Die Wissensgesellschaft tobt sich gerade auf zahlreichen Schlachtfeldern aus. Wissenschaft, Publizistik und soziale Medien laufen in der Coronakrise heiß. Erstaunt, aber auch verwirrt, erblickt unser Autor das Wimmelbild der modernen Kommunikationslandschaft und sucht nach dem, wofür es sich lohnt, zu lesen.

Man ist viel zuhause und es wird viel Text produziert. Im Sekundentakt müsste man sich der allgegenwärtigen „Buribunkologie“ widmen, die auf Blogs, sozialen Plattformen und in Podcasts zum wissenschaftlichen Daytrading geworden ist. „Ich publiziere, also bin ich“, scheint das neue Leitmotiv unserer Zeit zu sein. Die Inflation der Worte spiegelt die Unmöglichkeit einer idealen Sprechsituation. Derzeit hat jeder etwas zu sagen und findet meist auch eine Gelegenheit dazu, seine Worte loszuwerden. Der Überblick über all die unterschiedlichen Meinungen und Auffassungen kann eigentlich nur noch verloren gehen.
Die Normalität des Flickenteppichs
Die Multiperspektivität kann dabei durchaus überfordern und irritieren. Vor allem dann, wenn das Vertrauen in gewachsene Institutionen, und die mit ihnen einhergehende Entlastung, durch einen radikalen Wissensindividualismus untergraben wird.
Eben die Grundinstitutionen der Aufklärung (Universitäten, Presse, Stiftungen etc.) werden mit ihrem eigenen Motto des Verstandes ohne Leitung eines anderen ausgehebelt. So können dann die Demonstranten auf „Hygienedemos“ und dergleichen, einzig bewaffnet mit dem Grundgesetz, sich als die neuen Aufklärer inszenieren, die den Mut haben sich entgegen der verkrusteten Strukturen der Aufklärung ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Dabei greifen sie alte Autoritätsverhältnisse an und monieren gleichzeitig die innere Inkonsistenz ihrer Gegner.
Und tatsächlich: Wenn die wissenschaftlichen Blickwinkel aus allen Bereichen von Medizin, über Virologie, Psychologie, Soziologie, Rechts- und Geschichtswissenschaften etc. nicht der Logik eines „Puzzles“ gleichen, sondern sich mal überlappen, mal gewisse Lücken lassen und ein anderes Mal einander vielleicht sogar eine Stolperfallen bieten, erinnert mich das höchstens noch an die Teppichlandschaft im Erdgeschoss meiner Großmutter. In deutschen Haushalten ist sie zwar ein Sinnbild von Normalität, die aber genauso selten in der Öffentlichkeit präsentiert wird wie diese Ausdifferenzierung der Wissenschaften.
Eigentlich war die Rede von „der Wissenschaft“, als eine in sich geschlossene Struktur – sozusagen aus einem Guss – aber schon immer eine Illusion und drückt sich allein schon in den Bestrebungen, aber auch Problemen von inter-, trans-, oder multidisziplinären Forschungsprojekten aus. Dass nun die Rufe nach einer einheitlichen und eindeutigen Wissenschaft im Singular laut werden, ist genauso verständlich, wie es war ist, dass wir gerade jetzt von der Diversität der Wissenschaften profitieren sollten und gerade die Stärke des produktiven Streits der Wissenschaften brauchen.
Kriegerisches Bescheidwissen und wahre Bildung.
Auch in der Katastrophe lassen sich allgemeingültige Regeln finden. So besteht die erste Reaktion einer Gesellschaft auf eine tiefe Krise in der Verengung aller gesellschaftlicher Teilsysteme auf diese Singularität. Sie operieren jetzt weiter in ihrer Logik, aber im Modus der viralen Interferenz. Alles wird plötzlich mit der Krise in Verbindung gebracht. Ähnlichkeiten zum Kriegszustand drängen sich auf, wobei im Krieg das Gefühl des Bescheidwissens tendenziell sogar größer ist als während einer Pandemie. Schließlich besitzt man zumindest im klassischen Staatenkrieg ein klares Bild vom Gegner (so sieht er aus und das ist seine Uniform). Der öffentliche Feind war klar unterschieden von dem öffentlichen Freund, der Krieg wurde durch ein allen bekanntes (wenn auch häufig inszeniertes) Ereignis ausgelöst und vor allem kannte man die klare Möglichkeit für die Beendung des Krieges – dafür brauchte es in einem Staatenkrieg meist nur die Unterschrift von einigen wenigen Big Men. Der Virus ist, wenn überhaupt, ein Partisanenkämpfer, der seine Kraft gerade aus seinem plötzlichen Auftauchen in der Mitte einer Solidargemeinschaft gewinnt. Damit werden aber auch die zum Teil höchst nationalistischen Kriegsmetaphoriken zu bloß assoziativen Kurzschlussgedanken.
