Die Begriffe “Narzissmus” und “Borderline” sind in unserer Gesellschaft auf dem Vormarsch. Eine Beziehung zu einem Narzissten oder Borderliner kann schnell in einem Desaster enden. Narzissmus-Aufklärer gibt es im Netz in einer unendlichen Bandbreite. Doch ist die Aufklärung der selbsternannten Narzissmus-Aufklärer zielführend?
Eine Beziehung, die endet, ist schlimm. Eine toxische Beziehung, die endet, ist meist noch schlimmer und von einem schieren Unverständnis gekennzeichnet. Schließlich sind die Verhaltensweisen des „toxischen“ Menschen meist nicht nachvollziehbar. Wenn man durch einen Narzissten verstoßen (discarded) wurde, dann steht man vollkommen allein auf weiter Flur, mit sich, seinen Fragen und seinen Gefühlen. Denn der Narzisst ist einfach gegangen, in den allermeisten Fällen: ohne Erklärung. Ein heftiger Schlag für den Betroffenen, der diese Erfahrung machen musste. Nun ist dieser betroffene Mensch auf der Suche nach Antworten, welche sich zuweilen in unserer heutigen Zeit vermeintlich via “Google” finden lassen. Denn dort trifft der verletzte Mensch auf die „Narzissmus-Aufklärer“. Selbsternannte Aufklärer, die ebenfalls „Opfer“ eines narzisstisch gestörten Menschen geworden sind.
Subjektive Sicht und persönliche Erfahrungen
Diese Aufklärer, oder auch „Narzologen“, wie ich mal gelesen habe, wollen auf das Problem aufmerksam machen. Viele haben sich mit ihren Erfahrungen selbstständig gemacht und sind nun psychologische Berater oder Coaches geworden, die sich dem Narzissmus verschrieben haben. Abgesehen von der Tatsache, dass der Begriff Coach und psychologischer Berater nicht rechtlich geschützt und auf eine fundierte psychologische Ausbildung hinweisen muss, möchte ich ermutigen einen näheren und kritischen Blick hinter die Kulissen diverser Aufklärungskanäle zu werfen. Diese Aufklärer wollen nun weiteren Opfern von Narzissten helfen.
Ich hege absolut keinen Einwand dagegen, dass Menschen, die Erfahrungen mit „persönlichkeitsgestörten“ Menschen gemacht haben oder eine toxische Beziehung hatten, geholfen wird. Werfen wir doch mal einen genaueren Blick auf die Kanäle der Narzissmus-Aufklärer. Um Kunden anzuwerben, wird jegliches Thema in Bezug auf den gestörten Menschen ausgeschlachtet. Außenstehende, wie auch selbst von einer Persönlichkeitsstörung betroffene Menschen reagieren darauf oft mit Fassungslosigkeit.
Man darf nicht vergessen, dass die Narzissmus-Aufklärer auch nur aus ihrer subjektiven Sicht aufklären und von ihren Erfahrungen berichten, die ebenfalls sehr schmerzlich waren. Das will ich niemandem aberkennen. Aber wie viele von den Aufklärern sind wirklich von diesen Erfahrungen geheilt und haben ihren “Narzissten” vergeben?
Unreflektierte Menschen wissen nicht, was sie tun!
Durch meine eigene diagnostizierte Borderline-Persönlichkeitsstörung, welche nun seit zwei Jahren therapiert wird, habe ich eine andere Sichtweise auf diese sogenannten “Aufklärer über Narzissmus” entwickelt.
Was ich mehrheitlich erkenne bei diversen Aufklärungskanälen ist, dass diese Aufklärer einfach einen klassischen Rollentausch eingenommen haben und leider Unwahrheiten über Persönlichkeitsstörungen verbreiten. Dass diese Menschen nämlich böswillig seien und ganz genau wüssten, was sie ihren „Missbrauchsopfern“ antun, stimmt schlichtweg nicht. Menschen mit Persönlichkeitsstörungen agieren aus ihren erlernten Schutz- und Abwehrmechanismen heraus. Sie haben diverse Bewältigungsstrategien entwickelt, um mit gewissen Situationen, welche aus ihrer Sicht gefährlich sein können, zum Beispiel zu viel Nähe, umzugehen.
