Die ersten Tage im Flüchtlingscamp auf Lesbos sind für unseren Autor Valentin von vielen neuen Eindrücken geprägt. Durch das neue Land, die vielen unbekannten Menschen sowie die ungewohnte Situation fühlt er sich oft selbst als Flüchtling.
Hier geht es zu den weiteren Teilen der Reihe:
Teil I: https://www.firstlife.de/die-ersten-tage-auf-lesbos-teil-i/
Teil III: https://www.firstlife.de/bethel-haus-gottes-auf-lesbos-teil-iii/
Teil IV: https://www.firstlife.de/nichts-ist-normal-im-alltag-auf-lesbos-teil-4/
Die Stimmen hallen durch den großräumigen Bau, der mit Teppichen ausgelegt ein Ort der Begegnung und des Gebets geworden ist. Ich sitze hinter einem Teppich, der den Vorraum vom Hauptraum trennt. Nachmittags schreibe ich hier an einem Holztisch diese Dokumentation. Es ist nicht mein Arbeitsplatz; ich bin zu Besuch bei einer anderen Nicht-Regierungs-Organisation. Schemen schwimmen durch die kunstvoll eingearbeitete Spitze. „Hello.“ Ein Mann tritt hervor. Er verschwindet auf der Toilette, lächelt mir freundlich zu. Ich bin willkommen.
Neben mir steht der frisch gepresste Orangensaft aus dem Lidl. Genau wie im Schwarzwald. Nur, dass einen die Verkäufer hier mit Griechisch begrüßen und verabschieden und schweres Sicherheitspersonal durch die Reihen patrouilliert. Sicherheit wird groß geschrieben. Es war mein erster Tag im Camp – wohlgemerkt nicht der erste Arbeitstag. Es begann mit einer Führung bzw. noch früher damit, dass ich von einer Kollegin aufgegabelt und mit zum neuen Camp gefahren wurde. Auf dem Weg dorthin treffen wir eine weitere neue Freiwillige. Begrüßen und Verabschieden gehört zur Arbeit hier dazu. Jede Woche kommen Neue, gehen Alte. Wer wiederkommt und schon da war, hat nicht selten alte Bilder im Kopf, findet aber etwas ganz Neues vor. Alles ist hier im Fluss, wie das Meer drum rum.
Erzählender Boden
Ich gewinne die Frau, die uns durch das Camp führt, schnell lieb. Sie erinnert mich an meine Mutter. Ihr modisches Auftreten lässt nicht erwarten, dass sie in einem der humanitären Epizentren Europas mit anpackt. Ihre Ruhe und Souveränität tun gut an diesem ersten Tag. Oft schaue ich auf den Boden, weil es mir hilft, nicht zu viel zu sehen. Denn ich sehe so viele Menschen. Männer, Frauen und vor allem Kinder, die allein oder zu zweit, aber immer irgendwie allein wirkend in dieser surrealen Menge, an diesem kinderfernen Ort, zwischen erwachsenen Beinen herumtollen, einander an die Hand nehmen, von ihren Eltern an die Hand genommen werden.
Man übersieht sie fast, obwohl man sie immer vor Augen hat. In ihren eigenen Welten in dieser ganz eigenen Welt spielen sie in den dreckigen Pfützen und freuen sich wie über ein Planschbecken, sitzen sie grinsend auf Sandsäcken, die vor den regnerischen Wassermassen vonseiten des Meeres und Himmels abschotten sollen. Die Kinder. Hier an diesem Ort. Der Boden ist der gleiche wie in den deutschen Lagern. Festgestampft von tausenden Menschen, die täglich über diese Orte ziehen, mit Plastiktüten und Kinderwägen vollgestopft mit Last und Liebe.
