Irritierte Stille. Einige packen verunsichert ihre Taschen und verlassen langsam den Saal als die Nachricht verkündet wird: Der WillowCreek Leitungskongress 2020 muss beendet werden. Ein Referent hatte sich mit dem Coronavirus angesteckt. Dabei bot auch der zweite Tag einiges an Lernerfahrungen für die Zukunft.
Der zweite Tag beginnt mit Lobpreis und einer „Grander Vision“ – der Geschichte eines Chorprojekts, das durch den Besuch verschiedener Ehrenamtlichen bei einem WillowCreek Kongress in Hamburg ganz neue Dimensionen bekam. Geistliche Leiter besuchten zusammen den Kongress und bekamen neue Leidenschaft für ihr Projekt. 2002 startete der erste Gospel-Kirchentag mit 1800 Sängern. Auch 20 Jahre später lebt diese Motivation weiter – es entstand daraus die Evangelische Popakademie, in der junge Menschen ausgebildet werden, Musik für und in der Kirche zu machen auf einer Art und Weise, die Menschen begeistert und ergreift. Aus ehrenamtlichem Engagement entstand eine ganze Bewegung.
Geistliche Leiterschaft, sei es in der Jungschar, in der Kirchenleitung und/oder -begleitung, im Bereich der Seelsorge oder im persönlichen Rahmen ist nicht durchgängig vom Gefühl der tiefen Erfüllung und Geistlichkeit geprägt. Höhen und Tiefen gehören dazu und auch vor der Versuchung, die einem anvertraute Macht zu missbrauchen sind Christen nicht gefeit, das machte Prof. Dr. Michael Herbst im ersten Referat des Tages deutlich.
„Vom Umgang mit der Macht“ – Prof. Dr. Michael Herbst
Der erste Vortrag, gehalten von Prof. Dr. Michael Herbst, Professor der Theologie, der sich v.a. auf das Thema Gemeindegründung und -führung im 21. Jahrhundert spezialisiert hat, behandelte zunächst die Frage, was Macht überhaupt sei und inwiefern diese als positiv oder negativ zu betrachten sei. Macht sei besonders unter Christen kein beliebtes Thema, doch könne man nicht leugnen, dass Macht auch in christlichen Strukturen eine Rolle spielt und nicht ausschließlich im negativen Sinne zu verstehen sei. Es ginge hier nicht um die dunkle Seite der Macht, sondern um die dunkle Seite der eigenen Seele. Auch Ökonomen sprächen oft von „Servant Leadership“, also dem Leiter, der anderen dient und dadurch Exzellenz zeigt, anstatt seine Mitarbeiter klein zu halten, alle Entscheidungen (auch für sie) zu treffen und übergriffig zu werden.
Angelehnt an Paulus, der im Epheserbrief Kapitel 4 von der wachsenden Reife einzelner Gemeindeglieder spricht, schlussfolgert Herbst: „Das Ziel, das Jesus mit Christen verfolgt, ist ein mündiger und erwachsener Glaube, der auf eigenen Beinen steht.“ Besonders im Gebiet der Seelsorge seien Menschen verletzlich und müssten geschützt werden vor Manipulation und Übergriffen, die das Privatleben kontrollieren, bewusst und unbewusst: „Gute Seelsorge ist Hilfe zu klugen vor Gott verantworteten Entscheidungen, aber sie nimmt den Betroffenen niemals die Entscheidung ab. Sie ist keine Wegweisung, sondern Hilfe, den Kompass zu benutzen.“ Ein „toxisches Dreieck“ entstehe, wenn „gefährliche Leiter“ auf verletzliche „Follower“ träfen, in einem Umfeld, dass den Übergriff dulde. Im Anschluss an das Referat kam die Aufforderung an die Teilnehmer, sich konkret zu fragen und auszutauschen, was das für die eigene Struktur bedeute. Woran man arbeiten müsse, wo man hinsehen müsse statt weg.
Single Studie der CVJM Hochschule Kassel – Prof. Dr. Tobias Faix
Prof. Dr. Tobias Faix und Team stellten die Ergebnisse ihrer neuesten Studie über christliche Singles in Deutschland vor, die belegte, dass sich christliche Singles in Kirchen (verschiedener Denominationen) oft außenvor fühlten. Wo theologisch gut begründet der Stellenwert der Ehe hochgehalten werde, geschehe unbewusste Stigmatisierung, die Singles oftmals den Eindruck vermittle, dass etwas mit ihnen nicht stimme. Gemeindeleiter müssen sich Gedanken machen, wie sie Singles nicht nur willkommen heißen, sondern auch ihre Lebenssituation adressieren, nicht zuletzt in der Predigt und lebensrelevanten Beispielen, die nicht zum Großteil nur mit der eigenen Ehe und Familie zu tun haben.