Dies hat niemals was mit der anderen Person zu tun, sondern nur mit dem von einer Persönlichkeitsstörung betroffenen Menschen selbst. Aber wie soll jetzt ein unreflektierter Mensch wissen, was er da eigentlich tut? Er weiß es nicht. Er wundert sich selbst, weshalb gerade ihm immer derartige Situationen widerfahren. Das hat nichts mit böser Absicht zu tun oder, dass er dich mutwillig zerstören will, wie es einige Aufklärer erläutern. Auch ich habe lange Zeit nicht verstanden, weshalb meine Beziehungen immer in einem Desaster enden. Erst als ich die Diagnose “Borderline” erhalten habe, konnte ich einige meiner Verhaltensweisen erkennen und einordnen. Ich habe niemandem mit böser Absicht weh getan. Ich konnte es nicht besser, weil ich es auch nicht besser wusste!
Wenn wir schon von Opfern & Tätern sprechen: Dann sind ALLE Opfer!
Was bringt es also, nun eine Aufklärung für die Verhaltensweisen bei jemanden zu suchen, der Unwahrheiten verbreitet? Der jetzt im Dramadreieck der Transaktionsanalyse den Retter mimt, nachdem er womöglich jahrelang das Opfer war vom bösen Täter, dem Narzissten oder der gestörten Borderlinerin?
In diesen Beziehungsdynamiken der toxischen Liebschaften gibt es weder Täter noch Opfer oder Retter. Wenn man es überhaupt so betiteln möchte, dann sind ALLE Opfer. Du, als der Partner, des vermeintlich „persönlichkeitsgestörten“ Menschen, der Narzisst oder Borderliner selbst und der Aufklärer ist Opfer seines Lebens, denn er versucht ja seinen Lebensunterhalt nun mit seinen Coachings zu bestreiten. Damit ist er ein Opfer des Systems. Aber bitte mach dir eins bewusst: Ein Mensch, der eine Persönlichkeitsstörung entwickelt hat, ist in seinem Leben mal Leidtragender (dieses Wort gefällt mir persönlich besser als der Opfer-Begriff!) gewesen. Durch die Verhaltensweisen anderer. Vielleicht durch einen, ebenfalls von einer psychischen Erkrankung betroffenen, Elternteil.
Mehr Verständnis und Mitgefühl durch verschiedene Blickwinkel
Ich habe mich nun von allen Seiten mit meiner Persönlichkeitsstörung befasst und auch über Narzissmus informiert. Und dies rate ich allen Betroffenen, egal auf welcher Seite sie stehen. Nehmt auch gerne Kontakt zu Menschen auf, die diagnostiziert sind und an sich arbeiten. Da gibt es einige, wie auch mich, welche darstellen, wie es ist, mit einer Persönlichkeitsstörung leben zu müssen – die sich im Übrigen niemand ausgesucht hat! Wie ihr wisst, berichte ich umfassend, offen und ehrlich, auch auf meinem persönlichen Blog “Borderline – Mein Weg zur Selbstwerdung” über meine Borderline Störung. In der Narzissmus-Sparte ist Lina Narzisse mit ihrem Youtube Kanal „Tagebuch einer Narzisstin von Lina Narzisse“ ebenfalls sehr aktiv und aufgeschlossen, persönliche Einblicke zu geben.
Mich haben ihre Videos sehr berührt und auch ich hatte eine toxische Beziehung zu einem möglichen Narzissten. Moritz von „Domaine der Narcisse“ spricht als männlicher Part ebenfalls offen über seine NPS (=Narzisstische Persönlichkeitsstörung). Ich wünsche mir, dass mehr Mitgefühl und Verständnis füreinander auf der Welt herrscht. Dies funktioniert allerdings nur, wenn man verschiedene Betrachtungen einnimmt und ein Thema von allen Seiten beleuchtet. Es gibt nicht nur die eine Wahrheit. Wahrheit ist ja bekanntlich für jeden anders definiert. Und dass ein „persönlichkeitsgestörter“ Mensch böswillig ist und verbannt gehört, ist nun mal nicht die (ganze) Wahrheit! Es ist lediglich die Wahrheit der Menschen, die nicht loslassen können, nicht vergeben haben und im Hass verharren.
Und eines sollte man auch nie außer Acht lassen: Wie viele da draußen sind eigentlich diagnostiziert und wissen, was mit ihnen nicht stimmt? Wenige! Und nur weil du oder dein Aufklärer, deinem Ex-Partner nun die Diagnose “NPS” aufdrückst, heißt es nicht, dass er diese auch tatsächlich hat. Somit plädiere ich für eine Ent-Stigmatisierung psychiatrischer Krankheitsbilder im Internet und den sozialen Netzwerken. Wenn auch du gegen Stigmatisierung bist, unterstütze uns gerne bei folgender Petition ” Schutzmaßnahmen für psychiatrische Krankheitsbilder im Internet / Gegen Stigmatisierung”. (bitte auf den fett markierten Link klicken!)
