Ein zweiter Corona-Test und ein Beinahe-Unfall – in Valentins Alltag auf Lesbos herrscht noch lange keine Normalität. Im vierten Teil seiner Serie erzählt er euch, mit welchen Herausforderungen er, als Freiwilliger, zu kämpfen hat, aber auch welche Gastfreundschaft ihm entgegengebracht wird.
Hier geht es zu den vorherigen Teilen der Reihe:
Teil I: https://www.firstlife.de/die-ersten-tage-auf-lesbos-teil-i/
Teil II: https://www.firstlife.de/selbst-ein-fluechtling-auf-lesbos-teil-ii/
Teil III: https://www.firstlife.de/bethel-haus-gottes-auf-lesbos-teil-iii/

Am Sonntag nach meinem ersten Arbeitstag hallt es in meinem Telefon nach: „I don’t have good news for you.“ „No worries. Keine Sorge“, antworte ich. Eine Frau, mit der ich im Camp zusammengearbeitet hatte, wurde positiv getestet. Also muss ich wieder in Quarantäne. Dieses Mal zahlt mein Arbeitgeber den Corona-Test. Ich hätte nicht gedacht, dass ich die Praxis so schnell wieder von innen sehen würde. Wieder das Stäbchen tief im Rachen, was einem den Tag darauf Heiserkeit beschert. Es ist ein neues Gefühl diesmal. Ich mache mir keine Sorgen, und dennoch ändert sich etwas in meinem Denken. Ein innerer Kampf entsteht, aber im Gebet finde ich wieder zurück in die Ruhe. Nein, Gott passt auf mich auf. Und siehe da, am Dienstagabend im Whatsapp-Austausch mit der Ärztin stellt sich heraus – der Test ist negativ. Es geht weiter.
Aber es holpert ganz schön. Ich weiß nicht warum, am Mittwochmorgen erfasst mich Stress. Ein wenig zu viel Zeit gebraucht bzw. ein wenig zu spät aufgestanden und ich befürchte, die anderen warten bereits auf mich. Diejenigen, welche ich mit dem Auto, das man mir bei der Arbeit anvertraut hatte, an einer Tankstelle im nächstgelegenen Dorf abholen sollte. Ich stülpe mir die hochgeschnürten Wanderstiefel über, stolpere zum Auto und schon flitze ich durch die Olivenwälder hindurch. Blätterwerk klatscht gegen die Scheiben. Kein Beifall. Ich fahre zu schnell und sehe, dass eine Kurve eng werden könnte. Schon zu spät. Dann das entgegenkommende Auto. Ich schwenke nach rechts. Rumms. Efeu. Ich nehme es mit der rechten Autoseite mit, indem ich dem anderen Auto ausweiche, das auch das Steuer zur Seite gerissen hatte. Kein Unfall. Glück gehabt.
Nur etwas Efeu habe ich mitgenommen. Mein Herz schlägt schneller. So schnell kann es passieren. Was war mit mir los? Sonst bin ich doch ein vorbildlicher Fahrer. Die jugendlichen Avancen lang hinter mir gelassen, in denen es mal vorkam: mit 180 auf der Autobahn. Lange her. Warum hier so ein Fast-Fiasko? Ich verstehe und weiß es nicht. Stress. Aber warum? Ich komme doch noch nicht mal zehn 10 Minuten zu spät. Und dafür fast ein Unfall bauen. Valentin, denke ich mir. So muss es auch anderen schon gegangen sein. Mit gutem und weniger gutem Ausgang. So schnell kann es passieren, wenn man mal einen Fehler macht. Glück gehabt. Gott sei Dank. Mein persönliches Wunder heute. Mir wird schlecht bei dem Gedanken daran, was passiert wäre, wenn ein Opa mit Kind oder ein anderer Mensch hinter der Ecke auf meiner Straßenseite aufgetaucht wäre. Mir wird schlecht. Aber Gott sei Dank war da ja niemand. Gottes Gnade. Halleluja. Wieder.
Mich umgreifen zwei kleine Menschen-Finger und decken meine Augen zu. Es geht so schnell, ich kann mich gar nicht wehren. Eine Welle der Gefühle überschwappt mich. Liebe und Freude dafür, dass ein Kind meine Aufmerksamkeit so fröhlich annimmt. Und zugleich Sorge, weil ich die letzte Woche bereits zwei Mal in Quarantäne war. Meine Gedanken schlagen Purzelbäume. Ich überlege, ob ich meine Augen waschen sollte, denke aber gleichzeitig, das ist albern. Erst möchte ich mit meinem Schichtleiter über die Situation sprechen. Dann wieder nicht. Ich tue es später doch, als er mir über den Weg läuft. Irgendwie ist dieser Tag bisher… schwierig.
