Der Rückgang an aktiven Kirchenmitgliedern in Deutschland ist beachtlich, die Angebote für subkulturelle Gruppen und völlig autonome Religionsgemeinden nehmen zu. Die Kirchen müssen schlichtweg auf die Veränderungen der Moderne reagieren und verlieren damit ihre Alleinstellungsmerkmale. Eine Bestandsaufnahme in Form eines Essays.
Die Soziologie beschreibt die Moderne gern vor dem Hintergrund der Individualisierung. Diese bedeutet, dass wir uns bei steigender individueller Wahlfreiheit und gleichzeitigem Aufbruch alter Sicherheiten von einer historisch neuen Bedeutung des Individuums konfrontiert sehen. Nun stehen große Institutionen und Wirklichkeitsdefinitionen dieser allgemeinen Tendenz der Individualisierung anscheinend diametral gegenüber. So verstehen sich immer mehr Menschen auch weiterhin als Christen oder auch als „Kulturchristen“, lehnen aber die Institutionalisierung des Glaubens in einer Kirche ab.
„Von allem nur das Beste“
Aus der Individualisierung des Glaubens ergab sich eine bunte Vielfalt von Glaubensinhalten und jeder kann sich die religiösen Inhalte aus dem Supermarkt der Religionen herausgreifen und dann später zu seinem ganz persönlichen Potpourri zusammenwerfen. Ganz nach dem Motto „Von allem nur das Beste“ lässt sich hier ohne endgültige Festlegung jede Kombination austesten. Die Reinkarnation und das Karma werden dann aus dem buddhistischen Regal genommen, die kleinen Tänze und Flashmobs können in der Abteilung für indianisch-naturreligiöse Riten gefunden werden, die nötige Würze bringen die existentialistischen Tütensuppen von Tao-Te King und werden bei aller Nächstenliebe in der christlichen Sakristei zusammengesucht. Immer auf der Suche nach dem ganz großen persönlichen und möglichst totalen religiösen Erlebnis werden Sakrales und Profanes miteinander vereint. Denn hast du es nicht selbst erfahren, bist du eben auch selbst schuld. Wunder ereignen sich nicht mehr, sondern werden aktiv gemacht.
„Anything goes“ sagt die Postmoderne – „But where to?“, frage ich zurück
Die Individualisierung bringt immer mehr eine Privatisierung der Spiritualität und immer weniger formelle Religionsausübung hervor. Denn es geht nicht mehr um Unterwerfung, um Gottgefälligkeit oder Askese, sondern das individuelle Erleben steht im Fokus der Aufmerksamkeit. Wenn Institutionen und letzte Wahrheiten nämlich nur noch als Hemmnis zur Selbstentfaltung wahrgenommen werden, fällt das Individuum auf sich zurück und sucht in neuen Sinnstrukturen seine Sicherheiten. Der eine findet sich in einer subkulturellen Szene wieder, der andere sieht den Sinn seines Daseins in seinem Beruf, wieder andere pilgern lieber zum Fußballtempel der nächsten Stadt. Genauso werden Bastelreligionen zusammengestellt, die ihren jeweils ganz eigenen Begriff von Göttlichkeit, Transzendenz und dem Menschen schaffen.
Zumeist macht solch ein individualistische Projekt nicht einsam, sondern führt trotz (oder gerade wegen) der Individualisierung Gleichgesinnte zusammen. Die Unmöglichkeit der Kommunikation von leiblichem Empfinden wird schlicht durch sprachloses, gemeinsames Empfinden überwunden. Aus großangelegten und voll durchorganisierten Events werden dann die außeralltäglichen Existenzerfahrungen auf Knopfdruck produziert. Der Soziologe Winfried Gebhardt spricht hier recht treffend von der „Selbstermächtigung des religiösen Subjekts“. Die alte Religion, wie sie Jahrhunderte bestanden hat, als homogene Einheit mit dem Anspruch Gesellschaft und Individuen zu formen, wird dabei abgelöst von weit demokratischer und pluralistischer anmutenden Multioptionsgemeinschaften, die das außeralltägliche Wir-Gefühl durch immer neue Formen des Events erzeugen. Und das alles, ohne aktives Mitglied sein zu müssen, ohne Verpflichtungen, ohne „commitment“. Hier trifft Kulturkritik die Befriedigung westlicher Werte von Demokratie, Religionsfreiheit und Toleranz.