Gerade verstehen wir aber weder die Gesetze, die die aktuelle Zeit formen und die derzeitigen Prozesse antreiben, noch können wir die gigantischen Massen an beschriebener Wirklichkeit in Form von Information aufnehmen und überblicken. Dennoch sind schnell alte Begriffe, der jeweiligen philosophisch-sozialwissenschaftlichen Schule gezückt, um in Blitzinterventionen auf das absolut Neue angewendet zu werden. Ganz nach dem Motto: „Ich habe es ja schon immer gesagt“, wird dann wie eh und je von fehlenden Resonanzbeziehungen, Systemlogiken und Anschlussdefiziten gesprochen. Diese Abstraktionen scheinen im allgemeinen Mediendiskurs gerade aber nicht das Informationsbedürfnis der Menschen zu erfüllen und von wenig Interesse zu sein. Zumindest ist der Bezug auf die nicht naturwissenschaftlichen Wissenschaften dieser Tage vielleicht sogar geringer als zuvor.
Nun ließen sich im Verteidigungsmodus alte Waffen wieder wetzen und die große humanistische Bildungsidee in ihrer Überlegenheit gegenüber des sich mit bloßem „Bescheidwissen“ begnügenden „Halb-Wissens“ ins Feld führen. Das war schon immer eine gute Taktik, um die eigene Uninformiertheit sogar noch als „wahre Bildung“ auszugeben. Doch die Frage, wie ein gebildeter Umgang mit der derzeitigen Lage aussehen könnte, scheint sich aufzudrängen. Denn wenn grundlegende Bildungsinstitutionen uns nicht wie gewöhnlich diese Last abnehmen und auf den Straßen und im Netz falsche Freunde unter den Titel des „gesunden Menschverstandes“, der „gefühlten Wahrheit“ und der „Selbstbestimmung“ alternative Angebote bereitstellen, dann wird Bildung selbst zur Glaubensfrage.
Am Ende ist es vermutlich ratsam, zunächst eine sokratische Skepsis gegenüber der eigenen Informiertheit zu üben. Bildung spielt sich immer an der Grenze ab zwischen der Ausbildung von menschlichem Sinn durch die Aneignung kultureller, überzeitlicher Inhalte und einer staatsbürgerlich-demokratischen Informiertheit, die politische Partizipation ermöglicht. Bildung bewegt sich damit zwischen der Skylla einer Weltabschottung im unbehelligten Elfenbeinturm und der Charybdis einer ungebildeten Informiertheit, die im tagespolitischen Strudel ohne Anker und Sinnangebote hilflos untergeht. Das heißt, dass wir die Schönheit der Kunst, der Natur und unseres Lebens niemals aus den Augen verlieren dürfen und dazu manchmal eben auch den eigenen Medienkonsum beschränken müssen. Um weiter in Homerschen Gleichnissen zu sprechen, braucht es also etwas Wachs in den Ohren gegen die Gesänge der Tik-Tok-Welten und einige gute Freunde, die uns ab und zu die Hände anbinden, um nicht jedem verführerischen Vibrieren des Handys zu folgen.
Intellektuelles Versagen
Funktionale Intellektuelle würden genau diesen Ausgleich durch ihre Kommentare besorgen müssen und damit die Integration von Wissen leisten. In unserer differenzierten Postmoderne scheint es aber, dass Intellektuelle nicht mehr als Integrationsmotor der Gesellschaft dienen, sondern sich nur noch höchst eigenen Kreisen verpflichtet fühlen. Die plurizentrische Elitenbildung hat dazu geführt, dass sich ein jeder seinen Intellektuellen (vielleicht müsste man eher von Influencer sprechen) aussuchen kann. Die „Contentgenerierung“ steht heute wertvoller, nachhaltiger Meinungsbildung entgegen und die Marktlogiken des Neoliberalismus haben es längst verstanden, jegliche Wissenschaft zur Ware in einem Wettbewerb um die extrem brutale Währung der Aufmerksamkeit erscheinen zu lassen.
Das Standbein in der Wissenschaft schläft dabei in diesen Tagen etwas ein (alle großen Veranstaltungen sind abgesagt, zuhause sitzt man vor hunderten Zoomkonferenzen, anstatt die eigene Forschung voranzugtreiben), während das Spielbein in der öffentlichen Medienlandschaft ganz nervös um täglich neue Publikationen dribbelt. Das große, allesbestimmende „What“ der Wissenschaften wird dabei gegen das politische „So what“ der Wissenschaftskommunikation ausgespielt. Tauschwert und Gebrauchswert werden nun auch hier sorgfältig auf die Waage gelegt. Die großen Zeitungen können sich vor Anfragen kaum retten und können es sich aussuchen, welcher Professor heute schreiben darf. Selbst die „alten weißen Männer“ scheinen sich nun anstellen zu müssen.
Die Aufmerksamkeitsökonomie ist brutaler denn je, denn wenn alle mit dem Schreiben beschäftigt sind, kann ja auch niemand mehr lesen. Bei Theodor Fontane schrieb ein Biograf einmal, er sei sich nicht sicher, ob Fontane selbst alles gelesen habe, was er geschrieben habe. Bei dem Tempo des „Selbstredens“ der heutigen Zeit scheint die Dialektik der Aufklärung so weit zu gehen, dass ich mir nicht immer sicher bin, ob die Kommentatoren die Dinge selbst denken, bevor sie sie aussprechen. Eigentlich müsste bei den Massen die täglich an geschriebener Masse erscheinen, das Gebot der Nachhaltigkeit dazu zwingen, jedes kleine Wort abzuwägen, um dem Leser keine Zeit zu rauben. Und manchmal trägt das eigene Schweigen auch mehr zur Debatte bei als es tausend Worte könnten. Mich beschleicht ein schlechtes Gewissen. Ich mache Schluss.
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