Der Boden ist verdichtet, wie von einem Presslufthammer, wie von Elefantenfüßen. Nur, dass wir hier Menschen sind. Der Boden ist wie ein Mosaik, bestehend aus dem Abfall, Schmutz, Naturstoffen und Anschüttungen der Bauherren und Menschen, die hier leben. Knochenreste, Schutt, Rasierklingen, Plastikflaschenverschlüsse – und noch vieles mehr. Es ist wie in Deutschland. Ein erzählender Boden. Wir betreten das Camp und gehen an der Schlange einfach vorbei. Jeder, der das Camp betritt oder es verlässt, wird auf Fieber und Waffen kontrolliert. Am Eingang des Lagers tummeln sich viele Zelte von NGOs und anderen Akteuren, die den Menschen zu Würde verhelfen. Ich fühle mich wie in einem neuen Kosmos. Wir laufen am Quarantäne-Bereich vorbei. Unter dem alten Zaun zum Quarantäne-Bereich konnten Kinder hindurchkriechen. Hier geht das nicht mehr. Viele der Zelte dieses Spezialsektors stehen leer. Allgemein wirkt der Ort recht einsam. Oft wird bemerkt, Corona sei hier so oder so überall. Es ist davon auszugehen, dass jeder hier Corona bekommt – sagen manche. Ob das stimmt? Ich bezweifle es.
Ich bin hier. Und das ist richtig. Inmitten des abgeschotteten Bereichs ist eine Konstruktion aus Stahlbeton oder anderen Elementen, ich kann nicht sehen, was genau es ist. Was ich sehe, ist ein Mann, der dort oben steht wie eine Gallionsfigur. In den Himmel ragt er, über den Köpfen, weit über den Köpfen steht er. Es scheint ihm egal zu sein, dass jetzt jeder weiß, dass er Corona hat. Er steht dort den ganzen Vormittag. Als ich komme, steht er dort. Und als ich gehe, das Camp verlasse, steht er dort. Und er lässt seinen Blick in die Ferne schweifen, über die Menschen, Köpfe und Passanten hinwegblickend, zum Horizont des Meeres, das direkt an das Lager schwappt. Im Sommer ist das toll, die Menschen können schwimmen gehen. Auch heute gehen viele noch mit Klamotten oder auch so ins Wasser, weil es noch immer keine Duschen gibt.
Manchen Mann sieht man in Shorts an den Wasserstellen stehen und sich mit dem Leitungswasser waschen. Jede Körperregion wird nach und nach abgespült. Es dauert und entblößt einen vor den Anderen hier, aber man wird sauber. Viele andere Zelte, vor allem bei den Familien, säumen Planenblöcke, und ich frage mich erst, was das ist. „Einige Menschen bauen sich eigene Duschen.“, wird dann erzählt.
Ich bin begeistert. Nicht nur bei den Duschen, sondern auch bei anderen Haushaltsgegenständen, die nicht im Repertoire der Erstausstattung vorgesehen sind, verlassen sich die Bewohner der Camps auf ihre eigene Kreativität. Traditionelle Kochstellen werden aus dem Boden gestampft. Das Gesicht einer kochenden Afghanin wirkt fast wie zu Hause. Frieden. Scheint es. Die Gedanken sind für Momente ganz bei dem köchelnden Gericht. Den Blasen, die das Sieden wirft. Bei den Gewürzen und Zutaten. Beim Rühren und Rauch. Schneiden von Fleisch, Einlegen von Reis. Koriander. Zimt, Salbei, Petersilie. Egal, welche Gewürze, sie steigen auf, in die Nase, und damit in die Erinnerung. Alles ist vergessen. Es blubbert und bald gibt es essen.
Bud Spencer im Flüchtlingscamp
Dann poltert es ohrenbetäubend. Und nocheinmal und immer wieder. Und nocheinmal. Und nocheinmal. Und nocheinmal. Gerade kommt die Müllabfuhr vorbei und schüttelt den Müllcontainer, wie Bud Spencer einen seiner Unterlegenen. Die Trommel des Lastwagens ächzt und quietscht und stinkt und presst und rüttelt und schüttelt. Und die Kinder schauen zu und sind begeistert. An anderer Stelle stehen sie in Reih und Glied. Jedes mit einem kleinen Säckchen voll alter Flaschen, leer und irgendwo gefunden in den Ritzen und Spalten, Wegen und Abwasserkanälen, Büschen und Ecken des Camps. Sie können das Leergut eintauschen und bekommen so eine Aufgabe und ein kleines Geschenk. Meine Gedanken schweifen zu Kinderarbeit, aber ich weiß, dass das nicht stimmt, denn es steckt mehr dahinter.
