In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 steht: „Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist solange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.“ Das ist ein Recht, das eigentlich jedem Menschen zustehen sollte – ob lebendig oder tot. Falsch gedacht.
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© flickr.com / Michael Schlesinger
Es gibt wohl keinen Menschen, der nicht von der Nachricht zutiefst erschrocken war, die uns alle am vergangenen Dienstag erreicht hatte. Eine wahre Tragödie. Schon am Tag des Flugzeugabsturzes wurde darüber spekuliert, was womöglich die Ursache für die grauenhaften Geschehnisse gewesen sein könnte. Von technischen Fehlern und menschlichem Versagen war die Rede.
Mit den Vermutungen, die dann am gestrigen Donnerstag aufkamen, hatte niemand gerechnet. Dem Co-Piloten Andreas L. wird zur Last gelegt, dass er nach den bisherigen Auswertungen der Black Box, die Maschine bewusst in den Sinkflug gestürzt haben soll. Er habe die Tür zum Cockpit bewusst mit dem Schalter in den Modus „locked“ versetzt, was zur Folge hat, dass niemand von außen ins Cockpit gelangen kann. Darüber hinaus heißt es, Andreas L. habe “normal” geatmet. Er habe somit anscheinend bewusst 149 andere, unschuldige Personen und sich selbst in den Tod gerissen. Diese Vorstellung ist einfach grauenhaft, schwer vorstellbar und lässt wohl keinen kalt.
Mittlerweile sind recht viele Details aus dem Leben des Co-Piloten bekannt geworden. All diejenigen, die man in Montabaur bisher zu ihm befragt hat, können sich nicht vorstellen, dass er eine solche Tat begangen haben könnte. Er hatte den Ruf als ruhiger und fröhlicher Typ, der über einen großen Freundeskreis verfügte. Dass er seine Ausbildung bei der Lufthansa für einen längeren Zeitraum aufgrund einer schweren Depression unterbrochen haben soll, ist bisher schlichtweg eine Vermutung und von keiner seriösen Quelle ausreichend belegt. Und selbst wenn. Auch dies wäre keineswegs ein sicherer Beweis!
Wie man anhand der Vermischung aus einigen Fakten und einer großen Vielzahl kursierender Gerüchte feststellt, handelt es sich bei dem derzeit naheliegenden Szenario um eine Darstellung, auf die am meisten hindeutet. Nicht mehr und nicht weniger. Anders gesagt: Man kann zum jetzigen Zeitpunkt nur mit Sicherheit sagen, dass es sich um reine Vermutungen handelt! Es ist keineswegs so, dass man mit einer solchen Sicherheit behaupten könnte, Andreas L. habe vorsätzlich gehandelt und den Absturz so gewollt.
Ich möchte klarstellen, dass ich Andreas L. hiermit nicht verteidigen möchte, da ich mir aufgrund der Vielfalt an Informationen letztlich kein fundiertes Bild der Sachlage machen kann. Darüber hinaus stellt die aktuelle Ansammlung an Indizien, die man in den Medienberichten vorfindet, noch bei weitem keine Beweislage dar. Genau aus diesem Grund kann und will ich dazu auffordern, dass Andreas L. zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht verurteilt wird! Ich möchte dafür sensibilisieren, dass man sich als Journalist über die Auswirkung von preisgegebenen Informationen bewusst sein sollte, auch wenn mir klar ist wie schnelllebig das Geschäft ist und wie groß der Konkurrenzkampf in Zeiten der Digitalisierung ist.
Hierbei erschreckt es mich persönlich auch sehr, wie in den Medien mit der Situation umgegangen wird. Dass die Bild-Zeitung ein Foto und den kompletten Namen des Co-Piloten veröffentlicht, (und das noch bevor überhaupt Sicherheit über den Hergang herrscht) ist sehr traurig – jedoch hätte man hiermit ein Stück weit rechnen können, da es nicht die erste Berichterstattung in dieser Form ist. Viel erschreckender ist es jedoch, dass auch diejenigen Informationsformate, die zu den seriösesten im deutschsprachigen Raum zählen, sich in solch einem emotional hochbrisanten Fall an Spekulationen beteiligen.
Als ein Beispiel von vielen sei hiefür die Berichterstattung der „Süddeutschen Zeitung“ zu nennen. Sie schreibt bereits am 26.03.2015 um 19:13 Uhr wörtlich über den Copiloten: „Der Mann, der Flug 4U9525 zum Absturz brachte.“ Von der „Zeit“ wird die Frage gestellt: „Warum flog Andreas (Nachname genannt) mit 149 Menschen in den Tod?“ Es wird kein Zweifel mehr daran gelassen, dass dieser Mann der Schuldige sein soll. Im Widerspruch hierzu heißt es im Pressekodex der Bundesrepublik Deutschland unter Ziffer 13: „Die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und sonstige förmliche Verfahren muss frei von Vorurteilen erfolgen. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung gilt auch für die Presse.“ Es scheint bei dem dargestellten Ermittlungsverfahren so, als nehme sich die Presse die Freiheit heraus, diesen Grundsatz der Unschuldsvermutung einfach zu missachten. Dies bedeutet, dass der Ehrenkodex im Rahmen der Berichterstattung von nahezu allen größeren deutschen Medien gebrochen wird.
Sollte sich herausstellen, dass die aktuellen Vermutungen doch nicht der Wahrheit entsprächen, wäre das, was an diesem Donnerstag und Freitag im Internet und den Zeitungen berichtet wurde, eine Katastrophe. „Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“ Die Unschuldsvermutung endet somit mit der Rechtskraft der Verurteilung. Die Vermutung der Unschuld sollte folglich die Herangehensweise an einen solchen Prozess sein und nicht die Vermutung der Schuld.
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