle Steigerungsrate hemmen können und eine ziemlich lineare Reproduktion der Fallzahlen hervorgebracht; das eigentliche Ziel eines „Wellenbrechers“ wurde damit allerdings nicht erreicht.
Wenn also weitere Maßnahmen nicht zu einer deutlichen Reduzierung führen (und so viele Stellschrauben haben wir nicht mehr) sowie man an den geplanten Lockerungen für das Weihnachtsfest festhält, so gehen wir mit 20.000 neuen Coronafällen pro Tag in die Weihnachtsfeiertage über. Eine Verdopplung der Zahlen innerhalb der folgenden 2 Wochen wäre wohl keine Überraschung und bei 40.000 Fällen wird es knapp. Knapp nicht nur in Bezug auf die Betten, das hat auch sonst jeder zuhause, aber vor allem in Bezug auf das Personal.
Das Perfide an der Risikoentwicklung während einer Pandemie liegt darin, dass sich die eigene Risikobereitschaft direkt in kollektive Risikoüberschüsse überträgt. Wenn ich also einmal 300 km/h auf der Autobahn fahre, erhöhe ich kurzzeitig auch das Risiko für Dritte, sobald ich aber aussteige, ist der Spuk vorbei. Mehrere Familientreffen an Weihnachten hinterlassen aber eine ganze Reihe von Spuren, die nicht vorhersehbare Folgen haben können.
Brauchbare Illegalität, statt problematische Legalität
Ich plädiere deswegen systemtheoretisch für eine Art brauchbare Illegalität. Anstatt sich den formalen Strukturen der Rechtsnormen schicksalshaft zu verschreiben, sollte man sich produktiv von der Systemumwelt irritieren lassen. Niklas Luhmann beschrieb die Notwendigkeit einer informellen Struktur von anschlussfähigem Handeln innerhalb von Organisationen, welche sich deutlich flexibler neuen Herausforderungen anpassen kann und Widersprüche zulassen kann.
Auch wenn diese Handlungen nicht den formalen Erwartungen entsprechen, können sie also dennoch brauchbar in Bezug auf den Zweck der formalen Organisation sein. Normsysteme dagegen müssen widerspruchsfrei sein und sich Legitimität über Formalität sichern. Allerdings ist die sture Abarbeitung von Regelzusammenhängen in menschlichen Beziehungsgeflechten geradezu eine Unmöglichkeit. Bürokratismus und „Dienst nach Vorschrift“ sind verbunden mit Assoziationen zu „Korinthenkackern“ und formalen Besserwissern. Der Formalapparat einer Organisation ist dabei immer störrisch und zu abstrakt, um die kollektiven Handlungsströme möglichst effizient und im Sinne des höheren Zweckes zu leiten – schließlich beziehen sich Regeln immer nur auf einen Rückgriff auf vergangene Erfahrungen und präsente Moralvorstellungen, aber nicht auf zukünftige Probleme und gegenwärtige Detailnotwendigkeiten.
Nun ist die Gesellschaft, so wie wir sie als plurales, offenes System verstehen, keine Organisation und der Versuch jenes in dieses zu überführen, mündet in freiheitsfeindliche Kontrollzusammenhänge wie in China. Aber an dieser Stelle lohnt sich der unberechtigte Vergleich. Brauchbare Illegalität besteht dieses Jahr darin, lieber an jedem Tag mit der Familie in analogem Zusammensein zu feiern als an Weihnachten. Solange man hiermit gegen die Coronabestimmungen verstößt, müssen hier Risiken abgewogen werden. Auf der einen Seite steht das Risiko der rechtlichen Sanktionierung auf der anderen das Risiko der Erkrankung zu Zeiten maximaler Überlastung der Gesundheitssysteme. In jedem Fall wären die Weihnachtstage der bisher ungünstigste Zeitpunkt, um sich zu infizieren und zwei Wochen später der ungünstigste Zeitpunkt, krankenhausbedürftig zu werden – beides gilt es, auch aus rein egoistischen Gründen, möglichst zu verhindern.
Was also tun?
In der zugegeben schwierigen Diskussionslage mit der Familie lohnt es sich, zunächst abstrakt gemeinsam über die Kernbestandteile des Weihnachtsfests und seine Funktion nachzudenken. Was ist das Besondere dieses Tages? Im Unterschied zu Geburtstagen bekommt jeder Geschenke und gleichzeitig ist die Organisation des Festabends deutlich stärker arbeitsteilig geregelt. Im Unterschied zu Silvester feiert man wesentlich ohne Freunde und vor allem im Familienkreis.
Im Unterscheid zu allen Weihnachten der letzten zehn Jahre fällt an Weihnachten Schnee. Vielleicht lässt sich ein funktionales Äquivalent also auch im März organisieren? Die Jüngsten in der Familie würden somit in den Genuss einer Erweiterung ihres Adventskalenders kommen und die Ältesten vielleicht beim nächsten Mal auch noch einmal dabei sein können. Dass am 24.12.2020 dann Menschen alleine in ihrer Wohnung sitzen werden, ist ein trauriger Umstand, aber auch nicht trauriger als an allen anderen Tagen des Jahres.
An dieser Stelle sollte man aber nicht in Resignation verfallen, sondern versuchen eben mit den neuerlernten Fähigkeiten möglichst weite Teile der Familie an Weihnachten digital zusammenzubringen – denn im Gegensatz zu den deutschen Wohnzimmern haben die digitalen Meetingrooms keine Platzprobleme. Man will nicht meinen, welche Freude man gerade entfernten Verwandten und Freunden ohne Familie machen kann, indem man sie auf diese Weise an Weihnachten in eine feierliche Stimmung integriert. In Solidarität mit diesen Menschen und auch mit den Pflegern und Ärzten dieses Landes sollte man diese Möglichkeit zumindest in der Familie diskutieren. Jede digitale Weihnachtsfeier ist ein Zeichen der Solidarität – nicht der Hartherzigkeit oder Häresie. Der 24. Dezember wird der mit Abstand schlechteste Tag sein, um sich zu infizieren. Es geht also nicht darum, die Risiken an diesem Tag gleich zu halten (à la “ich sehe meine Oma sowieso jede Woche”), sondern sie maximal zu reduzieren. Nicht querdenken, sondern selbst denken!
Sehr guter Text mit allen Wahrheiten zur aktuellen Lage