Malou
Toller Artikel. Davon müsste es vielmehr geben. Vielen Dank!!!
Eleonore
Der Artikel ist am Anfang sehr erhellend, da er sich dort mit den vielen selbsternannten Narzissmusaufklärern auseinandersetzt, die zu fast 99 % keinen fachpsychologischen Hintergrund haben geschweige denn approbiette Psychologie Psychotherapeuten sind.
Zuletzt bricht die Logik, denn dort wird für Verständnis für Menschen mit Persönlichkeitsstörungen geworben, die anderen nicht bewusst wehtun, sondern selbst unter ihrer Krankheit leiden. Sehr schlimm finde ich den Satz, dass sie, die Leidensverursacher nichts dafür können, dass ihre Opfer (Leidensträger) nicht loslassen können. Dieser Satz ist so menschenverachtend und kaltherzig, dass es mich graut. Ausserdem ist er erschreckend störungsimmanent, heißt er repräsentiert ein Symptom der eigenen Störung nämlich emotionale Kälte. Da ist nichts von Reflektiertheit oder Mitgefühl für den Partner,oder gequält würde, zu spüren.
Selina R.
Solch Artikel war längst überfällig!! Das ist ganz schlimm, wie mit den Emotionen der Menschen gespielt wird. Dazu überteuerte Preise (Coaching). Ich habe mir wirklich Hilfe gewünscht! Aber 100 Euro pro Stunde und aufwärts sprengen einfach meinen Rahmen. Ich bin nun in psychologischer Behandlung, zum Glück. Wer weiß, wo ich sonst stehen würde oder wie “arm dran” ich wäre.
Eric
Na endlich begreift es jemand. Narzissmus, Borderline etc sind Erkrankungen die professionell behandelt werden müssen. Diese sogenannten Coaches aus dem Internet, die für teures Geld ihre Dienste anbieten gehen gar nicht. Jeder der als sogenanntes Opfer dafür Geld ausgibt tut mir leid. Nur Abzocke!!!
Salvo
Stigmatisierung ist leider nur das Symptom unserer leider kranken Gesellschaft. Das Miteinander verkümmert leider zusehends, sodass die Menschen unsere Gesellschaft dazu neigen andere Menschen in Schubladen zu stecken. Würden mehr Leute offen über ihre Gefühle oder Probleme sprechen könnten sie auch erkennen das sie selbst Dinge mit sich herum tragen die mental belasten. Nur vor seiner eigenen Haustüre zu kehren bedarf Mut, den leider viele Menschen nicht haben. Klar ist es leichter anderen den schwarzen Peter zu zu schieben, jedoch ist dies einer der Gründe warum immer mehr Menschen vereinsamen.. Viele von uns sollten uns ein Beispiel an Josephina nehmen und anfangen an sich selbst zu arbeiten und über seine Probleme und Ängste sprechen, sodass unsere Gesellschaft gemeinsam heilen und besser werden kann.
Leila
Der wahre emotionale Missbrauch findet online statt, indem man die Menschen, die nach einer Trennung Antworten im Internet suchen einredet, ihr Ex sei ein Narzisst! Sie werden durch Videos, wo immer wieder, wirklich immerwieder erzählt wird, was ein Narzisst angeblich macht. Das ist eine Massen-Retraumatiserung im großen Stile. Es wird zusätzlich demonisiert, diskriminiert und stigmatisiert. Viele der Aufklärer haben doch selbst ein Ding an der Waffel.
Wie kann das über sein, dass die psychisch erkrankte Menschen ohne Ausbildung behandeln/coachen?
Sowas gehört weg!
Beate
Ja, Narzissten und Borderliner sind auch Opfer (gewesen), aber sie sind eben auch Täter. Wobei ich Narzissmus und Borderline nochmal sehr stark differenzieren würde, im Gegensatz zu Narzissten und Psychopathen haben Borderliner nämlich i.d. R. durchaus einen Leidensdruck und damit eine Änderungsmotivation – während bei Narzissten oftmal alle um sie rum, also das ganze System leidet, nur man selbst nicht.