Ich verstehe noch wenig von all dem, was ich erlebe und sehe. Es ist mein erster Tag. Wie ein Raumschiff bin ich, dass sich durch den weiten Sternenhimmel, das Weltall, mit all seinen Galaxien und Welten, Eigentümlichkeiten und Kuriositäten manövriert. Das Überforderungsniveau ist vergleichbar mit einem Dorfkind, welches zum ersten Mal in seinem Leben eine Großstadt besucht und zwar durch das Tor eines Jahrmarktes voller Rummelbuden, Zuckerwatte und Karussells. Aber natürlich ist das hier kein Jahrmarkt. Trotzdem funkt es in meinen Synapsen.
„The Djungle“, „Der Urwald“ wie das alte, ursprünglich illegale Zeltlager in Moria geheißen hatte, das sich um den legalen Kern in der Militärzone herum gebildet hatte, hatte keine Wege oder Schotterpisten – nicht wie hier. Es war nicht einsehbar. Stattdessen versteckte es sich hinter Ästen und Blätterwerk herabhängender Olivenbäume. Hier konnte alles geschehen und es geschah auch vieles dort, sagt jemand. Einmal täglich eine Messerstecherei. Evakuierungen. Vergewaltigungen.
Wenig Schutz für die Schutzlosen. Zumindest weniger als im neuen Lager, wo breite Wege durch das Camp reichen – kontrolliert von zahlreicher Polizeipräsenz. Meine Chefin erklärt erläutert gerade die Kommunikation im Camp. Wenig später bauscht sich plötzlich eine Menschenmenge in Steinwurf-Weite entfernt auf. Prügeln sich Menschen? Ein Gerangel. Nein. Männer versuchen, fleischende, beißende, kämpfende Hunde, große Hunde, auseinanderzureißen. Es gelingt. Dann wieder nicht. Ein Hundekampf? Ich weiß es nicht. Ja, aber sicherlich kein gewollter. Irgendwann lassen die Hunde ab. Die Polizei fährt weiter.
An einer Stelle reichen gewaltige urzeitmäßige Bäumen in den Himmel und wirken wie aus einer anderen Welt. Sie erinnern mich an die Platanen, oder waren es Kastanien, jedenfalls riesengroße Bäume aus dem zentralen Stadtpark meiner Heimatstadt. Auch hier stehen sie zentral. Auch hier wirken sie monumental. Irgendwie Frieden stiftend, nicht nur Schatten spendend. Bäume. Wachstum. Leben. Das gibt es auch hier. Liebe. Liebevolle Gesten. Ein Kind rennt meiner Kollegin begeistert entgegen, hebt die Hände voll inniger Freude und blanker Zähne. Wendet sich auch mir zu. Am Ende zählt die Liebe, oder nicht?
Lactosefrei zu Hause
Im Lidl atme ich auf. Alles ist wie zu Hause. War ich da nicht schon mit meiner Erzählung? Ja. Aber ich muss es nochmal sagen. Zum ersten Mal in meinem Leben verstehe ich die Türken in meiner Heimatstadt, genauso wie die Syrer, mit denen ich zusammengelebt habe oder die Gambier, für die gleiches gilt. Ich verstehe, warum sie viele Kilometer auf sich nehmen, um in einem Laden mit Originalprodukten ihrer Heimat einzukaufen. Es sind nicht nur Produkte ihrer Heimat. Es ist ein Stück Heimat. Nicht nur im Herzen und Magen, sondern in der Hand. Das fühlt sich super an. Ich esse abends den gleichen Käse wie in meiner Studentenbude. Mit deutschem Label und von Natur aus lactosefrei.
Abends sitzen wir erschöpft in der Wohnung, die wir am Morgen noch fluchtartig verlassen hatten. Und obwohl ich weiß, ich bin im Camp richtig, ist es doch nicht falsch, all das für jetzt loszulassen. Manchmal muss man Schönes, Gutes, Geliebtes loslassen. Und gewiss immer, wie gut zu wissen, dürfen wir auch das Schwere loslassen. In Gottes Hand. Amen. Morgen ist ein neuer Tag.
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