Weitermachen
Zum Mittag werde ich mit einer neuen Aufgabe betraut, der ich mich mit einer mir bis dahin unbekannten Kollegin widmen soll. Tina ist ihr Name. Sie hat leuchtende Augen und eine große Präsenz. Dabei ist sie eher von kleinem Wuchs. Sie tappst mit mir durch das Zeltgewimmel, unter Abspannseilen hindurch, über Pfützen hinweg. Sie ist etwa Mitte 40. Ich weiß es nicht. Mutig ist sie allenfalls. Denn sie hat in Amerika alles hinter sich gelassen. Dabei war auch ihr Start nicht einfach. Nach dem ersten Flug nach Europa wurde sie in Amsterdam prompt wieder nach Hause geschickt. „Let these people not stop you.“ Ein Sicherheitsbeamter sprach diese Worte zu ihr, sagt sie. Er musste sie zurückschicken und dennoch machte er ihr Mut. Tina konnte es nicht glauben. Also flog sie zurück. Aber mit den Worten des Mannes in den Ohren buchte sie einen neuen Flug und kam wieder, dieses Mal mit einer nichtamerikanischen Airline – wäre sie doch gleich mit dieser gekommen, meint sie lächelnd -, jetzt klappt es. Sie darf weiterreisen. Und kommt schließlich nach Griechenland, Lesbos.
Ein großes Herz schlägt in ihrer Brust, das höre ich. Direkt und ehrlich geht sie auf die Menschen zu, hockt vor ihren Zelteingängen und spricht in das unbekannte Dickicht mancher Zelte hinein, bis sich einzelne Köpfe herausbeugen oder auch ganze Familien plötzlich vor einem stehen, wie aus einer Höhle hervorgekommen aus dem Nichts und Unbekannten. Sie ermutigt mich an diesem Tag. Und ich finde neue Hoffnung. Wie von Gott geschickt, erscheint sie mir heute. Weitermachen. Das nehme ich von ihr mit. Von Zelt zu Zelt gehen wir, laufen manche Strecke doppelt. Wie viele Kilometer ich heute schon gelaufen bin, weiß ich nicht. Das kann ich erst ein paar Tage später erahnen, als sich meine Beine anfühlen wie geschmolzenes Wachs. Man läuft jeden Tag viele Kilometer durch den Staub und Wind. Gestern war es, als würde man gegen Wasser anlaufen und als ich an der Küste entlangging, wurde ich fast auf die Straße gedrückt, aber dazu nachher mehr. Tina und ich sollen Daten erheben über die ethnische Zugehörigkeit der Campbewohner.
Von Deutschland weiß ich, dass gemischte Flüchtlingsheime die ethnischen Grenzen sowie Nationalitäten nicht berücksichtigen, in große, manchmal gewaltsame Auseinandersetzungen führen. Es ist eine Romantik, das friedliche Miteinanderleben, wie es manche Menschen träumen, ja politisch sogar fordern und dabei blind sind, für religiöse und andere Unterschiede, die eben immer den ganzen Menschen betreffen, sein Weltbild, Denken und Handeln; was immer auch zu Meinungsverschiedenheiten und damit potenziell Konflikten führen kann. Uns muss klar sein; das demokratische Miteinander, von dem wir träumen, ja ich würde sogar behaupten, Zu Recht träumen, ist dennoch das Ergebnis einer religiösen und politischen, säkularen genauso wie sakralen Entwicklung, die viele Menschen auf der Welt außerhalb Deutschlands so nicht durchlaufen haben. Wo also der gemeinsame Nenner? Im Camp, ja in den Camps in Deutschland habe ich gelernt, diesen Nenner gibt es am Anfang noch nicht. Da scheint es ratsam, manche Unterschiede zu akzeptieren und Trennungen vorzunehmen, um Menschen nicht über die Maßen herauszufordern in der Geschwindigkeit des von uns geforderten Anpassungsprozesses. Also Trennung im Camp. Um das gemeinsame Miteinander im Frieden zu bewahren. Aber vielleicht irre ich mich auch – es ist meine persönliche Einschätzung.