Die Kirche schlägt zurück und damit sich selbst
Während religiöse Szenen mit ihrer Offenheit, ihrer Unverbindlichkeit des Normierungsanspruchs und ihren Freiräumen für individuelle Weltdeutungen glänzen können, haftet der institutionellen Kirche das verstaubte Image einer vormodernen und dem Zeitgeist fremden Einrichtung an, die sich durch Beschränkungen, Buße und traurigem Ernst auszeichnet. Wie dem auch sei. Religion ist heute nur noch ein Teil der Kultur unter anderen. Keine Wahrheit ist mehr wahr. Alles ist im Schatten der politischen Korrektheit eine subjektive Wahrheit, die ernst genommen werden muss. Bunte Cafeteria-Religionen sind somit auf einem guten Weg mit ganzheitlicher Körpererfahrung, importierter Reinkarnationshoffnung und narzisstischer Gefühligkeit die klassische Kirche in den Dimensionen von kurzfristiger Aufmerksamkeit und entsprechenden Resonanzgefühlen bei weitem zu schlagen. Die alte Frömmigkeit mit ihrer Sündenlehre und die langatmigen Messen wirken stiefmütterlich und nicht mehr zeitgemäß. Doch auch die Kirche steht nicht still und so werden auch von offizieller Seite Facebook, Twitter und auch die klassische Messen „scharf“ gemacht. Und hier beginnt der Prozess Kulturindustrialisierung der Kirche.
Ist es nicht paradox, wenn der Papst als irdischer Vertreter Jesu Christi die gleichen 140 Zeichen auf Twitter zur Verfügung hat wie jeder andere auch und seine Tweets auf meiner Timeline genauso plump wirken wie die Sinnsprüche meiner anderen Abonnements? Mit dem Eintritt in die digitale Welt ist die Kirche nicht mehr Herr über die christlichen Grundvollzüge. Liturgie wird verwaschen und unnötig aufgeblasen, die Botschaft durch sich selbst ermächtigende Kommunikationsmedien profaniert. Die Vernetzung der religiösen Subjekte wirkt dabei zusätzlich egalisierend und dezentralisierend. Wenn die Kirche den Beistand von Mark Zuckerberg und Co. zu erbitten hat, so verändern sich hier schlagartig Jahrhunderte alte Autoritätszuschreibungen.
Und auch die großen Weltjugendtage inszenieren das Wir-Gefühl der christlichen Gemeinschaft mit den gleichen Mitteln wie auch ein Rock am Ring. Der Papst wird zum Rockstar, die Kleidung dient zur Selbstvergewisserung in der eigenen Gruppe; Tattoos sollen die Ernsthaftigkeit des Glaubens ausdrücken und so könnte man die Anleihen aus der Popkultur weiterführen. Nicht Demut und Devotion sind angesagt, sondern Begeisterung und Ekstase. Nicht Kontemplation und Nachdenklichkeit prägen die Begegnungen von christlichem Oberhaupt und Jugend, sondern lautstarker Jubel und Fanchöre. Die Momente der Stille werden ebenfalls Teil eines vollkommen außeralltäglichen Auflösens des subjektiven Empfindens in einer größeren Masse. So groß die Anleihen der Kirche aus der jeweils sie umgebenden Profankultur immer schon war (Der Weihrauch aus dem byzantinischen Kaiserkult sei hier ein Beispiel von vielen) und so stark der Drang zum Massenerleben in allen Weltreligionen seit jeher ausgebildet war, lässt sich vor diesem fast anthropologischen Grundprinzip nicht die neue Spannung zwischen Subjektivismus und zeitlich begrenzter Auflösung im Kollektiv verstehen.
