Jan hatte mal wieder eine Beziehung vergeigt. Er hasste sein Pech und beschloss, mehr über die weibliche Seele zu lernen. Also lieh er sich einen Liebesroman aus. Was dann geschah, konnte niemand ahnen. Eine Begegnung mit der ehemaligen „Depri-Nudel“. Von Rudolf Gehrig
Es ist Samstagabend, kurz nach der Sportschau. Jan steht an der Kasse, auf dem Band stehen eine Tüte Billigchips, eine Tafel Schokolade und eine Dose Bier. Die Kassiererin blickt auf die Sachen, schaut hoch und mustert ihn von oben bis unten. Ihr Blick sagt: „Frustrierter Single, der den Abend alleine mit Chips, Schokolade, Bier und einem Liebesroman verbringt.“ Die Frau an der Kasse hatte Recht. Es war wieder einer dieser Abende, die Jan einfach nur überleben wollte. Jan war Single. Vor einem halben Jahr war er in eine neue Stadt gezogen und hatte dort seine neue Arbeitsstelle angetreten. Er liebte sein neues Zuhause, seine Arbeit, sein Umfeld. Doch er hasste sein Single-Dasein. Er hasste es, durch die Stadt zu laufen und all die glücklich verliebten Pärchen zu sehen. Eine unerklärliche Wut stieg in ihm auf, wenn er sie Händchen haltend durch die Stadt laufen sah oder wie sie in der U-Bahn vor seiner Nase herumknutschten. Nicht, dass er anderen ihr Glück nicht gönnte. Er hatte nur das Gefühl, vom Glück übersehen worden zu sein.
Die Samstage waren eigentlich okay. Er konnte lange ausschlafen und nachmittags die Bundesliga verfolgen. Aber wehe, es wurde Abend. Dann wurden die Straßen seiner Stadt wieder gesäumt von den Junggesellenabschieden und anderen feiernden, nicht mehr ganz nüchternen Paaren. Für ihn gab es am Samstagabend deshalb nur eines: Schnell zum Supermarkt um die Ecke, Chips, Bier und Schokolade holen und dann zurück ins Zimmer. Trübsal blasen oder einen Film schauen. Oder mal wieder etwas lesen. So wie diesmal. Eine Bekannte hatte ihm ihr Lieblingsbuch geliehen. Eine Liebesschnulze, ein typisches Mädchenbuch. Wieso nicht, dachte er sich. Vielleicht hilft es ja, Einblicke in die weibliche Seele zu bekommen. Diese war für ihn nach wie vor ein ungelöstes Rätsel. Schwer seufzend ließ er sich aufs Bett plumpsen und schlug das Buch auf. Der Buchtitel klang vielversprechend: „P.S.: Ich liebe dich“.
Romanzen: „Ganz unten in der Nahrungskette“
Heute lacht Jan, wenn er an diese Abende zurückdenkt. „Ich war voll die Depri-Nudel“, grinst er. Also hat er angefangen, dieses Buch zu lesen. „Romanzen standen für mich eigentlich immer ganz unten in der Nahrungskette. Aber irgendwie haben mich diese Liebesgeschichten auch fasziniert. Vielleicht, weil ich in dieser Hinsicht selber nichts auf die Reihe bekommen habe.“ Sophia, von der er das Buch bekam, kannte er da noch nicht lange. Viele Kilometer lagen zwischen den Beiden, man traf sich nur sporadisch, tauschte Handynummern und verstohlene Blicke aus. „Ehrlich gesagt“, sagt Jan und grinst dabei noch breiter, „fand ich sie von Anfang an irgendwie süß.“ Doch er wollte sich nichts anmerken lassen. Zu groß war seine Angst, wieder nur verletzt zu werden. Deshalb wollte er erst einmal herausfinden, wie Sophia so tickt. „Und deswegen habe ich mir ihr Lieblingsbuch ausgeliehen. Glaubst du echt, ich würde sonst solche Sachen lesen…?“
An die Details des Romans kann er sich heute kaum erinnern. „Es ging irgendwie um eine Frau, deren Mann gestorben ist und ihr ein paar Briefe hinterlassen hat. Irgendwie sowas. Auf jeden Fall hat mich die Geschichte ziemlich berührt.“ Ob er Taschentücher gebraucht hat? Jan lacht. „Nee, das verrate ich euch bestimmt nicht!“ „P.S.: Ich liebe dich“ wurde seine Einschlaflektüre. Er las aber auch darin, wenn er im Zug saß, wenngleich er stets darum bemüht war, das Buchcover mit den Knien vor den neugierigen Blicken der Mitreisenden zu verdecken. „Wäre ja peinlich, wenn die gecheckt hätten, dass ich ne Schnulze lese!“ Sophia freute sich dagegen über sein Interesse und drohte immer wieder scherzhaft an, ihn hinterher abzufragen, um sicherzugehen, ob er das Buch auch wirklich ganz liest.
Und dann geschah es
Einige Wochen später – Jan war längst mit dem Buch durch – wollte er es zurückgeben. Er erinnert sich: „Ich habe sie am Bahnhof abgeholt und wir sind erst ein bisschen sinnlos durch die Gegend gefahren. Wir waren bei McDonalds und sind dann außerhalb auf so einem Feldweg spazieren gegangen.“ Sie unterhielten sich angeregt, während sich der Himmel langsam zu zog und der Wind immer stärker pfiff. Irgendwann nahm Jan Sophias Hand. Als sie schließlich Schutz in einem Jägerstand gesucht hatten, war er ziemlich ratlos. „Ich war verliebt über beide Ohren, aber ich wusste nicht was ich tun sollte. Ich wusste nicht, ob es schon soweit war.“ Doch Sophia nahm ihm die Entscheidung ab. „Sie hat mich mit diesen riesengroßen, wunderschönen Augen angesehen, dann kamen sich unsere Nasen immer näher und dann… naja, dann hat sie mich einfach geküsst.“ Jans Wangen bekommen zunehmend rote Farbe, während er versucht, diesen Moment zu beschreiben. „Unbeschreiblich.“
Als sie später wieder im Auto saßen, gab er ihr das Buch zurück. Ob es ihm gefallen hat, fragte sie. Ja, sehr gut, antwortete er. Dann schwiegen sie wieder eine Weile, schauten glückselig aus dem Fenster und küssten sich erneut. Endlich hatte das Glück auch mit der „Depri-Nudel“ ein Einsehen. Seit diesem Tag sind die beiden ein Paar. Weil er so chaotisch sei, hat Jan von seiner neuen Freundin später einen Terminkalender bekommen. All ihre Treffen hat sie dort eingetragen. Auf der letzten Seite hat sie ihm mit Füller eine kleine Botschaft hinterlassen. Dort steht: „P.S.: Ich liebe dich!“ Jan lächelt: „Hätte nicht gedacht, dass an dem Tag, an dem ich diesen Liebesroman zurückgebe, meine eigene Liebesgeschichte erst beginnt.“
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