Zuhause
Als wir uns schon aufmachen wollen, um unsere Ergebnisse abzuliefern, zeigt der Mann mit einer sanften Geste zum Inneren des Zeltes hin. „Tschai?“ „Tee?“ Ich zögere. Schaue Tina fragend an. „Tschai?“ „O yes, oh ja!“ sagt sie mit einem hellen Lachen. Schon ziehen wir die Schuhe aus – ich meine hochgeschnürten Wanderstiefel, die unter der dichten Staubschicht aussehen, als würde ich den Tag über nichts machen, als Marmor schleifen und sägen. Es war eine gute Entscheidung, bei meinem letzten Schuhkauf auf die Technologie einer wasserdicht-machenden Membran zu verzichten und auf traditionelles Schuhmacherwerk zu vertrauen. Meine Schuhe sind komplett aus Leder und stinken… einfach… gar nicht.
Ich bin überrascht. Meinen ersten Schuh ziehe ich vorsichtig aus, noch froh, dass es so zugig ist. So zugig, dass alle eventuellen Gerüche wohl schnell mitgezogen worden wären. Aber nein. Nichts. Der zweite Schuh steht schneller am Eingang und ich darf hineintreten in das große Unbekannte, was ich bisher immer nur schemenhaft durch Schatten, Gesichter, Gestalten, Spalten und Ritzen hindurch sehen konnte. Nichts. Hier nun aber. Sehr viel. Und vor allem. Warm. Das Rauschen des Windes verblasst für einen Moment. Obwohl er nicht leiser geworden ist. Gedämpfter vielleicht. Dennoch rüttelt und schüttelt es. Irgendwo da draußen. Die Planen heben und senken sich friedlich. Sicherheit. Der Boden ist weich, wie das gepolsterte Nest einer gebärenden Vogelfamilie. Samtig. Ich weiß nicht, wie sie den Boden so weich hinbekommen haben.
Ich spüre Wärme. Wärme. Ja, Wärme. Zuhause. Ja, wirklich Zuhause. So fühle ich mich. Ich fühle mich wie zu Hause. Das ganze drum rum für einen kurzen Augenblick vergessen. Geht es meinen Gastgebern auch so? Oder ist es nur für mich so, der ich den ganzen Tag durch das Wetter da draußen marschiere und hier nun einen Augenblick Pause habe. Bin es nur ich, der so denkt? Fühlt? Meine Kollegin sitzt neben mir. Strahlt. Nimmt die Datteln an. „Sie halten uns bei dem Wetter warm. Die Datteln und anderes Süßgebäck. Der Tee“, erklären unsere Gastgeber wie selbstverständlich und mit einem großen friedlichem, freundlichen, ja ich würde sogar sagen, glücklichen, zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht. Das habe ich hier noch nicht gesehen. Im Camp. Der Mann ist von souveräner Besonnenheit. Ein Mann. Ein echter Mann.
Denke ich mir. Der in all dem Chaos die Würde und Sicherheit bewahrt, die seine Frau hier sicherlich, ja seine Kinder, umso mehr brauchen. Ich staune still. Voller Respekt. Er wird mir zum Vorbild. Ob er sich immer so fühlt, wie er auf mich wirkt. Letztlich spielt das keine Rolle für mich. Jetzt. Er ist mir zum Vorbild geworden und ich durfte, darf, von ihm lernen. Dankbarkeit erfüllt mich. Dankbarkeit darüber, dass ich an diesem Ort sein darf. An diesem Ort, diesem Lager, hier bei den Menschen, wo jeder Menschen zuallerst einmal einfach ganz Mensch, er selbst ist. Wer an einem solchen Ort lebt, wo so viele Dinge an einem zehren, bleibt keine Kraft, um sich und anderen Menschen etwas vorzumachen, oder Masken aufzusetzen, vermute ich. Das stimmt nicht ganz, auch hier gibt es Facetten des Menschen, die mir verborgen bleiben werden. Aber das ist auch gut so. Selbst das unprivateste Leben kann den Menschen nicht der Privatheit seiner Gedanken und Gefühle berauben. Seines Glaubens. Seines Lebens.
