Mit dem Eröffnungsspiel zwischen Italien und der Türkei in Rom beginnt die Fußball-Europameisterschaft der Herren mit einem Jahr Verspätung. Für alle Fußballbegeisterten, zu denen ich mich auch zähle, eigentlich der Beginn für vier Wochen uneingeschränkte Euphorie. Doch dieses Mal ist es anders. Der Grund dafür ist nicht nur die Pandemie, in der wir uns gerade befinden.
Der Profifußball will sich abschaffen
Zumindest muss man davon ausgehen, führt man sich vor Augen, wie sich das Geschäft “Profifußball” entwickelt. Horrende Ablösesummen, hohe Ausstiegsklauseln und sich über Monate hinziehende Vertragsverhandlungen sind zur Normalität geworden. Berichte über korrupte Funktionäre in Fußballverbänden sorgen nicht mal mehr für hochgezogene Augenbrauen. Die Vergabe von großen Turnieren könnte intransparenter kaum sein. Der Versuch der Einführung der Super League beweist endgültig, was man schon länger annehmen musste: Profifußball ist ein Produkt. Im Vordergrund steht nicht mehr die Freude der Fans, sondern vielmehr die Vermarktung dieses Produktes.
In Zeiten, in denen viele Menschen mit den finanziellen Folgen einer Pandemie zu kämpfen haben, wirken die Preise für Fanartikel fast schon zynisch. Knapp 90 Euro beträgt der reguläre Preis für das Herrentrikot des Bundesligisten Bayern München. Natürlich gibt es jede Saison ein neues Shirt. Im Vergleich dazu sind die Trikots der Nationalmannschaft zwar länger aktuell, aber nicht billiger. Möchte man den Aufdruck seines Lieblingsspielers auf dem Rücken tragen, sind insgesamt 108 Euro fällig.
Die Sonderstellung des Profifußballs
Die zunehmende Kommerzialisierung des Fußballs wirkt noch absurder, verdeutlicht man sich, welche Sonderstellung der Profifußball ohnehin schon einnimmt und welche finanziellen Vorteile daraus resultieren, die anderen Sportler:innen anderer Sportarten vorbehalten bleiben. Die Zwangspause für professionelle Sportler:innen zu Beginn der Pandemie war für Fußballer:innen am geringsten. Einerseits für Fußballfans sehr erfreulich, andererseits auch äußerst unfair. Andere Sportler:innen mussten zusehen, wie sich auf den Plätzen der Bundesligisten Jubeltrauben bildeten, während sie nicht mal individuell trainieren durften.
Ja, es gab ein Hygienekonzept in den beiden höchsten deutschen Spielklassen, aber sicherlich wäre dieses auch auf andere Sportarten übertragbar gewesen. Auch jetzt gibt es diese Sonderstellung noch. Wohingegen kulturelle Großveranstaltungen mit tausenden Besuchern noch in weiter Ferne liegen, werden am kommenden Dienstag 14.000 Fans in München im Stadion sein, wenn die deutsche Mannschaft auf die französische Équipe Tricolore trifft. Public Viewing wird es jedoch nicht geben. Immerhin etwas.
Die Nationalmannschaft ist keine Ausnahme
Das Interesse an der Nationalmannschaft schwindet. Zu dem Schluss kommt eine Umfrage aus dem November 2020. Die Gründe hierfür sind sowohl struktureller als auch sportlicher Natur. Einerseits sind die letzten drei DFB-Präsidenten allesamt von ihrem Amt zurückgetreten. Die Gründe sind vielfältig und reichen von der Affäre um die Vergabe der WM 2006, über die Nicht-Offenlegung von Nebeneinkünften und luxuriösen Geschenken bis hin zu einem Nazivergleich.
Auch, wenn alle drei keine weitreichenden juristischen Konsequenzen mehr zu befürchten haben, Sympathieträger sehen wohl anders aus. Aber auch sportlich befindet sich die Nationalelf seit der WM 2018 auf der Suche nach einer Identität, einer Handschrift. In der Offensive fehlt es an einem klaren Plan, erzielte Tore wirken wie Zufallsprodukte. In der Defensive steht man zwar die meiste Zeit recht solide, aber selten über die volle Spielzeit. Die einzig überzeugende Vorstellung in diesem Kalenderjahr war die erste Halbzeit gegen Island.
Rationale Argumente versus Emotionen
All diese rationalen Argumente sprechen dafür, die EM nicht zu verfolgen. So leicht ist es jedoch nicht. Denn wenn am Freitag um 21 Uhr mitteleuropäischer Zeit das Spielgerät freigegeben wird, muss ich nicht nur an die berechtigte Kritik am Profifußball denken, sondern auch daran, wie ich 2008 ausnahmsweise länger als üblich aufbleiben durfte, um ungläubig mit ansehen zu können, wie Fernando Torres den Ball über Jens Lehmann hinweg gefühlvoll in die Ecke lupfte und so Spanien zum Europameister schoss. Daran, wie ich 2012 während einer Klassenfahrt im Harz sah, wie Mario Balotelli sich nach dem zwischenzeitlichen 2:0 und seinem zweiten Treffer an dem Abend das Trikot vom Leib riss und die Hoffnungen auf einen deutschen EM-Sieg erneut beendete. Daran, wie ich 2016 mit ansah, wie Jerome Boateng, der damalige Eckpfeiler des deutschen Defensivverbundes, sich im Halbfinale gegen Gastgeber Frankreich einen Muskelbündelriss zuzog, ausgewechselt werden musste und Antoine Griezmann nicht mehr daran hindern konnte, mit dem 2:0 alles klar zu machen.
Sicher ist, dass auch diese EM-Endrunde Geschichten über Gewinner und Verlierer schreiben wird. Diese Rollen werden jedoch erst im Laufe des Turniers besetzt, was die Faszination des Sportes ausmacht. Leider. Denn so überzeugend alle rationalen Argumente auch sein mögen, überwiegt am Ende die emotionale Seite. Auch, wenn ich mich deswegen ein kleines bisschen schuldig fühle.
Ralph
Der Artikel beschreibt die Realität sehr gut. Früher, ja jetzt denkt jeder geht das wieder los, aber früher war Fußball einfach eine Abwechslung vom Alltag, eine Chance für viele, etwas aus ihrem Leben zu machen. Für Deutschland zu spielen, war eine Ehre. Es war Unterhaltung. Heute können Spieler (Marco Reus) es sich erlauben, Urlaub zu machen, anstatt seinen Beitrag für Deutschland zu leisten.
Es ist der reinste Kommerz! Traurig, aber gucken tun wir doch…