Wehende Fahnen, Eurokraten und laufende Kameras – so denken viele über das Europäische Parlament. Doch ist das alles? Für sechs Wochen hatte Inga die Chance, hinter die Glasfassaden zu blicken und den Alltag im Europäischen Parlament in Brüssel mitzuerleben. Hier berichtet sie darüber, wie es ist, UKIP-Gründer Nigel Farage auf dem Flur zu begegnen, mit Martin Schulz über schlecht bezahlte Praktika in der EU zu sprechen und ob die berüchtigte „EU-Bubble“ wirklich existiert.
Drei Jahre lang habe ich European Studies studiert, und doch hatte ich bis vor kurzem – wie wohl die meisten anderen – keine Ahnung, was abseits der Kameras eigentlich in den Institutionen in Brüssel passiert. Um dies zu ändern, gab es nur einen Weg – einmal hinter die Kulissen schauen. Gesagt, getan. Ich bewarb mich bei mehreren Abgeordneten als Praktikantin und hatte wirklich Glück, eine Zusage bekommen zu haben, denn Praktika in der EU sind heiß begehrt.
Gut ein halbes Jahr später war es dann soweit. An einem Montagmorgen traf ich mich mit einer Mitarbeiterin „meines“ Abgeordneten vor dem Europäischen Parlament (EP). Bevor man dort eintreten darf, muss man erst einmal „akkreditiert“ werden. Heißt: einen besonderen Pass ausgehändigt bekommen, der dem Personalausweis gleicht mit Foto, Name und Arbeitsbezeichnung – in meinem Fall ein „S“ für „Stagiaire“, was französisch für Praktikant ist.
Dieser „Badge“ ist so etwas wie die Eintrittskarte in die EU-Welt. Man muss ihn immer tragen und kann mit ihm die Drehtüren im Parlament öffnen, um ins Innere zu gelangen – nach einem vorherigen Security-Check versteht sich. Innen erwartet einen ein Labyrinth aus Fluren, Büros und Sälen. Das EP ist das größte zusammenhängende Gebäude Europas und besteht aus vier Gebäuden. Es gibt einen Supermarkt, eine Post und sogar ein eigenes Fitnessstudio. Einige, die dort schon länger arbeiten, kennen außerdem „Geheimgänge“, also Abkürzungen, die einen besonders schnell an das Ziel führen. Zentral ist Etage drei. Von dort aus gelangt man über die Brücken in die anderen Gebäude, außerdem befindet sich hier auch ein Fernsehstudio. Hier werden auch Videos von den Mitgliedern des Europäischen Parlaments, den MEPs, gedreht. Am ersten Tag lief mir dort direkt Martin Sonneborn (DIE PARTEI) über den Weg und ich sah Bernd Lucke, den ehemaligen AfD-Vorsitzenden und heute Gründer der Partei ALFA, bei einem Interview. Doch stehen bleiben und schauen ist nicht. Alle sind immer in stetiger Bewegung, entweder beschäftigt am Handy oder vertieft in eine Unterhaltung. Die MEPs selbst haben ihre Büros in Türmen, zu denen man in vollgepackten Aufzügen hochfährt.
Das Leben eines EU-Stagiaires: zwischen Büroarbeit und Place Lux
An eines muss man sich als Praktikant gewöhnen: Als Stagiaire schreibt man keine weltbewegenden Reden, verhandelt mit Lobbyisten oder arbeitet an Amendments – meist bekommt man die Aufgabe, Bürgeranfragen zu beantworten und Vermerke zu verschiedenen Themen zu verfassen. Außerdem ist man für das Betreuen von Besuchergruppen zuständig. Doch langweilig ist es als Stagiaire trotzdem nicht, zum Beispiel kann man einige der vielen Veranstaltungen besuchen, die im EP stattfinden. Von EU-Russland-Beziehungen, Menschenrechtsverletzungen in China und selbstfahrenden Autos sind alle Themen dabei.
In der Mittagspause trifft man sich mit anderen Praktikanten. Da jeder Abgeordnete mindestens einen hat, sind das ganz schön viele. Fast jede Woche kommt jemand dazu und ein anderer ist nicht mehr dabei. Meist geht es auf einen Kaffee in die Mickey Mouse Bar, dort wird sich in farbig gepolsterten Sesseln über EU-Klatsch ausgetauscht und über die Events, die am Abend anstehen. Denn für die Praktikanten geht es nach dem Feierabend oft erst richtig los: In Brüssel sitzen viele deutsche Verbände und die Vertretungen der Bundesländer, die regelmäßig Veranstaltungen abhalten. Bei manchen Veranstaltungen reicht schon der Badge als Eintrittskarte, bei vielen aber auch nicht. Dann ist das spezielle Talent der EU-Stagiaires gefragt, uneingeladen auf Veranstaltungen zu kommen. Es winken freies Essen und Prosecco. Das durchschnittliche Gehalt als Praktikant reicht schließlich meist nicht einmal, um sich die Miete im teuren Brüssel zu finanzieren.