Da ich auch nach Kontakt mit Narzissten ein paar Mal in einer Depression bzw. einem Burnout gelandet bin, finde ich es schon sehr hilfreich, dass man dazu inzwischen viele Informationen bekommt. Das war Teil meines Heilungsprozesses (neben dem Betrachten eigener co-abhängiger Anteile) und ich bin dafür sehr dankbar. Ich bin nicht der Meinung, dass es generell hilfreich ist für mehr Empathie zu plädieren, da es oft die Menschen sind, die überempathisch sind, die an Narzissten und Borderline geraten. Da ist mehr als Empathie mit anderen eine Empathie bzw. gesunde Selbstliebe und Abgrenzung gefragt.
Natürlich kommt es aber auch darauf an, welche Quellen ich mir im Internet suche. Und ja, da gibt es viel unqualifizierte selbsternannte Coached und viel Geldmacherei. Es gibt aber auch ausgebildete Psycholog*Innen, die sehr wertvolle und differenzierte Information zu dem Thema ins Netz stellen, leider finde ich die aber derzeit eher noch im englisch-sprachigen Bereich.
Genau genommen ist dies aber eben auch eine Seite einer Betroffenen, aber eben keines in dem Bereich qualifizierten Fachmann bzw. Fachfrau.
Objektiver Mensch
Wer einmal mit einem malignen Narzissten über ein Jahrzehnt zusammen war, wird sicherlich darüber anders denken, als oben im Artikel beschrieben steht. Ich kenne 3 Borderliner, von denen zwei pathologische Lügner sind und auch nach ihrer Behandlung blieben. Dennoch sind zwei dieser 3 Bordeliner absolut liebenswerte Menschen.
Narzissten bringen leider nicht viel Gutes in diese Welt, insbesondere die maligne Ausprägung.
Ich durfte einmal um mein Leben bangen. Seitdem denke ich deutlich anders über diese Thematik. Oder hätte ich, als ich aus dem Schlaf gewürgt worden bin, empathisch fragen müssen, warum er denn so übergriffig ist, und Verständnis für seine grauenvolle Vergangenheit aufbringen sollen?
Nur ein kleiner Impuls zum Nachdenken. 🙂
Ich habe ein sogenanntes “Abzocker Coaching” absolviert und es hat mich gerettet. Und nein, es ging nicht um den Ex Narzissten, es ging um die Aufarbeitung meiner Erfahrungen und um meine blinden Flecken.
Klaus Schlagmann
Der Grundgedanke dieses Artikels – wenn ich recht verstanden habe: vor einer leichtfertigen Übernahme von pathologisierenden Etiketten zu warnen – ist sehr gut.
Für mich gehört auch noch dazu, gerade bei dem Etikett “Narzissmus” auf dessen Geschichte und dessen Verwendung hinzuweisen. Was glauben oder wissen Sie: Wie wurde der Begriff “Narzissmus” von seinem Erfiinder (der ihn 1899 erstmals in die Welt gesetzt hat) definiert?
Als …
1. Selbstgefälligkeit und Eigenliebe, oder …
2. Boshafte Ablehnung jeglicher Beziehungen, oder …
3. Übermäßiges Bedacht-Sein auf Äußerliches, oder …
4. Verliebtheit in die eigenen Genitalien, oder …
5. Betrachten von sich selbst, das von deutlichen Zeichen des Orgasmus begleitet ist?
Und – haben Sie’s gewusst?
Die Varianten 1 und 2 entsprechen ungefähr dem heutigen (Un-)Verständnis.
Variante 3 lässt sich mit der Definition 1 und 2 leicht verrbinden.
Variante 4 stammt von dem Freud-Schüler Isidor Sadger, der wohl an erster Stelle den Begriff “Narzissmus” für die Psychoanalyse aufgreift und ihn so definiert (1910). (Freud spricht damals Sadgers Ausführungen ausdrücklich seine Anerkennung aus – was nicht so oft vorkam.)
Variante 5 ist die Original-Definition von Paul Näcke (1899). Freud behauptet später in seiner Abhandlung (1914), dass er sich auf diese Definition von Näcke beziehe. Näcke war zu diesem Zeitpunkt leider schon seit 1 Jahr verstorben. Er hatte Freuds bis dahin vorliegenden Theorie-Ansätze bereits seinerzeit mit klarem Blick in ihrer Lächelrichkeit durchschaut und überdeutlich kritisiert.
