Guten Tag, ich bin Anna Schmidt und ich möchte mich kurz vorstellen. Ich bin 43 Jahre alt und habe zwei Kinder, Sophie und Luca. Jeden Morgen weckt mich der Wecker um 6:23 Uhr (da sollte sich der deutsche Michel mal eine Scheibe abschneiden). Ich stehe am Tag 29,1 Minuten im Bad und nachdem ich 3,5 Scheiben Vollkornbrot zu mir genommen habe, verlasse ich meine 70,6 m² große Wohnung. Mit meinem 118 PS starken Auto fahre ich 19,48 km zur Arbeit. Am Mittag esse ich warm. Irgendetwas mit Kartoffeln, denn irgendwie muss ich ja auf 67,7 kg Kartoffeln im Jahr kommen. Im Jahr arbeite ich 192 Tage und ich fühle mich in meinem Job wohl. Bevor ich wieder nach Hause fahre, gehe ich noch schnell 26 Minuten lang einkaufen, wobei ich im Monat 268 Euro für Nahrungsmittel ausgebe, 95 Euro für Kleidung und Schuhe und gerade einmal 13 Euro für Bildung.
Als ich die Wohnungstür hereinkomme, wartet schon mein Lebenspartner Jan auf mich. Wir haben uns durch unseren gemeinsamen Freundeskreis kennengelernt. Wir beide sehen den Sinn des Lebens vor allem in einer harmonischen und glücklichen Partnerschaft. In der Woche haben wir zweimal Sex. Insgesamt acht Stunden pro Tag verbringe ich mit Fernsehen, Radiohören, Surfen oder sonstigen Medien. Aber nur 33 Minuten widme ich einem Buch. Um Punkt 22:47 Uhr schlafe ich auf der rechten Seite ein. Mein Name ist Anna Schmidt. Ich bin normal. Aber nicht real.
Eine Frage der Persönlichkeit
Ich hoffe, Du konntest Dich in Anna Schmitt nicht vollends wiederfinden. Falls es einige Überschneidungen gibt, ist das nicht weiter beachtenswert, schließlich lebst Du in Deutschland – genau wie Anna Schmitt. Aber falls Du diesen Text gerade unter „Vita“ auf Deinem Desktop speichern willst, muss ich Dir fast zynisch gratulieren. Du hast es geschafft! Du bist normal! Gut und gerne könnte man Dich sogleich als „Normopath“ bezeichnen. Denn ein Normopath versucht zwanghaft normal zu sein und das, bis es weh tut. Sein Lebensmotto: Bloß nicht auffallen! In Abhängigkeit vom System wirkt sein Charakter unausgewogen und unterentwickelt. Normopathen sind die menschgewordenen Konventionen. Da hört Menschlichkeit auf und fängt Automatismus an. Und wie Erich Fromm es erkannte: „Die Normalsten sind die Kränkesten! Und die Kranken sind die Gesündesten!“
Voll in Mode
Trendforschung ist das große Thema in den heutigen Firmen. Über die Erforschung von Big Data versucht man dem Durchschnittsbürger ein Gesicht zu geben. Dabei scheuen die wahren Götter unserer heutigen Gesellschaft weder Kosten noch Mühen (und leider auch keine Rechtsverletzung). Alleine um die in meinem obigen Text genannten „Normalitäten“ aus der Gesellschaft zu extrahieren, wurden wochenlang Umfragen betrieben. Für die großen Konzerne macht die Erforschung der Norm allerdings durchaus Sinn. Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen, denn nicht nur die Erforschung, sondern vor allem auch die Manipulation, bringt diesen Meinungsmachern Milliarden in die Kassen. Denn wer nicht mit der Mode geht, der bleibt bekanntlich stehen. Und das nicht nur in seinem „Lifestyle“, sondern vor allem auch sozial.
