An Valentins erstem Arbeitstag heißt es: Zelte auf- und abbauen und das Camp winterfest machen. Die schwere körperliche Arbeit kann jedoch nicht über die Emotionen hinwegtäuschen. Ein Einblick in das Flüchtlingscamp auf der griechischen Insel Lesbos.
Hier geht es zu den weiteren Teilen der Reihe:
Teil I: https://www.firstlife.de/die-ersten-tage-auf-lesbos-teil-i/
Teil II: https://www.firstlife.de/selbst-ein-fluechtling-auf-lesbos-teil-ii/
Teil IV: https://www.firstlife.de/nichts-ist-normal-im-alltag-auf-lesbos-teil-4/
Zeltzeit
Der Motor heult auf. Der erste Arbeitstag. In Pamphile steigen weitere Kollegen dazu. Die Türe muss zugehalten werden, sonst würde sie während der Fahrt aufgehen. Wir durchqueren die Sicherheitsschleuse und betreten das Camp. Am Treffpunkt trudeln nach und nach die Mitarbeiter der Schicht ein.
Nach einem kurzen Meeting und Briefing werden die ersten Aufgaben verteilt. Ich soll mit einer Gruppe am hinteren, strandseitigen Campabschnitt ein Zelt vom Deutschen Roten Kreuz abbauen. Allerdings stelle ich fest, dass ich aufs Klo muss – die Morgentoilette ruft –, obwohl ich zuhause bereits zwei Mal war – immer das Gleiche… Ich entscheide mich dazu, erst zur Toilette zu gehen, weil es noch weniger Sinn macht, erst die lange Strecke zur Arbeit am Ufer zu laufen, nur um dann kurze Zeit später festzustellen, dass ich es nicht mehr aushalte und die doppelte Distanz Richtung Haupteingang zurücklaufen muss. Das würde dann ca. 20 bis 30 Minuten nur für einen Toilettenbesuch machen. Auch so dauert es noch lange genug, bis ich endlich die Ärmel hochkremple und eine der Hacken greife, um schweren Schutt und Erdreich von den Zeltlappen zu schaufeln, die an den Seiten der Zelte herunterhängen und Verlängerungen der Wände darstellen, damit im Falle eines Regens nicht sofort das ganze Zelt unter Wasser steht. Europaletten sind Luxusgut, weil man mit ihnen einen doppelten Boden in die Zelte einziehen kann, der vor der kriechenden Feuchtigkeit und Regen schützt.
Erst müssen die Heringe raus. Heringe – klingt nach Konservenbüchse, Ölmarinade und Urlaubsromantik. Ein anderes Kaliber jedoch, was ich hier in die Hände bekomme. Massiv, lang und tief ins Erdreich gehämmert. Einer steckt so fest in dem festgestampften Klumpen-Boden, dass ich ihn nur mit einer Hake und Hebelwirkung aus dem Boden bekomme. Siegreich halte ich ihn fest. Not macht erfinderisch und meine Kollegin kommentiert: „Dank der Physik.“ War doch nicht alles vergeblich, was man im Schulunterricht gelernt hat. Die Zelte sind von guter Qualität. Die Gestänge sind fest und dick, und die Kunstfaserplanen dick und schwer. Beim Zusammenlegen der Plane entstehen Missverständnisse. Ein afghanischer Nachbar, der den Abbau mitverfolgt, kommt zur Hilfe und hat die Strategie des Gruppenleiters durchschaut.