Vielleicht wird schon hieran deutlich, aus was für einer Verwirrung dieser Begriff entstanden ist – und warum er auch heute noch für Verwirrung sorgt.
Was die Symptome der sog. „narzisstischen Persönlichkeitsstörung“ anbelangt und die Möglichkeit, sie valide zu „diagnostizieren“, empfiehlt sich ein Blick auf die Arbeit von Robert Mestel (2019): Diagnostik der narzisstischen Persönlichkeitsstörung. In: Persönlichkeitsstörungen – Theorie und Therapie (PTT), 23, S. 41-53.
Mestel berichtet von einem Experiment. Er hatte 13 Fachleuten (Männern und Frauen, tiefenpsychologisch vs. verhaltentheoretisch orientiert, „Theoretiker“ vs. „Praktiker“) ein Video vorspielte, auf dem ein Mann zu sehen war, mit dem ein „strukturiertes klinisches Interview“ geführt wurde. Die ExpertInnen sollten einschätzen, ob und welche „Kriterien“ der „narzisstischen Persönlichkeitsstörung“ bei diesem Mann erfüllt seien.
Die Ergebnisse waren sehr uneinheitlich. Mestel schreibt, man wisse nun eigentlich nicht wirklich über den Mann, ob er nun eine „narzisstische Persönlichkeitsstörung“ „hat“ oder „nicht hat“. Aber man wisse mehr über die Diagnostiker: Diese Diagnose wurde zu 83 % von „ExpertInnen“ mit tiefenpsychologischer Orientierung vergeben und von 100% der Frauen.
Gerade auch bei Fachleuten kann sich In der Praxis der “Gebrauch” des Begriffes “Narzissmus” sehr verhängnisvoll auswirken:
– In meiner psychotherapeutischen Praxis hatte ich mit einem Opfer von „Mobbing“ zu tun, das von seinem vorigen Therapeuten mittels des Narzissmus-Vorwurfs vorgehalten bekam, an den Schikanen an seinem Arbeitsplatz selbst schuld zu sein. (Es ging ihm in dieser Therapie kontinuierlich schlechter – bis er, zum Glück, nach fast 300 Stunden die “Therapie” türenschlagend abbrach.)
– Eine “Gutachterin” verpasste einer völlig gesunden Mutter die Narzissmus-„Diagnose“. Das 8-jährige Kind wurde ihr per Gerichtsbeschluss weggenommen und in ein Heim gesteckt.
– Eine in der Therapie von ihrem (verheirateten) Therapeuten verführte und kurz darauf fallengelassene Frau, die sich daraufhin das Leben genommen hat, wird über das Etikett einer „narzisstischen Pathologie“ verhöhnt und der Lächerlichkeit preisgegeben. Das ganze geschieht auf einer der größten Psychotherapeutischen Fortbildungen im deutschsprachigen Raum: bei den Lindauer Psychotherapiewochen, vor über 1.000 “Fachleuten”. Der Vortrag wird kollektiv beklatscht. Der Referent, Prof. Otto Kernberg, gilt als “Narzissmus-Experte” und wird im selben Jahr zum Präsdidenten der internationalen psychoanalytischen Vereinigung (IPV) gewählt. (Er ist bis heute als CD im Originalton anzuhören bzw. leicht überarbeitet in einer Fachzeitschrift verewigt.)
– Julian Assange wird im Januar 2020 von einem Londoner Richter mit der Bemerkung: „Sie sind ein Narzisst, der nur an seine eigenen Interessen denkt!“ in den Kerker geschickt. Mit „Narzisst“ wird also ein Held der Menschheit willkürlich zu einem Verbrecher erklärt.
– Jüngst war es eine Schlagzeile wert, dass der Kinderpsychiater Michael Winterhoff seine Schutzbefohlenen mit schwersten Medikamenten behandelte, obwohl sie z.T. noch nicht einmal irgendwelche Symptome zeigten. Eine Art „Standarddiagnose“ zur Rechtfertigung seiner „Behandlung“: „Entwicklungsverzögerung mit Fixierung auf der narzisstischen Phase“.
Der antike Mythos, auf den der Begriff “Narzissmus” zurückgeht, erzählt im Grunde von menschlcihen Grunderfahrungen. Die Details werden durchaus unterschiedlich behandelt. Vgl. https://narzissmus-diskussion.de/der-mythos-von-narziss-in-7-varianten/. Es werden im Grunde die zwei Seiten einer Medaille beschrieben: zwei Möglichkeiten, an sozialen Beziehungen zu leiden
Seite I: Das Leiden an der Vergänglichkeit geliebter Angehöriger bzw. der eigenen Person.
