Es ist eine Geschichte, die spätestens seit den Rocky-Filmen viele Menschen weltweit elektrisiert. Der unbekannte Mann aus dem Armenviertel erobert zuerst den Boxring und anschließend die Herzen der Welt. Es ist eine Geschichte, die allzu häufig bloß ein Märchen bleibt. Und doch gibt es die Leute, die fest an ihren Traum glauben. In Jamestown, einem armen Viertel der Hauptstadt Accra, hat sich dieser Gedanke fest in die Köpfe der jungen Männer gesetzt. Eine der berühmtesten Box-Schulen ist das Attoh Quashie-Gym. Auf den ersten Blick wirkt die Schule arm und schlecht ausgestattet – doch für einige junge Ghanaer ist sie die größte Hoffnung auf ein besseres Leben.

Der Schweiß tropft unaufhörlich auf den rissigen Betonboden, die Atmosphäre in der kleinen Halle in Jamestown ist durchsetzt von erschöpftem Stöhnen und knallharten Schlägen, ansonsten: nichts. Stille – volle Konzentration, niemand spricht ein unnötiges Wort. Jamestown ist eines der armen Viertel der ghanaischen Hauptstadt Accra. Die Halle, aus der die sonderbaren Geräusche kommen, ist die Attoh Quarshie-Boxschule. Und mittendrin tänzelt ein junger Mann mit Irokesenfrisur um seinen Gegner herum. George Ashies Augen fixieren sein Gegenüber, die Fäuste hält er schützend vors Gesicht. Plötzlich ein Ausbruch nach links, ein Schlag mit der Führhand, einer mit der starken Faust und ein dritter in die Leber, dann ertönt der Gong. Eine willkommene Pause. Seit einer Stunde rackern sich George Ashie und rund 20 weitere Männer und Frauen schon in dem Gym ab, kämpfen im Ring gegeneinander, bearbeiten die Sandsäcke, springen Seil oder üben sich im Schattenboxen.

Über dem Eingang der kleinen Halle steht es in dicken Lettern: „House of pain – das Haus der Schmerzen“. Wie passend, denn es ist schon eine besondere Herausforderung, mitten am Tag zu trainieren in Westafrika. Überhaupt erträglich wird es nur in dem abgedunkelten Trainingsraum. Nur die grell blauen Fensterläden sind gerade so weit geöffnet, dass neugierige Anwohner von draußen einen Blick erhaschen können. Lediglich durch das Lochmuster unter der Decke fällt das Sonnenlicht wie ein breiter Fächer in den Raum und erhellt hier und da ein Poster erfolgreicher Boxer an der Wand. Überhaupt dreht sich hier alles ums Boxen. Motivationssprüche, Ganzkörperspiegel, Bilder alter Erfolge – nichts anderes findet an diesem Ort einen Platz. Das wirkt. Mittlerweile kommen so viele Boxer her, dass zwei Trainingsgruppen eingerichtet wurden. Die Amateure trainieren zwei Stunden am Mittag, die Profis danach. In der Wettkampfvorbereitung kann das schon mal vier bis fünf Stunden Schwitzen bedeuten.