Global abnormal
Was eine Norm oder auch eine Konvention ausmacht, ist die Unbestreitbarkeit – die apodiktische Richtigkeit. Im alten Griechenland nannte man die Summe aller geltenden Normen „Ethos“ und so gehörte die Bestattung seiner verstorbenen Eltern klar zu diesem Ethos. In Asien dagegen war es zur gleichen Zeit Norm, seine toten Eltern zu essen und man konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie man etwas so Menschenverachtendes wie eine Bestattung auch nur in Erwägung ziehen kann. Aber das Zauberwort der Gegenwart ist Globalisierung und die macht auch vor dem „Ethos“ nicht halt. Heute kann man mit einem gegoogelten Zauberspruch in Windeseile die Normen jedes Landes nachlesen. Und immer wenn wir unsere 30 Tage Urlaub mal wieder im Ausland verbringen, müssen wir uns auf leichte bis mittel gigantische Kulturschocks einstellen. Oder gehörst Du auch zu denjenigen, die sogar noch in Las Vegas das Hofbräuhaus besuchen, um sich von einem Amerikaner deutsche Schlager vorsingen zu lassen?
Die gesellschaftlichen Kuschelecken
In dieser Welt muss man sich als Person erst einmal zurechtfinden und das passiert in der Pubertät. Fast zwangsläufig kritisiert man in seinen Teenager-Jahren alles, was die „Erwachsenenwelt“ für richtig empfindet. Das bedeutet Stress. Man eckt an und hat sich selber vielleicht noch nicht recht definiert. Man wird fast dazu gezwungen sich deshalb ein Umfeld aufzubauen, was den eigenen Charakter stützen kann. Diese gesellschaftlichen Kuschelecken, auch Sinusmilieus genannt, stellen ab dem Zeitpunkt der Zugehörigkeit also die kleine Oase in der Gesellschaft dar, die den modernen Normalitätsdurst stillen kann. Wie man an dem Beispiel aus dem alten Griechenland erkennt, es gab schon immer Normen. Und warum? Weil wir uns eine anarchische Gesellschaft, in der es keine Konventionen mehr gibt, kaum vorstellen können. In Goethes „Torquato Tasso“ heißt es an einer Stelle „Erlaubt ist, was gefällt“. Aber wie sollte eine solche Gesellschaft aussehen und wie sollte sie einmal zu Ende gedacht überhaupt überleben? Und so folgt bei Goethe gleich darauf die Rüge der Prinzessin: „Erlaubt ist, was sich ziemt!“
Der Ausweg aus dem Normalitätsgefängnis
Aber Normen sind auch immer Abgrenzungen. Ein wenig bildlich gesprochen heißt das: Die Norm gibt dem wackligen Seiltänzer Mensch Halt und Sicherheit durch eine stützende Hand, aber sein sicherer Boden ist immer noch die Verachtung. Ein Sinusmilieu definiert sich in erster Linie auch nicht durch eigene Prinzipien, sondern vielmehr durch die Differenzen zu den anderen gesellschaftlichen Strömungen. Ähnliches gilt auch im kleinen Rahmen: Paare halten eher durch gemeinsame Abneigungen zusammen, als durch gemeinsame Präferenzen. Somit dienen Normen nicht dazu sich mit anderen verbunden zu fühlen, sondern vielmehr um einen Verhaltenskodex zu besitzen, um andere damit zu be- bzw. zu entwerten.
Aber wo ist der Ausweg aus dem Normalitätsgefängnis?
Ich plädiere dafür, sich selber von Grund auf manches Mal zu hinterfragen, einfach mal anders zu sein, um zu beobachten, was sich dadurch verändert und das einzige geeignete Mittel, die Normalität zu umgehen, ist der Humor. Natürlich muss man, um ein freundliches und geregeltes Miteinander zu wahren, gewisse Normen und Formen beherrschen. Aber niemals anders herum. Sobald wir uns selber von Normen und Formen beherrschen lassen, sind wir Sklaven einer Ideologie. Und unter uns: wir brauchen die Normalen ja auch irgendwo. Denn wie sonst sollten wir uns selber noch wirklich außergewöhnlich und als außerhalb jeder Norm wahrnehmen können?
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