Seite II: Das Leiden an der Aufdringlichkeit ungeliebter anderer, die auf eine Zurückweisung mit psychischer und/oder physischer Gewalt reagieren.
Die Weisheit dieses alten Mythos wird pervertiert. Und die „Wissenschaft” ist so denkfaul und/oder korrupt, dass sie willfährig mitmacht.
Ein Beispiel: In dem Artikel oben wird der Kanal von “Lina Narzisse” positiv erwähnt. Lina hat mehrere Beiträge, in denen sie auf Udo Rauchfleisch verweist. Zu ihm und seinem Buch von 2017 “Narzissten sind auch nur Menschen” würde ich gerne etwas sagen:
Rauchfleisch zitiert in seinem Buch den Mythos von Narziss relativ ausführlich. U.a., dass Narziss sich auf die Liebeswünsche zweier Männer, Ameinias und Ellops, nicht einlassen mag. (Für mich ist das nicht allzu unverständlich.)
Ameinias bringt sich daraufhin auf der Türschwelle des Narziss ums Leben und fleht im Sterben die Götter um Rache an. (Diese boshafte Bitte wird dann auch erhört. Bei dem Autor Konon, der diese Variante des Mythos ausführlich erzählt, ist es wohl der Gott Eros, der die Bestrafung umsetzt. Bei dem Autor Ovid, der eine etwas andere Fassung des Mythos berichtet, ist es die Göttin Nemesis: Beiden Varianten ist gemeinsam, dass idese Götter Narziss mit “Selbstliebe” verhexen, woran er dann stirbt.)
Ellops nimmt die Bestrafung selbst in die Hand: Weil Narziss ihm nicht willfährig ist, ermordet er ihn.
Rauchfleisch weiß von diesen Versionen des Mythos. Und seine Deutung: „Im Zentrum dieser beiden Versionen des Mythos [mit Ameinias & Ellops; K.S.] stehen (…) die Zurückweisung der Liebeswünsche anderer Menschen.“ Und diese „Motive” fänden sich „in der einen oder anderen Weise auch in den modernen psychologischen Narzissmustheorien. Im Zentrum steht die Unfähigkeit der narzisstischen Person, die Liebe anderer Menschen anzunehmen und darauf mit eigenen Liebesgefühlen zu antworten.“
Narziss soll also “narzisstisch” sein, weil er auf die “Liebeswünsche” von Ameinias und Ellops nicht mit “eigenen Liebesgefühlen” reagieren kann??? Wird hier nicht die Wirklichkeit völlig auf den Kopf gestellt? Sind es nicht Ameinias und Ellops, die sich hier als “beziehungsunfähig” erweisen, weil sie partout die Zurückwesung ihres Lebeswerbens durch Narziss nicht ertragen können?
Was hat jemand von der Dynamik zwischenmenschlicher Beziehungen verstanden, wenn er so radikal den Narziss aus dem Mythos, ein Opfer von Nachstellung und Gewalt, zum Täter stempelt? Zeigt das nicht sehr gut, wie leicht man die Wirklichkeit völlig verkennen kann, nur weil man irgendein Etikett im Kopf hat, das man jemandem überstülpt, von dem man glaubt zu wissen, was es bedeutet?
Klaus Schlagmann
Der Grundgedanke dieses Artikels – wenn ich recht verstanden habe: vor einer leichtfertigen Übernahme von pathologisierenden Etiketten zu warnen – ist sehr gut.
Für mich gehört auch noch dazu, gerade bei dem Etikett “Narzissmus” auf dessen Geschichte und dessen Verwendung hinzuweisen. Was glauben oder wissen Sie: Wie wurde der Begriff “Narzissmus” von seinem Erfinder Paul Näcke (der ihn 1899 erstmals in die Welt gesetzt hat) definiert?
Als …
1. Selbstgefälligkeit und Eigenliebe, oder …
2. Boshafte Ablehnung jeglicher Beziehungen, oder …
3. Übermäßiges Bedacht-Sein auf Äußerliches, oder …
4. Verliebtheit in die eigenen Genitalien, oder …
5. Betrachten von sich selbst, das von deutlichen Zeichen des Orgasmus begleitet ist?
Und – haben Sie’s gewusst?