Es läuft wie in der Zelt-Zeit meines Studiums, wo zwei Mal jährlich gewaltige Zelte für Missions-Veranstaltungen auf- und wieder abgebaut werden. Die riesigen Zelte, die es bis zum Herbst 2019 gab, bestanden aus einzelnen, quadratischen Planen-Segmenten von vielen Metern Länge, die über hochragende und in den Boden genagelte Metallsäulen getragen wurden – wie bei einem Zirkuszelt mit vielen Kuppeln. Beim Zusammenlegen dieser Planen packt auf jeder Seite ein Mann zu. Dann rennt man entlang der Seiten, um die Plane zusammenzulegen und um eine schöne Faltung zu bekommen. Schwer zu beschreiben. Und so schwer, dass am Ende der Gabelstapler anfährt, um die Säcke aufzunehmen. Wie ein Handtuch zusammenlegen, ist das Falten dieser Planen; nur nicht mit zwei Händen, sondern mit zwei Männern. Die gleiche Technik wenden wir hier in „Kara Tepe II“, dem Lager auf Lesbos an – ich fühle mich zu Hause. Geschafft. Als wir losfahren, sackt das Auto ruckhaft ab. Die Regenwassergräben ziehen sich alle paar Meter quer zum Uferbereich hinein ins ägäische Meer. Wumps. Und wieder sackt das Auto ab. Die Gräben schützen das Zeltlager vorm Absaufen, wenn es wie aus Kübeln regnet. Dafür muss jetzt das Auto leiden. Ich frage mich, wie oft die Stoßdämpfer und Federn den Kasten wieder auf die Beine heben. Wumps. Ein letztes Mal. Wir zurren die Zelt-Pakete abschließend zusammen und verstauen sie nebenan in einem Lagerzelt.
Schweißtreibend
Den ganzen Tag laufe ich viele Kilometer durch das Camp und fahre mit dem verbeulten VW-Bus über holprige, steinige und teils enge Pisten – begrenzt von tief ausgeschaufelten Regenwassergräben. Immer auf der Hut, denn Kinder spielen überall. Gefährlich. Einmal setzt ein riesiger Tanklaster zurück, hinter dem Kinder spielen. Wilde Stimmen ertönen durcheinander. Ein Polizist kommt herbeigeeilt, teilt aufgeregte Worte mit dem Fahrer des Schwertransporters. Dann gibt er ihm eine Eskorte und verscheucht die Kinder, winkt dem Fahrer und leitet ihn rückwärts zu der Wasserstelle, wo er vermutlich einen gewaltigen Wassertank auffüllen soll. Alles gut gegangen. Die Schweißperlen rinnen dem Polizisten über das Gesicht, könnte man schreiben.
Ob er wirklich geschwitzt hat, weiß ich nicht. Zu weit weg. Spannung. Verantwortung. Ich transportiere und helfe bei Umzügen, gebe der Kofferaum-Türe einen sanften Tritt unter das Schlüsselloch. Noch einmal. Endlich ist die Türe offen. Nein, doch nicht. Nocheinmal. Aaa, jetzt. Rumms. Getrockneter Schlamm und Staub hängt an eben jener Stelle, weil unzählige Tritte zuvor die Kofferraumtüre nur so aufbekommen haben. Man lernt, sich zu helfen. Ich packe mit an und hebe Töpfe, Säcke, Wassercontainer, Küchenutensilien und allerlei anderes Gerümpel ins Auto und wieder hinaus. Immer eilen helfende Hände aus dem Nichts zur Hilfe wie herumschwirrende Drohnen. Ich sehe gar nicht jedes dazugehörige Gesicht. Viele Kinder sind zur Stelle und sagen jedes Mal brav „Thank you“, wenn man ihnen wieder etwas in die Hand gedrückt hat, was zumindest kurz ihnen zu gehören scheint.
Augen voll Respekt
Eine Familie will nicht umziehen. Dabei ist es der gleiche Grund, wie bei den anderen in der ersten Zeltreihe am Ufer. Man will die Zelte dort wegschaffen, weil der Winter kommt. Und mit ihm das Wasser. Von oben, von unten. Und vielleicht von Seiten des Meeres. Letztes Jahr gab es heftige Stürme, mehrere Tage mit hohen Windstärken. Wenn die das Wasser auf die Küste pressen, dann… will ich nicht in diesen Zelten schlafen, die gerade noch den Eindruck erwecken, als gehörten sie zu den eher exklusiveren der Stellplätze.