Ich bin begeistert darüber, wie gut wir uns verstehen können, obwohl wir keine gemeinsame Sprache sprechen. Nein. Es ist die Google-Übersetzungs-App, über die wir auf dem Smartphone unsere Gespräche führen. Echt smart. Wir sprechen unseren Satz in das Gerät, die App übersetzt das Gesagte grammatikalisch und inhaltlich weitgehend korrekt, liest es laut vor und gibt es auch als Text schriftlich aus. Gigantisch. Wir können uns fast normal unterhalten. Der Tee ist noch nicht fertig, da muss meine Kollegin plötzlich aufbrechen. Feierabend. Ich bleibe noch ein Weilchen und genieße. Ich werde nach meiner Familie gefragt, meiner Heimat. In einer Ecke stehen Barbies, wie ich sie von meiner Schwester kenne. Kindlich stolz präsentiert wie an Weihnachten unter dem Weihnachtsbaum. Es gesellt sich die kleine Tochter meiner Gastgeber dazu. Geht wieder. Der Tee ist warm. Meine po vergraben sich tief in dem weichen Boden. Ich schlürfe schnell. Bald muss auch ich weiter. Will ich weiter. Halte den Autoschlüssel hoch und erkläre, dass ich die anderen nach Schichtende nach Hause fahren muss. Verständnisvolles Nicken.
Als ich das Zelt verlasse, fühle ich mich verändert. Bewegt. Berührt. Ich weiß gar nicht, warum. Mir fehlen ausnahmsweise mal die Worte. Und finde sie auch hier nicht. Man muss dort gewesen sein. Bei den Menschen. In ihrem Leben. Ein großes Geheimnis, das man nur dann durchdringt, wenn man selbst Teil dieses Geheimnisses geworden ist. Wie genial, dass Jesus zu uns Menschen gekommen ist und auch heute kommt. Er uns in unseren Zelten besucht, an den Orten, wo wir leben und wohin wir uns zurückziehen, um dort mit uns zu sein. Warm und klar. Unbeschreiblich. Einfach gut. Und wie viel gewaltiger, dass er uns einlädt, mit ihm in seinem Zelt zu sein. Wie schon Mose in der Stiftshütte Israels weilen durfte. So lädt auch Jesus seine Jünger an seinen Tisch ein. Vor 2000 Jahren. Und heute. Zuhause. Wie genial.
Rubb Hall – Männerknast?
Es ist der 5. November und nur eine Sache möchte ich von heute berichten. Der Besuch im “Rubb Hall”. Das sind gewaltige Zelte. Ich weiß nicht, wie lang sie sind. Mein Bauch sagt: “50 Meter lang, 20 Meter breit.” Aber zumindest bei der Breite liege ich sicherlich daneben. Wahrscheinlich sind es nur zehn Meter. Die Länge könnte hinkommen. Wir sollen dort etwas verkündigen, informieren. Nur Männer dürfen dorthin, wenn ich das richtig verstanden habe. Ich gehe mit einem Kollegen und einem Übersetzer. Viel sagen mein Kollege und ich dann aber gar nicht. Ich sage, genauer genommen, sogar gar nichts, sondern schaue zu und lerne, um es dann vielleicht einmal selber so oder so ähnlich zu machen. Die Zeltplane geht auf und ich schaue in die Tiefe des Zeltes. Über die gesamte Länge gibt es keine Trennwände. Links, rechts und mittig. Überall stehen lange, die gesamte Länge des Zeltes durchziehende Doppelstockbett-Reihen. 100 bis 150 Männer, schlafen hier, schätze ich. In einem großen Raum. Die Privatsphäre so groß wie der Grundriss der Matratze. Das sind die Männer, die ihre Klamotten zum Trocknen über den Stacheldrahtzaun legen und sich an den Wasserstellen bis auf die Unterhose ausziehen, um sich nach und nach zu waschen.
Ohne es zu wollen und mit dem Wissen, dass in dem Lager viele Freiwillige arbeiten, um das Beste der Campbewohner zu suchen… Mit dem Wissen, dass auch in den Regierungen viele Menschen sitzen, die das Beste der Menschen hier suchen, so denke ich doch gleichzeitig…. Erinnere ich mich, ohne mich erinnern zu wollen, schreibe ich dies, ohne es schreiben zu wollen und wissentlich, dass dies dramatisch ist und brisant, dass mich dieses Bild an das eine Bild erinnert, das ich nicht mehr vergessen konnte… Das Bild tritt vor mein inneres Auge. Menschen, die in aneinandergereihten Doppelstockbetten, dicht nebeneinander, in Holzhütten verkümmern. In Lagern, wie es sie in Deutschland einmal gab. Sicherlich ist es hier ganz anders. Und dennoch, ohne es zu wollen, hat das, was ich hier sehe, die Erinnerung daran geweckt. An den Besuch dieses Ortes in den Vogesen, wo ich mit der Schulklasse einmal war. Da draußen.
