Oft verbinden wir das Reisen mit einer Art Erwachen: für viele scheint eine Zeit im Ausland einen wichtigen Wendepunkt in ihrem Leben darzustellen. Doch warum ist das so? Können wir dadurch lernen, andere Perspektiven einzunehmen, auf unsere Welt, unser Leben und unsere alltäglichen Entscheidungen? Kann uns kultureller Austausch, das Miterleben einer anderen Kultur, anderer Lebensrealitäten helfen, die Welt durch andere Augen zu sehen?
Wenn mir eines im Moment neben dem Kontakt zu meinen Freunden, Verwandten und Mitstudierenden am meisten fehlt, dann ist es wohl das Reisen, der kulturelle Austausch und meine Zeit am anderen Ende der Welt, in Peru. Reisen konfrontiert uns mit einer anderen Kultur, anderen und ähnlichen Lebenskonzepten, und vielleicht auch einem anderen Blickwinkel auf das, was in der Welt geschieht, wie andere leben, aber auch wie wir selbst leben – Tag für Tag.
Kulturschock? Meine Ankunft in Peru
Für sieben Monate lebte und arbeitete ich in einer für mich “anderen Welt”. Mehr als 10.000 Km von zu Hause, zwischen den steilen Steppen des Andengebirges und dem peruanischen Amazonasregenwald. Tausende Fragen schwirrten in meinem Kopf, während das Flugzeug abhob und ich einen letzten Blick zurückwarf, auf Deutschland und mein so sehr gewohntes Umfeld, während das Flugzeug langsam seinen Kurs aufnahm, um viele Stunden später in Lima zu landen. Ein Jahr in einer Kleinstadt im zentralperuanischen Regenwald. Ein Jahr wollte ich mit Familien und indigenen Gemeinschaften leben und arbeiten, die so ganz anders leben als ich es bis dahin gewohnt war.
Ich weiß noch, wie wir das erste Mal aus dem Bus ausstiegen. Die Kleinstadt war größer als ich sie mir vorgestellt hätte. Mototaxis, Blechgehäuse auf mehr oder weniger klapprigen Motorrädern knatterten hupend durch die staubigen, ungeteerten Straßen. Zwischen den aus bunten Holzlatten gebauten Hütten und abblätternden Putzfassaden dösten Hunde vor den kleinen Läden. Einige Leute waren schon auf der Straße, schleppten frisches Gemüse in bunt gestreiften Plastiksäcken zwischen kleinen Marktständen entlang, an denen Frauen in T-Shirts und Leggins alle möglichen Obst- und Gemüsesorten verkauften. Einige ältere Frauen in andinen Röcken unterhielten sich am Straßenrand, während zwischen ihnen Kinder mit Murmeln spielten und ein paar Männer in kniehohen Gummistiefeln die Feldernte durch die Stadt trugen.
Und doch wirkte diese Stadt so ganz anders, als man sich auf den ersten Blick eine Kleinstadt “im Dschungel” vorstellen würde. Überall neue Geräusche, neue Gerüche, ein Meer an Sinneseindrücken. Hier in der Stadt merkt man kaum mehr etwas davon, dass diese ganzen Gebiete einmal mitten im Bergregenwald lagen. Lediglich die grünbewachsenen Hänge um die Stadt und die Mosquitos wiesen darauf hin, dass wir direkt am Übergang der Bergregion in die Regenwaldregion sind.
Geht man durch die Stadt, fallen einem Statuen auf. Immer wieder ein Mann in einem braunen Gewand, der Kaffeebohnen auf dem Kopf trägt. Ein paar Straßen weiter ein Restaurant; „Comfort los Colonos“. Darunter ein Schild eines stereotypen deutsch-Tirolers. Spuren einer grausamen Vergangenheit. Die Indigenen, gewaltsam vertrieben, im Kautschukboom ausgebeutet, vergewaltigt, getötet, versklavt, erst von spanischen später auch von deutschen Kolonialisten.