Uferplatz, Blick aufs Meer, Ruhe. In Deutschland dürfte es kein Kind mit größerem Pool im Vorhof der Wohnung geben, könnte man zynisch meinen. Alles Verhandeln hilft nichts. Und ich verstehe die Familie bzw. Familien auch. Sie wollen nicht getrennt werden. Die weißen Zelte des Roten Kreuzes sind oft zweigeteilt. Auf jeder Seite wohnt eine Familieneinheit. Kommen mehrere miteinander verwandte Familien an, wird natürlich versucht, sie möglichst nah beieinander einzuquartieren. Kommt dann der Umzug, kann das nicht immer gewährleistet werden, was zu Widerstand führt. Dabei scheint die Trennung in diesem Fall verhältnismäßig gering auszufallen. Ihnen werden zwei nebeneinanderstehende Zelteinheiten angeboten. Vergeblich. Wie groß muss der Verlust dieser Menschen gewesen sein, wie hoch ihr Sicherheitsbedürfnis, dass sie sich jetzt umklammern, ihre Zelte und das Wenige, was sie haben. So, als ginge es um Leben und Tod. Der Umzug soll zu ihren Gunsten sein. Ihr Verhalten mag unlogisch erscheinen, aber der Mensch ist eben auch mehr als Ratio.
Er ist Mensch, mit all seinen Emotionen. Das muss man respektieren und akzeptieren lernen. Dass wir Menschen sind. Die Polizei muss dann kommen und die Familie umziehen, wenn sie es nicht freiwillig machen. Ich sehe die Gesichter meiner Gesprächspartner fast gar nicht. Nur selten, wenn ich in die Knie gehe, um unter dem Zeltvordach drunter her zu sehen. Ich möchte meinem Adressaten in die Augen sehen. Aus Respekt. Auch er schaut mir in die Augen und dann wieder nicht. Wir haben großen Respekt füreinander, das spüre ich. Und dennoch kann ich ihm nicht helfen, ihn nicht überzeugen. Ich entschuldige mich. Er sich auch. Dann muss wohl die Polizei übernehmen. Man kann nicht jedem helfen und nicht jedem gerecht werden. Nicht jede Aufgabe kann man erfüllen und nicht jeder Erwartung kann man gerecht werden. Gut, dass Erfolg nicht immer an erfüllte Aufgaben gebunden ist, auch wenn unsere Zeit das oft behauptet. Manchmal ist Da-Sein schon alles, was man machen kann.
Plastik brennt
Es geht den ganzen Tag also um nichts anderes als Unterbringungs-Angelegenheiten. Mittags löffle ich meine Vesper vom Vorabend, wo es selbstgekochten Linsen-Reis-Eintopf mit Thunfisch und Ei gab. Schmeckt wie Hühner-Fricassé. Zur Krönung des Tages gibt es einen zehn-minütigen Mittagsschlaf in einer Ecke des Mitarbeiter-Zeltes. Ein junges afghanisches Mädchen turnt den ganzen Tag in der Nähe herum, kritzelt und bemalt gelbe Post-Its. Irgendwann schnappe ich mir dann auch einen und skizziere sie, wie sie da steht, mit Blick aufs Meer. Ich schenke es ihr. Sie strahlt. Und kritzelt weiter.
Bei einer der Rundfahrten fällt mir der Stacheldrahtzaun auf, der sich um weite Teile des Camps spannt. Einige Meter weiter scharen sich Kinder vor einer an den Zaun gehängten Schultafel zusammen. Den zu Füßen liegenden Boden wärmt ein Teppich, auf dem sich die Kinder konzentriert tummeln. Die Kinder sind noch sehr jung, an der Tafel stehen ein bis zwei etwas ältere Mädchen. Die Buchstabenzeichnungen der Tafel sind sehr schön. Ich beobachte sie. Sie entdecken mich. Alle Kinder drehen sich zu mir um und rufen laut „Good Afternoon“. Dirigierend wedelt das führende Mädchen die Arme durch die Luft. „Hello“ erwidere ich gerührt und schleife den nächsten Sack aus dem Van. Überall hängt der Duft von brennenden Olivenzweigen, Dornbüschen und… vielleicht Plastik in der Luft. Heizt gut. Aber stinkt auch. „Do they burn plastic?“ Meine Kollegin sagt: „I know in Moria they burnt plastic“ (Ich weiß, dass sie ihn Moria, also im alten Camp, Plastik verbrannt haben.) Das scheint wohl Teil des winterlichen Arbeitsklimas hier zu sein. Aber ich weiß es nicht.
