Ina und Marcel Liebecke haben zwei gemeinsame Kinder und eines aus erster Ehe des Vaters. Der zweijährige Vincent hat das Down Syndrom. Als das Ehepaar zum zweiten Mal schwanger war, haben sie sich dann ganz bewusst gegen Tests entschieden, die das Down Syndrom bereits vor der Geburt bestätigt hätten. Im Interview begründet Ina Liebecke diese Entscheidung.

Liebe Frau Liebecke, Sie und Ihr Mann haben sich bereits bei der ersten Schwangerschaft gegen einen Pränataltest entschieden. Weshalb?
In der Schwangerschaft mit unserem ersten Sohn Vincent waren wir noch sehr unbedarft. Wie wohl viele Erstgebärende wusste ich nur sehr wenig über mögliche Diagnostikverfahren und ihre entsprechenden Ergebnisse. Ich unterhielt mich mit Freundinnen, die zum Teil die sogenannte Nackenfaltentransparenz (NFT) vornehmen ließen, zum Teil aber auch nicht. Um den derzeit viel diskutierten Bluttest ging es soweit ich mich erinnere in keinem dieser Gespräche. Die so zusammengetragenen Informationen besprach ich dann stets mit meinem Partner. Auch er führte ebenfalls das ein oder andere Gespräch mit Bekannten. Die Position derer, die testen ließen, war meist durch den Wunsch ‘nach Sicherheit’ geprägt.
Auf die Frage hin, welche Konsequenz denn einem auffälligen Ergebnis gefolgt wäre, wurde meist mit einem betretenen Schweigen reagiert. Mein Mann und ich waren uns einig, dass wir zum einen nach der hauptsächlich statistischen Berechnung einer NFT ohnehin keine Fruchtwasserpunktion nachschalten würden, da wir viel zu große Angst vor Komplikationen hätten und wir uns zum anderen ohnehin niemals gegen unser Wunschkind würden entscheiden können. So entschieden wir uns gegen die Nackenfaltentransparenz – natürlich auch in dem Glauben, dass wir zwei als “gesunde Erwachsene aus bis dato unbelasteten Familien” schon nicht betroffen sein würden.
„Wir hatten unvorstellbare Angst vor einem Leben ohne unseren Sohn“
Als Ihr Sohn dann mit dem Down-Syndrom geboren wurde – wie haben Sie sich gefühlt?
Schon Sekunden nach der Geburt merkte man an der Reaktion der Hebammen (es war gerade Schichtwechsel), dass etwas anders war – ein betroffener Unterton war dem „Glückwunsch zum Sohn” zu entnehmen. Es war die Rede von „morphologischen Auffälligkeiten” und von „Beobachtung auf der neonatologischen Intensivstation”. Ich war diejenige, die daraufhin konkret nachfragte, ob der Verdacht auf Down Syndrom bestünde. Das erwiderte „Ja” stürzte uns in Verunsicherung und Trauer. Wie sollte man dem Umfeld nur diese Nachricht überbringen?
Was bedeutete all das überhaupt konkret? Wie würde nun unsere Zukunft aussehen? Wir weinten viel, stellten uns immer wieder die Frage nach dem Warum. Da das Down Syndrom ja häufig im Verbund mit organischen Fehlbildungen auftritt, wurde unser Sohn in den nächsten Tagen intensiv untersucht. Ein weiterer, wie sich herausstellen sollte, weitaus tieferer Schlag als die Diagnose Down Syndrom war die Diagnose eines komplexen Herzfehlers. Diese verstärkte bei uns noch die Sorge vor der Zukunft und einer unvorstellbaren Angst vor einem Leben ohne ihn.
Auch bei der zweiten Schwangerschaft haben Sie sich dann gegen einen Test entschieden – wie wurde das in Ihrem Umfeld aufgenommen?
Die Liebe zu unserem Sohn war weiterhin ungebrochen. Wir schenkten sie ihm trotz oder gerade wegen seiner vermeintlichen Unperfektheit. Bei uns sorgte es für die Erkenntnis, dass wir jedes Kind so annehmen und lieben werden, wie es uns geschenkt wird. Während der Krankenhausaufenthalte bekamen wir auch einen Einblick, wie viele Schicksalsschläge das Leben bereithalten kann, die weitaus gravierender sind als das Down Syndrom und eben auch nicht bereits in der Schwangerschaft erkennbar sind. Diese konsequente Einstellung war unserem näheren Umfeld bereits bei Bekanntwerden der zweiten Schwangerschaft bewusst. Im entfernteren Umfeld gab es einige Stimmen, die fragten: „Diesmal lasst ihr aber alles testen, oder?“ Solche Äußerungen schockierten uns.
„Wir wollten und wollen zeigen, dass unser Leben sehr, sehr lebenswert ist!“
Sie haben sogar T-Shirts drucken lassen, um Ihre Botschaft nach außen zu transportieren. Warum?
Speziell ich, die ja tagtäglich körperlich von der ganzen Thematik „betroffen“ war, war müde davon, mir die Freude über die erneute Schwangerschaft durch uninformierte und zum Teil naive Gespräche trüben zu lassen. Aber ich wollte auch ein Zeichen setzen. Mir war klar, dass unsere Situation eine Art Öffentlichkeitsarbeit sein könnte. Den (fröhlichen) Vincent in der Karre zu schieben und ein weiteres Kind sichtbar unter dem Herzen zu tragen, ohne die Notwendigkeit zu verspüren, es testen zu lassen – das hat hoffentlich die Botschaft transportiert, dass das Down Syndrom und schlussendlich auch der Herzfehler nichts waren, das einen Schwangerschaftsabbruch rechtfertigte. Wir wollten und wollen zeigen, dass unser Leben sehr, sehr lebenswert ist!
