Oft sind es die kleinen Dinge, die Hoffnung schenken, so zum Beispiel ein kleiner Garten oder ein nettes Wort. Valentin erfährt in seiner Zeit auf Lesbos, wie wichtig der Glaube für die Flüchtlinge im Camp ist, um die schwierigen Lebensumstände zu überstehen.
Hier geht es zu den vorherigen Teilen der Reihe:
Teil I: https://www.firstlife.de/die-ersten-tage-auf-lesbos-teil-i/
Teil II: https://www.firstlife.de/selbst-ein-fluechtling-auf-lesbos-teil-ii/
Teil III: https://www.firstlife.de/bethel-haus-gottes-auf-lesbos-teil-iii/
Teil IV: https://www.firstlife.de/nichts-ist-normal-im-alltag-auf-lesbos-teil-4/
„When you believe“
Die Namen „Whitney Houston“ und „Mariah Carey“ dürften vielen Zeitgenossen meiner Generation und der Generation meiner Eltern bekannt sein. Ikonographisch stehen Sie für Größen der Popkultur und Musik. Die Sängerinnen symbolisieren den „American Dream“ – im weitesten Sinne „Hollywood“. Weniger Leuten dürfte jedoch bekannt sein, dass die beiden Künstlerinnen als Duett das Lied „When you believe“, den Titelsong eines Filmes, der eine biblische Geschichte erzählt, gesungen haben. „The Prince of Egypt“ heißt dieser Film, produziert von „Dreamworks“, der die Geschichte von Mose aus dem zweiten Buch Mose, Exodus nacherzählt. Exodus. Auszug. Die Geschichte eines Mannes, der im Auftrag Gottes sein Volk aus der Sklaverei und Knechtschaft in die Freiheit führte. Ein Weg schwieriger Herausforderungen und großer Wunder. Ein Weg des Wartens und Hoffens. Ein Weg, der trotz klarer Erwartungen und Versprechen doch nie klar vor Augen lag. Ein Weg, der mir angesichts dessen, was ich täglich im Camp miterlebe, bekannt vorkommt.
Ich weiß nicht mehr, weshalb ich auf die andere Seite des Camps laufen musste. Aber da war es. Fast unbemerkt in all dem Trubel fand es doch den Weg zu meinen Ohren; die eingängige Melodie. „When you believe“. Ich bleibe nicht stehen, laufe weiter, gehe meinem Job nach. Aber es bringt eine Saite in mir zum Klingen. Wer war es wohl, der das Lied anhörte? Ein Christ? Ein Jude? Ein Kind, das per Zufall auf das Lied gestoßen war? Ein Moslem? Eine Afrikanerin? Denn ich passierte gerade eine Ansammlung von mit Afrikanern bewohnten Zelten. Ein Mensch, für den das Lied Ausdruck seines Schmerzes, seiner Hoffnung und seines Wollens geworden ist? Anker im Sturm? Ablenkung? When you believe – diese Zeilen bekommen an diesem Ort eine ungeahnte Bedeutung. Glaube. Wenn ich mich umsehe, kann ich oft nicht glauben, was ich sehe.
Ich statte momentan UNHCR- und Rote Kreuz-Zelte mit einem Boden aus, der aus einer eingeebneten Fläche mit Europaletten und einer darauf nahtlos verschraubten Lage USB-Platten besteht. Die 24 Europaletten füllen den Grundriss gut aus, womit man auf eine Nutzfläche von ca. 23 Quadratmetern kommt. Je Zelt rechnet man bis zu neun Menschen ein. Kommen zwei Familien auf ein Zelt, wird in der Mitte ein Raumteiler aus Baumwolle eingezogen. Selbst Liebesversprechen an die Liebsten und das Gute-Nacht-Küsschen hören die Nachbarn mit – auch den Streit, das Schnarchen sowie Lachen der Nächsten nebenan. Anhand der gegebenen Daten lässt sich errechnen, dass jeder Person im Durchschnitt ca. 2,5 Quadratmeter Nutzfläche zur Verfügung stehen. Nutzfläche. Dazu kommen die Besitztümer einer Familie, die wenigen privaten Eigentümlichkeiten, die irgendwo diebstahlsicher verstaut und untergebracht werden müssen.