Weinen? Nein!
Ich werde nicht weinen, denke ich mir, bevor ich mit der Arbeit beginne. Ich kenne Flüchtlingslager aus Deutschland und hab dort schon viel gesehen und erlebt. Die am Boden liegende Frau, kurzatmig, nach Luft ringend, mit zusammengepressten Beinen – ich will es fast nicht schreiben und frage mich auch, ob es richtig ist, es zu tun, weil es wie ein Eingriff in ihre Würde scheint. Und doch muss man auch das sehen, zumindest aus der anonymen Distanz, weil auch das hier dazugehört. Es sind Blutungen, die Frau ist im zweiten Monat schwanger. Die Zeit vergeht, der Notruf ist längst abgesetzt. Nichts passiert. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Meine Chefs wirken ruhiger, ja, vielleicht sogar ruhig – sie haben mehr Erfahrung, sind länger hier. Ich fühle mich zunehmend ohnmächtig, weil die Ambulanz nicht kommt. Später erfahren wir, dass die Ambulanz gerade mit einem anderen Fall im Krankenhaus war.
Die Ärzte vom Haupttor konnten nicht rein. Also eine Ambulanz aus der Hauptstadt. Diese will aber erst kommen, wenn die Ärzte von vor Ort den Fall angeschaut haben. Die sind aber weg. Also doch eine offene Tür für die Spezial-Ärzte am Haupteingang. Dem Anschein nach, zwei junge deutsche Ärzte ohne Grenzen. Auch die Ärzte müssen hier langsam fahren wegen der Wassergräben. Ein Van, aus dem die hinteren Sitze herausmontiert wurden. Der Arzt schnappt eine Plastiktüte, legt sie sanft, aber sicher über den Mund der Frau, um die Hyperventilation zu stoppen. Sie wird abtransportiert. Ich weiß sie sicher in den Händen des Arztes, die einen so souveränen und freundlichen Eindruck auf mich gemacht haben. Ich weiß die Frau in Gottes Hand, daran halte ich mich fest. Ich kämpfe mit den Tränen und will nicht weinen, nicht am ersten Tag, nicht vor den Menschen und Kolleginnen hier, ich bin stark, tue es lieber jetzt, wo ich es schreibe und allein bin. Stirbt sie? Warum dauert es so lange? Nein, ich glaube, sie lebt. Warum hat es so lange gedauert?
Auf dem Weg zum Treffpunkt an der Straßenwende beim Haupteingang ist der Weg plötzlich versperrt. Spannung. Ein großer Menschenhaufen. Polizeiautos und ein Bagger versperren den Weg. Meine Kolleginnen und ich klettern über die Baggerschaufeln im Schatten der Perspektive. Die Polizisten sehen uns, aber lassen uns passieren, weil wir sozusagen Mitarbeiter sind. Es gibt neue Regeln dafür, wie viele Menschen täglich das Camp verlassen dürfen. Corona lässt grüßen. Aber für heute sage ich erst Mal „Ciao“. Feierabend. Für die Menschen im Camp geht es weiter. Auf dem Rückweg zieht es ganz schön durch die verbeulte Autotüre. Irgendwann biege ich auf die Landstraße, gerahmt wie ein Gemälde, von Olivenblättern und altem Gebälk. Auf dem Weg nach Hause. Bethel – Haus Gottes. So haben wir drei unsere Wohnung genannt.
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