Es erinnert mich auch an die Dokumentation eines südamerikanischen Gefängnisses mit Großraumzellen, in denen vielleicht hunderte Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht leben mussten. Verbrecher. Kriminelle. Das sind keine Kriminellen hier, gleichwohl aber Menschen. Das ist kein KZ, sondern ein Camp, das Menschen aufnimmt, die ein lebenswertes Leben suchten. Suchten? Immernoch suchen. Vielleicht immer noch suchen. Hoffnung. Hoffnung? Es berührt mich, dass die Männer hier friedlich wirken. Kein Streit. Kein Konflikt. Auch wenn das vielleicht nicht immer so ist, so ist es doch jetzt gerade so. Bei jedem der großen Zelte, die wir aufsuchen. Und in denen sich dann immer der Dolmetscher am Eingang hinstellt und verkündet, was er zu verkünden hat. Einmal gehen wir etwas hinein, in das Dickicht. Und ich fühle mich unwohl. Merke, dass ich mich ein bisschen breiter mache, als ich mich machen will. Lächerlich. Aber eben auch eines: menschlich. 100 bis 150 Menschen schauen uns an. Erwartungsvoll. Neugierig. Kritisch. Eine abfällige Bewegung. Da wieder ein Lächeln. Es heißt, man könne auch bespuckt werden, hieß es bei der Einführung in die Arbeit – man werde nicht von allen geliebt.
Tatsächlich ist es hauptsächlich Liebe, die mir in dem Camp begegnet. Schönheit in all der Misere. Ich bin berührt. Bespuckt wurde ich nie. Hier wird klar, was der Mensch nicht ist, aber zu was er geboren ist. Liebe. Leben. Schönheit. Kreativität. Musik. Und Kunst. Kultur. Freundschaft. Miteinander. Frieden. Vergebung. Versöhnung. Allgemein dort, wo diese Dinge fehlen oder im Verschwinden begriffen sind, sich behaupten müssen, da wird uns klar, erinnern wir uns, wird etwas zutiefst in unseren Herzen Verankertes und Innewohnendes angerührt: Das Wissen, nein, der Glaube, dass wir für etwas anderes geboren wurden, für etwas anderes geboren sind, als für das, was mir hier täglich begegnet. Wir hatten eine gute Nachricht für die Männer.
Aber was, wenn es keine gute Nachricht gewesen wäre? Manche der Männer haben sich Zelte in die Bettfläche gestellt oder haben ihre Betten mit Tüchern abgehängt. Unter der Zeltdecke des Hauptzeltes baumeln an Drähten und Seilen, Kleidungsstücke. In einem der Großzelte für die alleinstehenden Männer gibt es keine Betten. Hier hat jeder Mann ein eigenes Kleinzelt. Als unser Dolmetscher “Salam” in die verschlafene Leere ruft, taucht eins nach dem anderen ein Kopf auf und hebt sich aus den Zelten herauf. Wie Erdmännchen aus ihren Erdhölen. Und der Humor meines Herzens gluckst. Aber natürlich ist das hier keine romantisierende Tierdokumentation von Disney, auch wenn es mich daran erinnert. Der Boden ist aus Beton und nicht afrikanische Savanne. (Nachtrag: Mittlerweile werden Wände und Zimmer in die Rubb Halls eingezogen, womit Sie nicht mehr an Großraumgefängnisse oder Schlimmeres erinnern. Man muss bedenken, dass das neue Camp Kara Tepe II innerhalb kürzester Zeit aufgerichtet wurde und nun nach und nach Verbesserungen vorgenommen werden.)
Ruine
Wir fahren am alten Camp vorbei. Moria. Gespenstisch. Verkohlte Baumstümpfe ragen wie Nadeln in den Himmel. Stacheldrahtzaun. Man sieht, wo früher die Zelte standen. Das alte Militärgelände. Ein einzelner patrouillierender Polizist. “Es sieht wie ein Gefängnis aus.”, denke ich laut. “Das war es auch ursprünglich”, sagt der Fahrer des Vans “ Wir sind auf dem Weg in ein Lager für Hilfsgüter, die von überall herkommen. Unsere Aufgabe für den Tag: Zelte vom Roten Kreuz ordentlich zusammenlegen, nachdem sie im Camp beim Abbau nur sporadisch zusammengepackt wurden. Wir fangen zu zweit an und plagen uns ein wenig. Es wird erfolgreich, als Verstärkung anrückt und glücklich sitzen wir am Abend vor einem großen Berg zusammengerollter Zelte für humanitäre Notsituationen.