Eine ältere Frau zeigt mir die durchgeschnittenen Verschlussbänder einer Zelt-Türe. Letzte Nacht wollte jemand ins Innere des Zeltes von acht alleinstehenden Frauen gelangen. Ein Dieb, sagen die Frauen. Das Werkzeug muss scharf gewesen sein – ein glatter Schnitt, kein ausgerissenes Garn. Ich verstehe, warum die mangelnde Elektrizität hier für Aufregung sorgt. Es geht nicht um Fernseher und Playstation, sondern um Licht im Dunkel der Nacht. Vielleicht vergrößert der Glaube nicht die weniger als zwei Quadratmeter kleine Wohn- und Schlaffläche – gerechnet pro Person. Ohnehin frage ich mich, ob aufgrund der zunehmenden nächtlichen Kälte und mangelnden Wärmedämmung nicht selbst eher kältere, distanzierte Menschen zumindest für den Schlaf nah aneinanderrücken, um beieinander etwas Wärme zu finden. Sicherlich aber macht Glaube das Unerträgliche ertragbar.
Unglaublich, aber wahr
„Was? Du bekommst kein Geld für deine Arbeit?“ Der Mann will mich nicht loslassen und schaut mich ungläubig an. „Nein“, sage ich. Ich bin freiwillig hier. Die Frauen heben die Arme zum Himmel und preisen Gott. Ja, unglaublich, was Gott hier tut. In all dem Leid. „Solche Situation gibt es häufig, nicht täglich, aber immer wieder“, sagen meine Kollegen. Der Mann bleibt fassungslos zurück. Und ich freue mich. Schön, dass es auch mal das Schöne ist, was unglaublich, aber wahr ist. Als Mose mit seinem Volk aufgebrochen war und den mutigen Entschluss gefasst hatte, die Sklaverei hinter sich zu lassen, lief vieles nicht so, wie es hätte laufen sollen.
Er landete mit den Israeliten für lange Zeit zunächst in der Wüste, wo sie mancherorts lagerten. In Zelten. So auch die Flüchtlinge auf Lesbos. Sie gingen, um dem alten Leben und seinen lebensfeindlichen Bedingungen, zu entfliehen, nur um dann festzustellen, dass sie an einem neuen Ort voller Herausforderungen angespült wurden. Aber genauso wie die Geschichte mit Mose weiterging, so gilt auch hier: Es gibt eine Zukunft – was man nicht sieht, wenn man nur auf das sieht, was vor Augen ist, aber was man sieht, when you believe, wenn man glaubt.
Ein Garten Hoffnung
Ich tauche unter den Abspannseilen eines Zeltes hindurch und blicke auf. Liebevoll eingepflanzte Blumenzwiebeln, Kräuter und anderes lebensdurstiges Grün räkeln sich gen Himmel, eingepflanzt am Saum des folgenden Zeltes. Ein kleiner Garten tut sich vor mir auf. Meine Augen können nicht glauben, was sie sehen. Wahrscheinlich würde es einem Astronauten auf dem Mars ähnlich gehen, ginge er um den nächsten trockenen Stein und siehe da: Zerbrechliches, feines, lebensatemverströmendes Grün. Ja, lebendiges Grün. Dass es diese Farbe auf Erden gibt… Ja, erst als ich das Grün sehe, wird mir klar, was – ohne es zu merken – in Vergessenheit geraten war.
Ein Mensch, der sät und pflanzt, wie der Eigentümer des Zeltes vor mir, denke ich mir, muss Hoffnung haben. Denn welcher Mensch würde pflanzen, wenn er nicht auch glauben würde, irgendwann zu sehen, was für eine Frucht und Blüte aus seiner Pflanzung entstehen möge? Hoffnung. Ein kleiner Garten Hoffnung. Und ein Mensch mit Hoffnung und Glaube. Hier im Camp. Ich halte inne. Einen winzigen Moment. Was alles wachsen kann, selbst an Orten wie diesen, wenn wir glauben.
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