Vorurteile – Verurteile
Wenn ich Bekannten von meinen Plänen erzählt hatte, ein Jahr im peruanischen Regenwaldgebiet zu verbringen, erntete ich nicht selten verwunderte, oft auch besorgte Blicke. Woher kommt sie? Diese Sorge vor dem Unbekannten? Auch ich entdecke sie immer wieder in mir. Ist sie berechtigt? Oder wird sie geschürt von Vorurteilen, die so oft tief in jedem Einzelnen von uns verwurzelt sind? Menschen teilen andere Menschen nach Merkmalen in Gruppen ein. Von klein auf. In Mädchen, Jungen, groß, klein, alt, jung, helle Haut und dunkle Haut. Vermutlich ist kein Mensch vollkommen vorurteilsfrei. Wir betrachten alles durch eine Art Brille aus dem was wir in unserem Leben erlernt, erfahren haben, den Erlebnissen und Bildern, die immer wieder in unseren Köpfen erzeugt werden, davon wie andere Länder aussehen, wie das Leben anderer Menschen ist, was gut und was schlecht sei.
Vielleicht fällt es mir deshalb so schwer auf die Frage: “Wie war es? Erzähl mal. ” zu antworten. In mir wehrt sich etwas dagegen einfache Berichte abzugeben über ein Land, das Leben der wundervollen Menschen, die ich kennenlernen durfte. Auch ich hatte vor meiner Abreise ein bestimmtes Bild im Kopf, insbesondere von indigenen Gemeinschaften. Dass diese Bilder häufig mit oft rassistischen Stereotypen verknüpft sind, wurde mir dabei erst später bewusst. Ja, ich kann die Situation schildern, wie ich sie erlebt habe und doch betrachte ich alles aus meiner eigenen Perspektive. Ich sehe die ungeteerten Straßen, die von jedem Erdrutsch weggespült werden können und ohne es zu wollen vergleiche auch ich sie mit den deutschen Straßen.
Die Schattenseiten unseres Entwicklungsverständnisses
Zu oft vergessen wir, auch wenn wir auf Reisen sind, dass unsere Perspektive nicht immer die richtige sein muss. Als Europäer denken wir häufig in Industriestaaten und Entwicklungsländern. Doch was bedeutet das eigentlich, entwickelt? Wer hat eigentlich festgelegt, wann etwas entwickelt ist? Und warum denken wir eigentlich, dass fortschrittlich, luxuriös und ja, vielleicht auch entfremdet von der Welt um uns herum in jeglicher Hinsicht die beste Option sein muss?
Nicht zuletzt die Klimakrise, die Menschen weltweit, vor allem aber in den westlichen Konsumgesellschaften und Industriestaaten, mit ihren Entscheidungen maßgeblich prägen, führt uns immer deutlicher vor Augen, dass das so häufig mit Entwicklung in Verbindung gebrachte Streben nach immer mehr, immer neuer, immer schneller, auch eine bedrohliche Kehrseite haben kann. Ist es Entwicklung, wenn moderne Straßen in den Regenwald gebaut werden und dadurch Lebensräume für Mensch und Tiere und ganze Kulturen Stück für Stück zerstört werden? Zeigt nicht die Tatsache, dass indigene Völker, die Hüter von 80% der verbliebenen Biodiversität unserer Erde sind, und der Wissensreichtum über medizinischen Pflanzen, die nicht selten zu vielerorts verwendeter Medizin verarbeitet werden, dass wir unseren einseitigen Blick auf Fortschritt und Entwicklung überdenken sollten?
Ich erinnere mich noch gut an ein Gespräch, das ich mit einem Kollegen auf dem Weg in eine indigene Gemeinschaft hatte. Er erzählte davon, wie mit den Straßen die illegalen Holzfäller in die Regenwaldgebiete eindrangen und immer mehr Regenwald abgeholzt wurde. Im Sinne der Entwicklung. Wir fuhren an Ananasplantagen vorbei. Hektarweise Steppen, wo früher einmal Regenwald stand. In der Ferne stiegen Rauchwolken auf, ein neues Stück verbrannter Erde für die Landwirtschaft, den Erdölabbau. Große Unternehmen genauso wie arme Kleinbauern, die keine anderen Möglichkeiten sehen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, brennen nun den Regenwald nieder, und gefährden damit die Zukunft des Amazonasregenwaldes und damit letztendlich auch des Weltklimas.
Was hat mein Leben mit dem Leben der Menschen am anderen Ende der Welt zu tun?