Die Varianten 1 und 2 entsprechen ungefähr dem heutigen (Un-)Verständnis.
Variante 3 lässt sich mit der Definition 1 und 2 leicht verbinden.
Variante 4 stammt von dem Freud-Schüler Isidor Sadger, der wohl an erster Stelle den Begriff “Narzissmus” für die Psychoanalyse aufgreift und ihn so definiert (1910). (Freud spricht damals Sadgers Ausführungen ausdrücklich seine Anerkennung aus – was nicht so oft vorkam.)
Variante 5 ist die Original-Definition von Paul Näcke (1899). Freud behauptet später in seiner Abhandlung (1914), dass er sich auf diese Definition von Näcke beziehe. Näcke war zu diesem Zeitpunkt leider schon seit 1 Jahr verstorben. Er hatte Freuds bis dahin vorliegenden Theorie-Ansätze bereits damals mit klarem Blick in ihrer Lächerlichkeit durchschaut und überdeutlich kritisiert.
Vielleicht wird schon hier deutlich, aus was für einer Verwirrung dieser Begriff “Narzissmus” entstanden ist – und warum er auch heute noch für Verwirrung sorgt.
Was die Symptome der sog. „narzisstischen Persönlichkeitsstörung“ anbelangt und die Möglichkeit, sie valide zu „diagnostizieren“, empfiehlt sich ein Blick auf die Arbeit von Robert Mestel (2019): Diagnostik der narzisstischen Persönlichkeitsstörung. In: Persönlichkeitsstörungen – Theorie und Therapie (PTT), 23, S. 41-53.
Mestel berichtet von einem Experiment. Er hatte 13 Fachleuten (Männern und Frauen, tiefenpsychologisch vs. verhaltenstheoretisch orientiert, „Theoretiker“ vs. „Praktiker“) ein Video vorgespielt, auf dem ein Mann zu sehen war, mit dem ein „strukturiertes klinisches Interview“ geführt wurde. Die ExpertInnen sollten einschätzen, ob und welche „Kriterien“ der „narzisstischen Persönlichkeitsstörung“ bei diesem Mann erfüllt seien.
Die Ergebnisse waren sehr uneinheitlich. Mestel schreibt, man wisse nun eigentlich nicht wirklich über den Mann, ob er nun eine „narzisstische Persönlichkeitsstörung“ „hat“ oder „nicht hat“. Aber man wisse mehr über die Diagnostiker: Diese Diagnose wurde zu 83 % von „ExpertInnen“ mit tiefenpsychologischer Orientierung vergeben und von 100% der Frauen.
Gerade auch bei Fachleuten kann sich In der Praxis der “Gebrauch” des Begriffes “Narzissmus” sehr verhängnisvoll auswirken:
– In meiner psychotherapeutischen Praxis hatte ich mit einem Opfer von „Mobbing“ zu tun, das von seinem vorigen Therapeuten mittels des Narzissmus-Vorwurfs vorgehalten bekam, an den Schikanen an seinem Arbeitsplatz selbst schuld zu sein. (Es ging ihm in dieser Therapie kontinuierlich schlechter – bis er, zum Glück, nach fast 300 Stunden die “Therapie” türenschlagend abbrach.)
– Eine “Gutachterin” verpasste einer völlig gesunden Mutter die Narzissmus-„Diagnose“. Das 8-jährige Kind wurde ihr per Gerichtsbeschluss weggenommen und in ein Heim gesteckt.
– Eine in der Therapie von ihrem (verheirateten) Therapeuten verführte und kurz darauf fallengelassene Frau, die sich daraufhin das Leben genommen hat, wird über das Etikett einer „narzisstischen Pathologie“ verhöhnt und der Lächerlichkeit preisgegeben. Das ganze geschieht auf einer der größten Psychotherapeutischen Fortbildungen im deutschsprachigen Raum: bei den Lindauer Psychotherapiewochen, vor über 1.000 “Fachleuten”. Der Vortrag wird kollektiv beklatscht. Der Referent, Prof. Otto Kernberg, gilt als “Narzissmus-Experte” und wird im selben Jahr zum Präsidenten der internationalen psychoanalytischen Vereinigung (IPV) gewählt. (Er ist bis heute als CD im Originalton anzuhören bzw. leicht überarbeitet in einer Fachzeitschrift verewigt.)
– Julian Assange wird im Januar 2020 von einem Londoner Richter mit der Bemerkung: „Sie sind ein Narzisst, der nur an seine eigenen Interessen denkt!“ in den Kerker geschickt. Mit „Narzisst“ wird also ein Held der Menschheit willkürlich zu einem Verbrecher erklärt.