Wertvolle Impulse, die das Miteinander von Singles und Familien nachhaltig prägen sollten und dazu führen sollen, sich gegenseitig wertzuschätzen und v.a. wahrzunehmen in der jeweiligen Situation. Singles fielen besonders die Urlaubsplanung und Weihnachtsfeiertage schwerer, da sie in jedem Fall selbst aktiv werden müssten, um Gemeinschaft zu erleben und dies nicht „einfach so“ mit dem Partner am Sonntagnachmittag geschehe. Die Ergebnisse der Studie mit vielen Statements und Statistiken sind in dem Buch “Christliche Singles – wie sie leben, glauben und lieben” zusammengefasst und ausgewertet worden.
Die Kraft der Versöhnung – Immaculée Ilibagiza
Immaculée Ilibagiza ist eine Überlebende des schrecklichen Genozids der Hutu an den Tutsi in Ruanda im Jahr 1994. Sie berichtete nicht nur, wie sie den Völkermord durch übernatürliche Weise überlebte, sondern auch wie sie durch Jesu Leiden am Kreuz, dem Ertragen großer Ungerechtigkeit befähigt wurde, diesen Menschen, v.a. der Regierung in Ruanda zu vergeben. Sie schloss ihre Rede mit folgender Erkenntnis und Bitte: „Es war nicht schwer, Vergebung auszusprechen – es war schwer, das zu lernen. Wenn ich es kann, kann es jeder tun!“ Eine Botschafterin der Vergebung und der Liebe Gottes, die unseren menschlichen Verstand übersteigt.
Im Anschluss lud das Musikteam ein zu einer Zeit der Meditation und des Gebets, in dem die Kongressbesucher Gott ihr Leid klagen konnten über so viel Unversöhnlichkeit in dieser Welt. Es waren Gebete über’s Smartphone versendet, die vorne an der Leinwand erschienen. Improvisierte Musik mit Klavier, Geige und Cello erzeugten eine fesselende Stimmung, während man Lesen konnte, was Einzelne bewegt. In einem zweiten Teil konnte wer möchte ein „Kyrie Eleison“ (Herr, erbarme dich) mitsingen und in Form von Gebeten texten, welchen Anteil man selbst daran hat. Den Abschluss machten Bibelverse, die eingeblendet wurden sowie ein Gebet von Immaculée für diese Unversöhnlichkeiten. Ein Gänsehautmoment, wenn man zuvor ihre Geschichte hörte. Wie sie, die ihre ganze Familie an einem Tag verlor für uns Europäer betete, die an Rechthaberei und Streit festhalten. Die Session endete mit dem Vater Unser.
Vorzeitige Beendung des Kongresses aus Vorsichtsmaßnahmen
Leider musste am Freitagnachmittag der Kongress aus vorsorglichen Gründen bezüglich des kursierenden Corona-Virusses frühzeitig abgebrochen werden. Es bestand keine Gefahr für die Teilnehmer, sondern war eine Vorsichtsmaßnahme, da sich am Freitag herausstellte, dass einer der Referenten (der aber bisher noch nicht angereist worden war) positiv auf das Virus getestet wurde. Er war vorab in Kontakt mit einigen anderen Referenten gewesen, die nun für 14 Tage in Quarantäne bleiben müssen. Influencerin Jana Highholder postete auf Instagram: „Ich selbst bin kurz in diesem Raum gewesen und muss für 14 Tage alles absagen und ehrlich gesagt köntne ich weinen, denn ich wollte am Sonntag in den Urlaub fliegen und am nächsten Samstag auf einer Frauenkonferenz sprechen. Und auch wenn ich es nicht verstehe, wenn mein Terminkalender mir sagt, dass das nicht geht, so zeigt es mir doch wieder, dass ich Mensch bin und nicht alles unter Kontrolle habe …“
Die Teilnehmer waren eigentlich schon gespannt auf „Kirche größer denken“ (Daniela Mailänder, Konstantin Kruse, Patrick Knittelfelder), „Lektionen aus Grenzerfahrungen“ (Evelyne Binsack und Tobias Teichen), „Resilienz entwickeln“ (Samuel Koch, Gordon MacDonald und Tobias Teichen“ und ein Plädoyer von Steve Gillen unter dem Titel „Vergeude niemals eine Krise“. Jetzt wurden sie gebeten, frühzeitig den Nachhauseweg anzutreten und gingen sicherlich etwas enttäuscht aber auch mit vielen wertvollen Impulsen, die es nun zu reflektieren und in die Praxis umzusetzen gilt. Die Referate, die aufgrund des frühzeitigen Abbruchs nicht mehr gehalten werden konnten, werden evtl. online nachgeholt.
Schreibe einen Kommentar