Je länger ich durch diese Steppen fuhr, desto klarer wurde mir, wie unsinnig es ist, die Schuld bei Einzelnen zu suchen. So oft verurteilen wir in unserem Alltag das Handeln dieser Menschen, die Abholzung der Wälder, die oft schrecklichen Arbeitsbedingungen doch wir vergessen oft, dass auch wir selbst eine wichtige Rolle darin spielen, dass die Regenwälder abgeholzt werden oder, dass Menschen unter teils menschenunwürdigen Bedingungen auf Plantagen oder in Minen arbeiten müssen, zwar aus eigener Entscheidung aber doch zuletzt zumindest aus wirtschaftlichem Zwang.
Profitieren wir nicht in gewisser Weise selbst davon billige Schokolade, billige Ananas, billigen Kaffee zu genießen? Wie oft denken wir denn wirklich darüber nach, unter welchen Bedingungen die Produkte, die wir so gerne verzehren hergestellt wurden? Wie unsere Entscheidungen letztendlich mit dem Leben von Menschen tausende Kilometer entfernt zusammenhängen können?
Vielleicht zeigt uns dieser Blickwechsel auch wie blind wir oftmals für das Leben anderer Menschen sind. Nicht nur in anderen Ländern, sondern auch hier, direkt vor unserer Haustür. Die Obdachlosen, die in der Kälte auf der Straße schlafen, Geflüchtete an den Außengrenzen Europas, die alte Frau in der U-Bahn, die im Mülleimer nach Pfandflaschen sucht oder der junge Mann, der traurig aus dem Zugfenster starrt.
Ich selbst merke, wie schwer es mir fällt mich in ihre Lage zu versetzen, zu handeln und nicht wie so oft weg zu sehen, die Augen zu verschließen, vor dem Leid der anderen aber auch den wertvollen Sichtweisen, die wir gewinnen können, wenn wir uns darauf einlassen, eine andere Perspektive einzunehmen. Kultureller Austausch kann helfen, Augen zu öffnen, für die Lebensrealität anderer, aber auch den Wohlstand, den viele sehr schnell außer Augen verlieren. Zu schätzen, was wir haben und dankbarer dafür zu sein, was wir haben und das Teilen zu lernen.
Andere Welt, andere Augen?
A traveller without observation, is like a bird without wings
– Moslih Eddin Saadi
Wenn wir diesem Zitat Glauben schenken, wird klar, weshalb Reisen mehr ist als nur am Strand zu liegen und Urlaub zu machen. Das Miterleben einer anderen Kultur heißt auch: Beobachten. Sich selbst und die Anderen. Das Eigene und das Fremde. Tag für Tag können wir Erfahrungen machen, die Fragen aufwerfen, Zweifel an der Art, wie wir leben, was wir tun, oder eben gerade nicht tun. Augenblicke und Erfahrungen, die uns begleiten, uns bewusster werden lassen, und uns vielleicht sogar dabei helfen können, ein Stück mehr zu uns selbst zu finden.
Aber auch Blickwechsel und Gespräche, die uns immer wieder zeigen, wie gleich wir alle sind, wie verbunden mein Leben mit dem Leben eines Kleinbauern im Peruanischen Regenwald oder einem Menschen in China oder Kenia sein kann. Eindrücke, die uns zeigen, dass wir vielleicht eben nicht in anderen Welten leben, so unterschiedlich die Kultur, das Zusammenleben, die Lebenssituation auch sein mag, sondern diese eine Welt teilen, und damit am Ende auch die Verantwortung dafür, was mit ihr in Zukunft geschehen wird.
Viele Menschen leben ihr Leben lang im gleichen Ort. Umgeben von Menschen, die oftmals ähnliche Vorstellungen haben, ähnliche Erfahrungen machen, Teil des eigenen Horizonts sind. Kultureller Austausch fordert uns heraus, diese Brille abzulegen, für einen Moment. Zu versuchen eine andere Perspektive einzunehmen, auch wenn uns das vielleicht niemals vollständig gelingt, und damit vielleicht auch unser eigenes Leben aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Wenn wir die Komfortzone verlassen, begeben wir uns in unsichere Gewässer aber erst so haben wir die Möglichkeit neue Ufer, neue Seiten an uns und neue Blickwinkel zu entdecken und daran zu wachsen.
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