„Der Test erzeugt nur eine vermeintliche Sicherheit“
Viele meinen, ein Pränataltest ermöglicht es Eltern, sich möglichst gut auf ein Kind mit Down-Syndrom vorzubereiten. Was meinen Sie dazu?
Wir persönlich sind überzeugt davon, dass man sich nicht auf ein Leben mit einer Diagnose – egal welcher Art – vorbereiten kann. Jedes Kind, dass auf die Welt kommt, hat seine Besonderheiten und Eigenheiten, die im Verlaufe des Lebens von Eltern und näheren Umfeld kennengelernt und angenommen werden müssen. Sicherlich sind die Besonderheiten eines Kindes mit dem Down Syndrom per se schon gravierend. Allerdings ist die Spanne der zu erreichenden Fähigkeiten ebenso groß wie bei Kindern mit dem normalen Chromosomensatz schlussendlich auch. Es gibt demnach nicht das Down Syndrom schlechthin.
Außerdem denken wir, dass es so viele andere Erkrankungen oder irgendwie geartete genetische Abweichungen gibt, die der derzeit thematisierte Test nicht vorhersagen kann – aber ebenso das Leben einer Familie grundlegend aus den Angeln heben können. In den Medien erscheint es derzeit so, als wäre ein Kind komplett gesund, wenn der Test keine der drei gesuchten Trisomien aufdeckt. Diese Annahme konnten wir auch häufig eigens geführten Unterhaltungen entnehmen. Die Aufklärung rund um dieses Thema scheint erschreckend gering. Der besagte Test erzeugt somit eine vermeintliche Sicherheit.
„Der Druck auf werdende Eltern wächst“
Glauben Sie, dass es sinnvoll ist, den Pränataltest als kostenlose Kassenleistung zur Verfügung zu stellen?
Nein, keinesfalls. Wir denken, dass dies eine fatale Botschaft an die Gesellschaft sendet. Das Down Syndrom wird somit zu etwas so Schlimmen, dass bestenfalls flächendeckend nach ihm gesucht werden sollte. Der Druck auf werdende Eltern wächst. Viele, die sich bis dato keinerlei Gedanken rund um das Thema gemacht haben, werden nun im entsprechenden Fall mit einer Diagnose konfrontiert, mit der sie plötzlich unvorbereitet umgehen müssen.
Unseres Erachtens sollte eine pränatale Diagnostik stets nur erfolgen, wenn man sich absolut im Klaren darüber ist, welche persönliche Konsequenz die Information mit sich bringt. Eine vorherige Beratung ist demnach zwingend notwendig. Bisher gibt es diese jedoch nicht.
Ist die Diagnose Down Syndrom gestellt, kann ohnehin keine Therapie oder ähnliches erfolgen. Das Down Syndrom ist nicht heilbar. Eine flächendeckende angebotene „Fahndung“ von Seiten der Krankenkassen gibt somit recht eindeutig den von ihrer Seite erhofften Umgang mit der Diagnose preis: Abtreibungen. Welches andere Interesse sollten Wirtschaftsunternehmen, wie es Krankenkassen nun einmal sind, sonst haben? Ich finde es erschreckend, zu sehen, wie viele sinnvolle (sprich: tatsächlich heilungsfördernde) Verfahren im Katalog derzeit „individuelle Gesundheitsleistungen“ (IGeL) sind.
„Wir freuen uns an kleinen Dingen“
Wie gestaltet sich Ihr Familienleben mit einem Kind, das das Down-Syndrom hat? Was macht Ihre Familie so besonders?
So besonders sind wir gar nicht. Wir haben ein recht alltägliches Familienleben, würde ich behaupten. Die beiden kleinen Jungs stellen unseren Alltag zu Zeiten ebenso auf den Kopf wie es in anderen Familien auch geschieht. Sicherlich fällt uns Vincents Entwicklungsrückstand im Vergleich zu seinem Bruder nun deutlicher auf. Allerdings macht uns die Leichtigkeit, mit der Marius sich entwickelt, nur umso ehrfürchtiger vor Vincent, der sich jeden einzelnen Entwicklungsschritt ja viel härter erkämpfen musste. Vincents derzeitige Therapien (Physiotherapie und Logopädie) unterscheiden sich im Aufwand nicht sonderlich von Terminen aller anderen Familienmitglieder.
Eine Familie erfordert in Abhängigkeit all ihrer Mitglieder ja immer ein gewisses Maß an Organisation. Der Weg, den wir mit Vincent bisher gegangen sind – im speziellen natürlich die Zeiten der beiden Herz-Operationen – hat uns eine ganz tiefe Dankbarkeit geschenkt. Wir genießen uns und unsere kleine Familie. Wir unternehmen viel gemeinsam, sind am glücklichsten, wenn alle zusammen sind. Wir erfreuen uns an kleinen Dingen. Streit ist bei uns sehr selten. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, macht das unsere Familie in der heutigen Zeit vielleicht doch irgendwie besonders.
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