Das Europaparlament diskutiert, ob die Beitrittsgespräche mit der Türkei abgebrochen werden sollen. Für den türkischen Präsidenten gäbe es momentan kaum bessere Nachrichten – warum?
Zum einen kann die EU versuchen, wie Russland gegen die Türkei eine Politik der harten Hand durchzusetzen, um Erdoğan doch noch zum Einlenken zu zwingen. Sätze tiefster Besorgnis, die bisher beispielsweise das außenpolitische Agieren Deutschlands bestimmten, werden Erdoğan ganz sicher nicht davon abhalten, die Türkei weiterhin in ein autoritäres Regime umzugestalten. Das einzige, was die EU tun könnte, um den nötigen Druck auszuüben, wären wirtschaftliche Sanktionen. Momentan ist die EU der größte Handelspartner der türkischen Wirtschaft. Wenn es ein wirkungsvolles Instrument außenpolitischen Handelns gibt, dann ist es definitiv die Wirtschaft. Warum? Die Popularität der AKP in der Türkei beruht nicht zuletzt darauf, dass diese Partei im Gegensatz zu den säkularen Kräften wie etwa der HDP (die einst Kemal Atatürk gründete) wirtschaftlichen Erfolg brachte.
Dieser war immens. Davon profitierten erstmals nicht nur die Eliten der Türkei, sondern eine sich damals neu herausbildende Mittelschicht und auch die zutiefst verarmte Bevölkerung in den ländlichen Regionen. Erdoğan erkannte, wie es um die Bevölkerung steht, was das Land brauchte und schlug den Weg zu wichtigen Reformen ein. Laut Umfragen ist eine Mehrheit der Türken mittlerweile gegen einen EU-Beitritt aus einem simplen Grund: Nach über fünfzig Jahren zäher Verhandlungen haben die meisten Türken den Glauben an die Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit seitens der EU verloren. Sie fühlen sich nicht akzeptiert, als muslimisches Land zum potentiellen Feind innerhalb der EU degradiert und als Schutzschild gegen die Unruhen im Nahen Osten missbraucht. Die AKP brachte der Türkei nicht zuletzt durch den wirtschaftlichen Erfolg das Gefühl, nicht nur Anhängsel des Westens zu sein.
Erdoğan braucht die Absage der EU um seine politische Agenda zu verfolgen
Die Verhandlungen abzubrechen wäre zunächst wegen der Politik der Türkei durchaus richtig. Eine Reaktion, die angesichts einer möglichen Wiedereinführung der Todesstrafe, fehlender Pressefreiheit und der Festnahmewelle nach dem jüngsten Putschversuch, nachvollziehbar ist. Gleichzeitig ist es eine Politik, die Erdoğan mehr denn je in die Hände spielt.
Es wird ihm weiter Zustimmungswerte bringen, gegen eine scheinbar unwillige EU, die die Türkei nur für ihre Interessen missbraucht. Eine EU, die nie ein muslimisches Land wie die Türkei akzeptieren will – egal ob säkular oder nicht. Eine EU, die die AKP in ihrer Wahrnehmung nicht braucht. Denn sie hat andere Projekte: Sie wird weiter ihre Agenda eines neuen osmanischen Reiches vorantreiben, wird Zweckallianzen wie mit Russland eingehen, um die Gefahr einer autonomen kurdischen Region in Syrien zu verhindern.
Mögliche Pläne des türkischen Präsidenten
Erdoğan agiert nach wie vor in seinen Ansichten rational und realpolitisch. Er wird keine Hand der EU mehr annehmen, da ihm von Beginn seiner Regierungszeit an Wertschätzung und Anerkennung für seine Reformen fehlten. Der wirtschaftliche Aufstieg der Türkei beflügelte ihn, während die EU-Krise andere Staaten beutelte. Der Präsident wollte sich nicht länger hinhalten lassen oder als Schutzschild der NATO dienen.
Er streckt nun seine Hände eigenständig und selbstbewusst in neue Regionen aus. Mitte November nun schlug er vor, Teil der Shanghai Cooperation Organization (SCO) zu werden. Die SCO ist ein wirtschaftlich, politischer und militärischer Zusammenschluss. Interessant ist ein Blick auf deren Mitglieder: China, Russland und andere zentralasiatische Partner. Die Frage, die sich im Falle eines möglichen Beitritts stellt, wird dann nicht mehr sein, ob der “Trexit” naht, der endgültige Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen. Nein – es wird auch um die Rolle der Türkei in der NATO gehen und damit auch maßgeblichen Einfluss auf Europas Sicherheitspolitik nehmen.
Für die AKP ist die NATO momentan nicht mehr als ein Club westlicher Mächte, der die Interessen der EU und der USA vertritt. Die Interessen der Türkei finden nach Meinung Erdoğans nicht genügend Platz. In seinem pragmatischen Vorgehen wäre es denkbar, nun die SCO nicht nur für neue wirtschaftliche Beziehungen zu nutzen, sondern darauf auch die Außenpolitik auszurichten. Es wäre denkbar, beispielsweise China um Waffenlieferungen zu bitten. Die Türkei produziert selbst kaum Waffen und war daher bisher vom Westen abhängig. Die Türkei mit ihrer Lage an der Grenze zur EU wäre dann mit chinesischen Waffen ausgestattet. Es scheint undenkbar, aber nicht mehr unwahrscheinlich.
Wirtschaftssanktionen als schmerzliches Druckmittel
Es erscheint völlig falsch, die Beitrittsverhandlungen nicht abzubrechen. Die einzige Möglichkeit, die der EU bleibt, sind Wirtschaftssanktionen. Die türkische Republik ist wirtschaftlich nicht mehr so stark, wie noch beim zweiten Wahlsieg der AKP. Sie befindet sich mitten im Freifall, hat eine Inflation von über 9 Prozent und ein Großteil des privaten Konsums ist per Kreditkarten finanziert. Die Staatsverschuldung stieg von 259,3 MRD TRY 2002 bei Antritt der AKP auf 643,2 MRD TRY 2015. Irgendwann wird diese Blase platzen. Die Ratingagentur Moodys stufte die Türkei aufgrund der politischen Entwicklungen bereits auf Ba1 herunter, was im Investmentbereich auch als Ramsch-Bereich gilt. Die möglichen Folgen des Freifalls sind eine Kapitalflucht ins Ausland und weniger Investitionen. Doch diese braucht Erdoğan, um weiterhin die Mehrheit des Volkes hinter sich zu versammeln und die Wirtschaft stabil zu halten.
Sollte die EU Sanktionen verhängen und als wichtigster Handelspartner ausfallen, steht Erdoğan noch nicht mit dem Rücken zur Wand. Doch das Argument wirtschaftlicher Stärke wird ihm bei seinen Wählern schmerzliche Einbußen bescheren. Es wird die Diskussion noch stärker auf andere Defizite im Land lenken und im schlimmsten Fall einen Bürgerkrieg provozieren. Was definitiv falsch am momentanen Punkt ist, wären jedoch ein Einfrieren der Entwicklungsgelder und ein dauerhafter Abbruch der Beitrittsverhandlungen. Dann wäre letztlich bestätigt, was momentan viele Türken denken: Die EU will die Türkei nicht. Die EU will und braucht die Türkei jedoch als Partner, wenn auch nicht in ihrem derzeitigen Zustand. Dafür heißt es nun, klare Zeichen zu setzen, bevor Erdoğan selbst die nötigen Schritte einleitet und sich komplett Russland, Asien und seinem Projekt eines neuen osmanischen Reiches zuwendet.
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