Die neue Kirche
Der Glaube muss anscheinend „hip“ und in eine neue ästhetische Passform gebracht werden, damit er die kurze Aufmerksamkeitsspanne der Jugend noch erreicht. Wenn also die Kirche nur noch ein Dienstleister neben Youtube, Snapchat und anderen Anbietern täglicher multimedialer Reizüberflutung wird, muss auf Lasershows im Gottesdienst, große Rhetorik mit hinterlegter Musik, bedruckte T-Shirts („Wir sind Papst“) oder Jesus-Brandings zurückgegriffen werden. Dabei arbeitet die neue Vermarktung des Glaubens mit Strategien der Vereinfachung durch Selektion und Visualisierung. Indem unschöne Inhalte, die auf Grund ihrer Tradition eventuell nicht mehr zeitgemäß wirken könnten, schlicht eliminiert und damit ganze Weltreligionen auf wenige Aussagen zusammengedrückt werden, kann die neue Light-Version auch vegane Weltverbesserer überzeugen. Zudem wird mystische Liturgie und bedächtiges Zuhören zur bloßen Unterhaltung, die durch möglichst viel Showeffekt emotional aufgeladen wird. Die Personalisierung des Glaubens auf einige leuchtende Großfiguren wirkt dabei ähnlich dem Wahlkampf großer Parteien. Sei es nun zeitgeschichtlich Papst Franziskus oder geschichtsbewusst eine Hildegard von Bingen. Das Aufladen von Einzelpersönlichkeiten mit allen irdischen Hoffnungen war aber auch bei den „Santo-Subito“-Fanchören während der Beisetzung des nur wenig später wirklich seliggesprochenen Johannes Paul II zu spüren.
Der spätmoderne Mensch ist ein Kind der Freiheit und wünscht nicht mehr als Schaf geführt zu werden. Und wenn dann ein temporärer Hirte ihnen die Welt erklären möchte, so muss er als ziemlich hippe Gestalt auftreten und Authentizität wie Coolness ausstrahlen. Ob nun Papst Franziskus dies gelingt, wird sich wohl eher in der Rückschau zeigen. Jedenfalls muss gerade die katholische Kirche in ihrer Modernisierung aufpassen, dass sie nicht den Kopf verliert. Der aufsehenerregende Abgang des letzten „Vorstandsvorsitzenden“ Papst Benedikt XVI. zeigte zumindest nur eine weitere Stufe der Entwicklung der Kirche hin zu einer Dienstleistungs-GmbH.
Und was denkst Du? Diskutiere mit!
Florian Bunes
Ja, ich stimme Dir zu: Es verändern sich “Jahrhunderte alte Autoritätszuschreibungen” zuungunsten der Kirche – Gott sei Dank, muss man sagen. Auch wenn die Kirche mittlerweile nicht müde wird, ihr Schlaflied von Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Toleranz zu summen, zeigt ein objektiver Blick in die Geschichte doch: Immer, wenn Kirche die faktische Autorität besitzt, die ihrem Selbstverständnis entspricht, richtet sie großen Schaden an. In jenen Zeiten hat sie bewiesen, wie ihr wahres Gesicht aussieht: intolerant, diskriminierend und intrigant. Hexenverbrennung, Behinderung der Wissenschaft und vatikanische Dekadenz sind nur wenige Beispiele. Die heutige Kirche “light” ist dagegen ja glücklicherweise gezähmt. Der vielerorts übliche Umgang mit ihr zeugt trotzdem von ziemlicher Traditionsblindheit. Denn die Kirche, wie sie sich heute gerne präsentiert, ist keine Folge innerkirchlicher Reform, sondern Resultat der hart bekämpften aufklärerischen Arbeit. Die Individualisierung des Glaubens und der damit einhergehende Bedeutungsverlust der Kirche scheint von daher dem zivilisatorischen Fortschritt nur dienlich zu sein. Sinn entsteht dort, wo der Mensch Sinn schafft. Man kann es auch mit Kant sagen: “Sapere aude!” – Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen. Der Ruf der Anti-Modernisten ist angesichts ihrer Lage zwar verständlich, macht ihn dennoch nicht weniger fatal.