Donnerstagabend ist jede Woche ein Highlight: Dann geht es auf zum Place Lux. Gemeint ist der Place de Luxembourg, der sich vor dem Parlament befindet. Hier ist Treffpunkt für alle aus der „EU-Bubble“, besonders für die Praktikanten. Erst geht es zur Happy Hour, danach in den Club. Es ist eine Mischung aus Spaßhaben und Networking, in schicker Arbeitskleidung. Freitag ist schon mittags frei, die Stunden übersteht man dann auch noch. So geht es jede Woche aufs Neue. Schnell fühlt man sich als Teil eines großen Ganzen: Man befindet sich in der sogenannten „EU-Bubble“. Darunter versteht man die sogenannte Expat-Community, das heißt Leute, die im Ausland arbeiten, in diesem Fall in den EU-Institutionen. Man redet über die aktuellen Ereignisse in der EU und hat eigentlich nur Kontakt mit anderen aus der EU-Bubble. Hierzu gibt es sogar eine Serie auf YouTube, die von ehemaligen Stagiaires gedreht wurde. Als Praktikant im Parlament ist die EU-Bubble noch extremer: Eigentlich hat man nur mit Praktikanten aus seinem eigenen Land und der eigenen Fraktion zu tun.
Euroskeptizismus: Das Zerplatzen der EU-Bubble?
Die vergangenen Monate waren wahrscheinlich kein guter Zeitpunkt, um eine euphorische EU zu erleben. Das britische Referendum stand kurz bevor und auch sonst herrschte eine stressige Atmosphäre. Der Euroskeptizismus war überall. An den Sitzplätzen im Plenarsaal hatten Abgeordnete der rechtspopulistischen Fraktion stets französische, britische und griechische Flaggen in Miniformat aufgestellt, an den Fenstern von Abgeordneten wie Marine Le Pen hingen Poster für ein „freies Frankreich“. Am Abend des Referendums hatte Martin Sonneborn noch zum Satire-Kongress eingeladen und wollte „mit Champagner bis zum Brexit feiern“. Doch am Morgen nach dem Referendum herrschte eine bedrückende Stille im Parlament. Es war, als befände sich das gesamte Parlament in einer Schockstarre. Alle hatten auf ein Happy End gehofft, also auf einen Verbleib von Großbritannien in der EU, doch es war nicht eingetreten. Einige Tage später lief ich Nigel Farage im Flur über den Weg, eine irgendwie unangenehme Begegnung.
Frustration darüber, dass die EU nicht ernst genommen wird, spürte man auch häufig. Vor allem als „CETA“, das EU-Handelsabkommen mit Kanada, zur Absegnung an die nationalen Parlamente weitergegeben wurde, fühlten sich viele EU-Parlamentarier übergangen und betrogen. Waren sie nicht auch legitim gewählte Volksvertreter?
Eine der letzten Veranstaltungen, die ich besuchte, war eine Question-and-Answer-Session mit Parlamentspräsident Martin Schulz. Dort ging es unter anderem auch um unbezahlte Praktikanten im EP. Denn obwohl die Abgeordneten jeden Monat eine große Summe an Geld zur Verfügung haben, werden etwa 30 Prozent der Praktikanten nicht bezahlt. Die Folge davon ist vor allem, dass es sich viele nicht leisten können, ein Praktikum in Brüssel zu machen. Ganz abgesehen davon, dass es schwer ist, überhaupt einen Platz ohne „Vitamin B“ zu ergattern. Ich bin mir sicher, das gilt nicht nur für deutsche Praktikanten. Vielleicht berührt dieses Problem eines der größten, das die EU spaltet: das Fehlen von Solidarität. Wenn Chancenungleichheit schon bei den Praktikanten anfängt, ist das sicher kein gutes Zeichen. Wenn nur diejenigen eine Karriere in der EU machen können, die das nötige Kleingeld, die richtigen Connections und am besten noch ausländische Hochschulabschlüsse mitbringen, dann besteht die Gefahr, dass die EU ihre eigene Elite heranzüchtet und dass Andere außen vor gelassen werden. Dann droht die EU-Bubble jedoch zu zerplatzen. Martin Schulz versprach, sich für eine faire Bezahlung einzusetzen. Es wäre zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.
Meine sechs Wochen in der EU-Bubble gingen wie im Flug vorbei. Ich bin immer noch ein Fan der EU und denke, dass die Nationen die EU brauchen – sogar mehr denn je. Zusammen sollte daran gearbeitet werden, die EU besser zu machen, auf keinen Fall sollte sie zu einer Elite-Institution werden. Von den Praktikanten gefiel einigen die Arbeit im Parlament, andere merkten, dass Brüssel nichts für sie ist. Aber die Hauptsache war, Brüssel hautnah zu erleben. Und je mehr Menschen diese Erfahrung machen, desto besser. Und das ist gar nicht schwer. EU-Abgeordnete bieten Besuche im Parlament an, das EU-eigene Besucherzentrum, das Parlamentarium, hat die ganze Woche geöffnet, und der Eintritt ist frei. Man kann an Planspielen teilnehmen und sich selbst einmal wie ein Abgeordneter fühlen. Ein Besuch reicht schon und das sonst so ferne fühlt sich auf einmal ganz schön nah und real an. Denn EU-Bubble hin oder her, Europa betrifft uns alle.
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