Als wir am Abend zum Camp zurückfahren, bin ich erleichtert – ohne, dass ich das zugeben wollte – dass ich den Tag über nicht dort sein musste. Der Wind drückt mich fast auf die Straße. Kommt er mir entgegen, laufe ich wie durch einen norwegischen Fluss voll strömendem Gletscherwasser. Manche Zelte müssen stabilisiert werden. Jetzt wird klar, warum wir in den vorherigen Tagen damit beschäftigt waren, die Zelte aus der vordersten Uferreihe abzubauen. Und ich frage mich, ob nun auch die Familien, die sich zunächst geweigert hatten, jetzt ganz schnell ihre Sachen packen. In der Abschlussbesprechung werden die neuen Arbeitsbedingungen unter dem jetzt anstehenden dreiwöchigen Lockdown verkündet. Wir laufen zum Lidl, wo wir von einem Kollegen aufgegabelt und nach Hause gefahren werden sollen. Dort gehen ein paar von uns noch einkaufen. Wir warten dann im Van, bis sie fertig sind. Es läuft Country-Musik, Rock- und Popsongs, “Of Monsters and Men”. Es erinnert mich an früher.
Draußen spielen und üben sich eher Kinder als Jugendliche in Kampfsporttechniken und Tritttechniken auf dem immer dunkler werdenden, und nun von Straßenlaternen kadmiumgelb ausgeleuchteten Parkplatz. Ein Lidlbesucher fährt mit dem Auto an, eher eine Nussschale, als ein Auto und parkt so ein, dass er vier Stellplätze blockiert. Wir lachen. An einer Mauer sitzen Afrikaner. Vielleicht, um Schutz vor dem Wind zu suchen? Ich weiß es nicht. Die Kinder. Die Musik. Das Leid. Unser Van wird zum Spielobjekt und ordentlich durchgeschüttelt. Sie wippen hinten auf der Trittfläche. Ich bleibe sitzen. Entspannt. Und schmunzle. Die Glasscheibe trennt mich von der Umwelt. Schützend. Und irgendwie tut das gerade gut. Es ist so, ob es gut so ist, weiß ich nicht. Aber gerade tut es gut. Der Schutz. Die Glasscheibe. Stille im Auto. Musik. Ruhe. Feierabend. Ich weiß nicht, ob es wahr ist, was ich da draußen sehe. Den ganzen Tag. Gerade komme ich mir vor wie in einem schlechten Film. Tragisch. Diese Realität. Überall. Ich weiß nicht, ob es die Realität ist, weil ich tief in meinem Herzen weiß, dass dies nicht die Realität sein sollte.
Der Wind pustet. “Merkst du das beim Fahren?” Frage ich. “Nein” sagt mein Kollege. Eine andere Kollegin lädt zum Abend in ihre WG ein. Baleys, Nachos und einfach ein schöner Abend. Letzte Chance vorm Lockdown. Ein ander Mal, sage ich dankend und verabschiede mich. Zuhause ist es ruhig, als ich die Türe hinter mir ins Schloss fallen lasse. Ich schalte das Licht an. Auch das Türlicht draußen, damit jeder sieht, jemand ist hier. In dieser romantischen Dunkelheit der ländlichen Idylle. Der Wind klopft an der Türe. Stille. Meine Mitbewohner wurden bei Freunden zum Essen eingeladen. Zuhause. Ich mache das Licht vor der Türe wieder aus. In meinem Herzen wirkt die Gischt nach, die der Wind mir am Uferweg ins Gesicht gepustet hat. Sie macht mich nass von der Seite, drückt auf die Kapuze. Ich schaue zum Meer. Die Wellen tänzeln im Hafenbecken. Rau ist das Wetter. Natürlich. Normal. So wie an der Nordsee, wo ich zur Ruhe gekommen war, auf Wangerooge. Wenn ich einfach da war. Teil dessen geworden bin, was Gott in seiner unerschöpflichen Liebe geschaffen hat.
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