– Jüngst war es eine Schlagzeile wert, dass der Kinderpsychiater Michael Winterhoff seine Schutzbefohlenen mit schwersten Medikamenten behandelte, obwohl sie z.T. noch nicht einmal irgendwelche Symptome zeigten. Eine Art „Standarddiagnose“ zur Rechtfertigung seiner „Behandlung“: „Entwicklungsverzögerung mit Fixierung auf der narzisstischen Phase“.
Der antike Mythos, auf den der Begriff “Narzissmus” zurückgeht, erzählt in insgesamt 7 Varianten von menschlichen Grunderfahrungen (vgl. https://narzissmus-diskussion.de/der-mythos-von-narziss-in-7-varianten/. Es werden im Grunde die zwei Seiten einer Medaille beschrieben – zwei Möglichkeiten, an sozialen Beziehungen zu leiden:
Seite I: Das Leiden an der Vergänglichkeit geliebter Angehöriger bzw. der eigenen Person.
Seite II: Das Leiden an der Aufdringlichkeit ungeliebter anderer, die auf eine Zurückweisung mit psychischer und/oder physischer Gewalt reagieren.
Die eigentliche Weisheit dieses alten Mythos wird mit dem Begriff „Narzissmus“ völlig pervertiert. Und die „Wissenschaft” ist so denkfaul und/oder korrupt, dass sie willfährig mitmacht.
Ein Beispiel: In dem Artikel oben wird der Kanal von “Lina Narzisse” positiv erwähnt. Lina hat mehrere Beiträge, in denen sie auf Udo Rauchfleisch verweist. Zu ihm und seinem Buch von 2017 “Narzissten sind auch nur Menschen” würde ich gerne etwas sagen:
Rauchfleisch zitiert in seinem Buch den Mythos von Narziss relativ ausführlich. Er berichtet, dass Narziss sich nicht auf die Liebeswünsche zweier Männer, Ameinias und Ellops, einlassen mag. (Für mich ist das nicht allzu unverständlich.)
Ameinias bringt sich daraufhin auf der Türschwelle des Narziss ums Leben und fleht im Sterben die Götter um Rache an. Diese boshafte Bitte wird dann auch erhört. Bei dem Autor Konon, der diese Variante des Mythos ausführlich erzählt, ist es wohl der Gott Eros, der die Bestrafung umsetzt. Bei dem Autor Ovid, der eine etwas andere Fassung des Mythos berichtet, ist die Göttin Nemesis die strafende Instanz: Beiden Varianten ist gemeinsam, dass diese Götter Narziss mit “Selbstliebe” verhexen, woran er dann stirbt.
Ellops nimmt die Bestrafung selbst in die Hand: Weil Narziss ihm nicht willfährig ist, ermordet er ihn.
Rauchfleisch weiß also von diesen Versionen des Mythos. Und seine Deutung: „Im Zentrum dieser beiden Versionen des Mythos [mit Ameinias & Ellops; K.S.] stehen (…) die Zurückweisung der Liebeswünsche anderer Menschen.“ Und diese „Motive” fänden sich „in der einen oder anderen Weise auch in den modernen psychologischen Narzissmustheorien. Im Zentrum steht die Unfähigkeit der narzisstischen Person, die Liebe anderer Menschen anzunehmen und darauf mit eigenen Liebesgefühlen zu antworten.“
Narziss soll also “narzisstisch” sein, weil er auf die “Liebeswünsche” von Ameinias und Ellops nicht mit “eigenen Liebesgefühlen” reagieren kann??? Wird hier nicht – offensichtlich – die Wirklichkeit völlig auf den Kopf gestellt? Sind es nicht Ameinias und Ellops, die sich hier als “beziehungsunfähig” erweisen, weil sie partout die Zurückweisung ihres Liebeswerbens durch Narziss nicht ertragen können?
Was hat jemand von der Dynamik zwischenmenschlicher Beziehungen verstanden, wenn er so radikal den Narziss aus dem Mythos, ein Opfer von Nachstellung und Gewalt, zum Täter stempelt? Zeigt das nicht sehr gut, wie leicht man die Wirklichkeit völlig verkennen kann, nur weil man irgendein Etikett im Kopf hat, das man jemandem überstülpt, von dem man glaubt zu wissen, was es bedeutet?