Die Temperaturen beim Training fallen selten unter 30 Grad. Selbst den Zuschauern aus der Nachbarschaft stehen die Schweißperlen auf der Stirn. So wie dem alten Mann auf dem Fenstersims, der immer wieder drei Worte vor sich hin murmelt: „The next champion“. Dabei zeigt er auf George Ashie, der sich im Ring „Red Tiger“ nennt. Und tatsächlich ist der rote Tiger auf einem guten Weg. Über 150 Runden stand er schon bei Kämpfen im Ring, gewann 18 seiner 25 Siege durch KO. Fünf Titel hat er schon, darunter den Afrikatitel im Federgewicht. Nun peilt er den kontinentalen Titel im Leichtgewicht an.
Der einzige Weg
Aber Ashie denkt schon weiter. Er zögert keine Sekunde bei der Frage nach seinen Zielen: „Ich will Weltmeister werden, mein Name soll überall bekannt sein“. Er nuschelt es, kriegt kaum die Zähne auseinander, doch wenn man ihn im Ring sieht, weiß man, dass er es ernst meint. Wenn er sich über die Haare streicht und mit einem humorlosen Grinsen seine großen Zahnlücken entblößt, dann weiß man, dass man ihn ernst nehmen muss. Schon als kleiner Junge wollte er immer nur Boxen, das sei sein einziger Weg nach oben. Für dieses Ziel ist er von seinem Dorf nach Accra gezogen, für seinen Traum quält er sich Tag für Tag in Attoh Quarshies Box-Schule. Aber es gibt auch die andere Seite des roten Tigers. Eine gläubige Seite. Er betet, für sich, für den Welttitel, für sein Land und vor allem für die, die ihm diese Chance gegeben haben. Zum Beispiel für seine Trainer im Gym. Die glauben an ihn, obwohl sein letzter Kampf schon etwas zurückliegt. Ashie hat schon einmal nach den Sternen gegriffen. Im Dezember 2012 wollte er den Leichtgewichttitel von Emmanuel Tagoe. Vor 7.000 Zuschauern verlor er damals deutlich nach Punkten. Doch Ashie stand wieder auf.
Zuversicht für zweite Chance
„Attoh Quarshie ist die beste Chance für mich, den Titel zu holen“, ist sich Ashie sicher. Und das hat einen Grund. Das Armenviertel ist so etwas wie das ghanaische Epizentrum des Box-Sports. Attoh Quarshie sticht aus der Menge heraus. Der aufgeräumte Trainingsbereich fördert die Konzentration aufs Wesentliche. Keine leeren Wasserbeutel liegen hier herum, kein Müll – wie an vielen anderen Orten der Stadt. Hier herrscht Disziplin. Auch wenn Sport im tropischen Klima Ghanas eine eher untergeordnete Rolle spielt, zieht der Boxsport viele Ghanaer magisch an. Wie viele Gyms es in Jamestown auf engem Raum gibt, weiß hier keiner so genau. Über 30 sind es bestimmt, sagt ein Zuschauer, der sonst Touristen durch den Slum führt. Aber besonders die Schule von Attoh Quashie hat schon häufiger auf sich aufmerksam gemacht. Von hier stammt zum Beispiel der ehemalige WBF-Champion Joseph “the King Kong” Agbeko.

„Haus der Schmerzen“ ist nicht nur ein Spruch
Vincent Netey ist einer der Trainer und ist überzeugt von dem Konzept der Schule: „Wir meinen es ernst. Haus der Schmerzen ist kein Spruch, wir arbeiten hart und erreichen immer etwas. Wenn es mal kein Welttitel ist, dann eben ein Afrikatitel oder etwas in der Art“. In der Tat taucht das Attoh Quashie-Gym regelmäßig auch in den ghanaischen Medien auf. Man ist stolz auf das, was man hier für das Land erreicht hat. Und man ist stolz darauf, wie man das immer wieder schafft. Modernes Trainingsequipment sucht man hier vergeblich. Ein alter Ring, drei Sandsäcke, ein paar Seile – mehr nicht. Doch hier in Jamestown haben die Menschen gelernt, aus gar nichts eine Menge zu machen, ihnen blieb keine Wahl. Besonders gerne spricht Vincent Netey heute von Isaac Ekpo. Der ist zwar Nigerianer, hat aber auch hier im Ring trainiert und sich so vor einem Jahr einen Kampf gegen den deutschen Robert Stieglitz verdient. Der Kampf ging über die volle Distanz, der WBO-Titel blieb damals aber in Leipzig.
Nun will es also auch der „Red Tiger“ George Ashie wissen. Ashie ist ein Mann, dem man nicht im Dunkeln begegnen möchte. Über seine Vergangenheit redet er nicht, er blickt nach vorn. Vielleicht ist genau das der Weg, der ihn von ganz unten bis an die Spitze führen wird. Eine Geschichte wie in einem modernen Märchen. Er schwitzt in Jamestown, er ist auf dem besten Weg, sich eine neue Chance auf den Leichtgewicht-Titel zu erkämpfen. Und vielleicht kann der alte Mann auf dem Fenstersims eines Tages sagen: „Ich hab es Euch ja gesagt.“
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