Thaiboxen kann man heute in nahezu jeder größeren Stadt auf der Welt lernen. Nicht ohne Grund zieht es jedoch viele Menschen in das Herkunftsland dieser Kampfkunst. Ein Erlebnisbericht.
„Khorsoh!“ Krachend schlägt mein Ellenbogen ein. „Khao!“ Die Boxhandschuhe schließen sich um das Genick meines Partners, ein Knie trifft. Mein schweißnasser Körper ist leicht nach vorne geneigt, den vorderen Fuß wippend wie zum Takt einer unhörbaren Melodie. Bis auf eine kurze, rot-samtene Hose trage ich nichts. „Dteh!“ ruft mein Gegenüber. Mein rechtes Bein kracht auf Hüfthöhe in die Schlagpolster. „Again!“ Wieder trifft Schienbein auf Leder. „Again!“ Mein Fuß rutscht aus und ich fliege hin. Ein grinsendes Gesicht beugt sich über mich. „Have break“.
Im Land des Muay Thai
Die vom Schweiß angelockten Moskitoschwärme ignorierend, klettere ich aus dem Boxring. Kämpfe stattdessen mit den Klettverschlüssen der Handschuhe, während die umwickelten Bandagen an der aufgeweichten Haut blutige Schürfungen hinterlassen. Es ist erst Vormittag, aber die Sonne brennt schon jetzt auf das Land. Die Luft ist schwül und drückend. In der Ferne ziehen für die Regenzeit typische Wolkentürme auf; heute Nachmittag werden die Straßen wieder überschwemmt sein. Dichtes Pflanzenwerk und kleine Häuser versperren die Sicht auf die Ebene mit ihren zart-grünen Reisfeldern. Um mich herum summt und zirpt es vernehmlich. Die Trainingsanlage fügt sich perfekt in das Bild. In einem lehmigen Innenhof zwischen zwei Häusern aus Stein und Wellblech steht ein von Regen und Hitze gebeutelter Ring. Vom Gebälk eines aus Bambus und Palmenblättern gefertigten Daches hängen fünf Sandsäcke unterschiedlicher Größen; manche werden nur noch von mehreren Lagen Klebeband gehalten. Auf dem Boden verteilen sich aus Zement gegossene Gewichte, die Griffe aus Kabelbindern und Kordeln.
Thaiboxen, in der Landessprache Muay Thai genannt, steht für den unbewaffneten Kampf. Vermutlich aus dem bronzezeitlichen Indien stammend, entwickelte es sich über Jahrhunderte zu einer Drillform jener Armeen, welche für die ersten thailändischen Königreiche Sukrothai, Lan Na und Ayutthaya ins Feld zogen. Bezeichnend ist bis heute der Einsatz von Knien, Schienbeinen, Ellenbogen, Fäusten sowie des sogenannten Clinch, dem Umgreifen des Genicks. Ab dem 20. Jahrhundert fanden die ersten Wettkämpfe mit Regeln statt. Muay Thai wurde zum Nationalsport.
Das Goldene Dreieck in Nordthailand gilt nicht gerade als Top-Adresse in der Thaiboxszene. Nahezu alle Ikonen wie Buakaw und Saenchai haben ihre Studios im südlich gelegenen Bangkok eröffnet. Umso mehr überraschte die Nachricht, es gebe einen nahegelegenen Klub im Außenbezirk der Stadt Chiang Rai; was mir aufgrund meines Freiwilligendienstes vor Ort sehr gelegen kommt. Kho Tchai heißt mein einheimischer Trainer, der mir knapp bis zur Brust reicht und nebenher Sportlehrer an einer Highschool ist. Wie ich erfahre, war er Boxchampion in Bangkok, sei aber schon vor mehr als zehn Jahren zum Muay Thai gewechselt. Ein eher ungewöhnlicher Lebenslauf, denn viele Einheimische beginnen mit dem Training bereits im Kindesalter, manche sogar als Pfand verschuldeter Eltern. Der Szene haftet dementsprechend ein krimineller Ruf an, laut dem Kinder und Jugendliche ausgebeutet und je nach Stand der Geldwetten wieder fallen gelassen würden. Dem zum Trotz sollte aber auch gesagt sein, dass der Sport nicht wenige Familien finanziell über Wasser hält.
In jedem Thai ein Thaiboxer
Die Kommunikation mit Kho Tchai läuft über einen Kauderwelsch aus Thailändisch, Englisch und Handzeichen. „Maa“, ruft er mich zu sich. „Practice knee kicks.“ Er nennt mir eine Zahl im dreistelligen Bereich. Ich stöhne innerlich auf. „Khun samaa tan che-ni!“, feuert er mich an. Du schaffst das! Ich umgreife den mehr als mannshohen Sandsack mit beiden Händen, hole tief Luft und mit dem Knie aus. Bereits nach dem ersten Drittel werden die Atemzüge schwer. „Rüo rüo khao!“, komm schon! Der Schweiß perlt am Körper herab. Mein Gehirn nervt mit dem Gedanken, wie schön es wäre aufzuhören. Aber dann wäre der Respekt meines Trainers verloren. Irgendwie gelingt es, den nötigen Schub an Aggression zu beschwören. Den letzten Tritt versetze ich dem Sandsack mit solcher Wut, dass Kho Tchai mich mit seiner freundlichen Art erstmal wieder runterholen muss.
Ich bin körperlich und geistig am Ende, mein Trainer schaut auf die Uhr. „We finish. I have to go to rong rieng now.“ Gemeint ist die Schule, an der er unterrichtet. „Today no sparring.“ Der Übungskampf fällt aus und ich grinse wie ein Honigkuchenpferd. „But one hundred kicks, each left and right.“ Wir verbeugen uns mit gefalteten Händen voreinander. Während ich mich noch eine Weile an wuchtigen Schienbeintritten übe, kommt ein älterer Herr aus dem Haus nebenan. Er: noch kleiner als Koh Tchai, stämmiger Körperbau, die Haare grau und das Gesicht faltig. Einige Minuten lang sieht er mir zu. Ich schaue ihn erwartungsvoll an, doch er schüttelt mit dem Kopf. Deutet mit dem Finger auf meine Hüfte und macht mir verständlich, dass ich sie mehr eindrehen müsse. Ich versuche es erneut. Offenbar wieder falsch. Er kommt zu mir und schiebt mich zur Seite. Das Großväterchen, anders könnte man ihn rein optisch kaum bezeichnen, baut sich vor dem wenigstens doppelt so großen Sandsack auf. Schaut mich einen Moment lang an. Und versetzt dem armem Konstrukt einen derartigen Tritt, dass mir das untere Ende fast zwischen die Beine schwingt. Kichernd dreht er sich zu mir. „Verstanden?“ scheinen mich seine Augen zu fragen. Fassungslos schaue ich ihn an. Verstanden.