Propaganda und Nachdenken. Ideologie und Freundschaft. Zwischen all diesen Polen steht die 15-jährige Paula als Jugendliche in der NS-Zeit und muss sich unwiederbringlich für eine Seite entscheiden. Eine Buchrezension von Andrea Schöne.
Die 15-jährige Paula wurde gerade zur Schaftführerin ihrer Bund Deutscher Mädel (BDM)-Gruppe gewählt, geht in die 9. Klasse eines Gymnasiums in Münster und ist stolz, bei einer Schulfeier ein von Hitler persönlich signiertes Buch erhalten zu haben. Ihr Vater ist Polizeimajor und schon seit 1931 Nationalsozialist – wie der Rest ihrer Familie. Auch Paula steht eine glänzende Karriere im Dritten Reich bevor.
Die Jugendliche stellt die NS-Ideologie nicht infrage, malt sich den „Führer“ als einen guten und gütigen Menschen aus. Elisabeth Zöllers Jugendroman ist bei Weitem keine Romantisierung einer Jugend im Nationalsozialismus, sondern macht viel mehr darauf aufmerksam, wie menschenverachtende Propaganda wirkt, was totalitäres Denken auslöst und nicht zulässt.
Eine Jugend im Nationalsozialismus
Zöllers Jugendroman stellt eindrücklich das Alltagsleben mit der NS-Ideologie dar. Weiße Bluse, blauer Rock, Halstuch, das mit einem Lederband verschlossen wird – so sieht die Uniform des Bund Deutscher Mädel (BDM) aus. Die NS-Ideologie hält neben der Mode auch in jeden anderen Lebensbereich Einzug: Lieder, Grüße, Feste, Straßennamen, gar welche Frisuren die Menschen tragen sollen. Alles dreht sich darum, was dem „Führer“ gefällt, nicht was der Einzelne denkt.
„Papa liebt seine Arbeit, den Führer und das Vaterland. Und meine Familie, fügt er immer augenzwinkernd hinzu.“ Das erzählt die Jugendliche im Roman über ihren Vater, der in der Abteilung für Juden- und Räumungsangelegenheiten eng mit der Gestapo zusammenarbeitet. Daher geht es ihrer Familie gut. Welche Folgen die Arbeit ihres Vaters für andere haben, kann Paula zu Beginn noch nicht erkennen.
Das Menschenbild des Nationalsozialismus schließt Menschen ganz offen aus. Die Einzelnen zielen darauf ab, die Gunst des „Führers“ zu bekommen. Männer dürfen keine Furcht haben oder feige sein. Eine Mitschülerin traut sich trotzdem, zu erzählen, welch große Angst ihr Vater im Krieg hatte, in dem dieser schließlich auch gefallen ist. Eine Frau soll viele Kinder haben. Ergebenheit ans System wird uneingeschränkt von allen Menschen gefordert und darf auch nicht infrage gestellt werden. „So hat eben jede ihre Stärken. Aber meine Aufgabe ist es, die Schwächen der Mädchen aufzudecken und abzustellen“, sagt Paula über ihre Arbeit als Schaftführerin im Bund Deutscher Mädel (BDM). Dort müssen die Jugendlichen ständig Sport machen, Schwäche wird nicht geduldet.
“Ich will dazugehören und am Straßenrand zusehen. Mitmachen, mittendrin sein. Ich will die gleiche Uniform tragen, die Lieder singen“, denkt Paula bei einer NS-Veranstaltung. Ihr steht eine glänzende Zukunft bevor. Das System stellt sie nicht infrage. Sie folgt der Gruppendynamik der NS-Propaganda.
Zwischen Ideologie und der Kraft von Freundschaft
„Verlässt du mich nicht, verlass ich dich auch nicht.“ – Das ist der Freundschaftsspruch zwischen Paula und ihrer besten Freundin Mathilda. Beide treffen sich heimlich, da Paulas Eltern ihre Freundschaft mit Mathilda nicht mögen. Paula erzählt ihrer besten Freundin unbedarft und sorgenlos von ihrer Arbeit beim Bund Deutscher Mädel (BDM), während Mathilda ihren Fragen ausweicht, warum sie selbst dort nicht beitritt.
Mathilda erzählt ihr plötzlich, dass sie Halbjüdin ist. Ihre Mutter ist Jüdin und sie und ihre Familie haben Angst. „Erinnerst du dich an die brennende Synagoge, die eingeschlagenen Schaufenster, die Schilder „Kauft nicht bei Juden!“ und die jüdischen Mädchen, die ganz plötzlich nicht mehr zur Schule kamen? Erinnerst du dich an die HJler (Anmerkung der Redaktion: Hitler-Jugend) und SA-Männer, die Juden über die Promenade jagten? Siehst du nicht die gelben Bänke, die dort stehen?“, erzählt Mathilda erschüttert Paula von der Gewalt durch Nationalsozialist*innen an der jüdischen Bevölkerung, während Paula immer noch nicht versteht, was dies für das Leben ihrer besten Freundin bedeutet.
Dennoch bleibt sie ihrer besten Freundin treu und beide beschließen, sich Briefe über einen Baumbriefkasten zu schreiben. „Da ist der Führer und da ist Mathilda. Und zwischen ihnen ist eine hohe Mauer“, erkennt Paula und spürt, dass sie sich immer mehr entscheiden muss. Ihr Vater verbietet ihr, sich mit Mathilda zu treffen. Auch Mädchen im Bund Deutscher Mädel (BDM) setzen sie unter Druck. Paula hält trotzdem zu ihrer Freundin und beginnt, nachzudenken.
Widerstand im totalitären System?
Ihr neuer Geschichtslehrer Ackermann fördert bei den Schüler*innen genau dies: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Er erzählt der Schulklasse von Immanuel Kant und der Epoche der Aufklärung. Ermutigt sie, über ihre Werte nachzudenken und erzählt vom kategorischen Imperativ: „Handle stets so, dass das Gesetz deines Handelns zugleich auch allgemeines Gesetz werden könnte.“
Während die Klasse gegen Ackermann rebelliert, sucht sich Paulas jüngerer Bruder Hans einen eigenen Weg für Freiräume. Bei einer Büchersammelaktion mit von den Nationalsozialist*innen verbotener Literatur entwendet er heimlich Bücher von Erich Kästner und liest diese. Im Verborgenen leisten junge Menschen Widerstand, indem sie anders leben. Sie tanzen Swing, kleiden sich entgegen den Vorstellungen der Nationalsozialist*innen.
Paulas Familie zieht plötzlich in eine Villa. Sie ahnt zunächst nicht, woher der neue Reichtum kommt, beginnt aber nachzudenken, als ihr Vater ihr eine Brosche schenkt, die Mathilda gehört. Als Ackermann von der Gestapo öffentlich abgeholt wird, glaubt sie Mathilda alles. Entgegen den Befehlen ihres Vaters, vertritt sie immer mehr ihre eigene Meinung und schleicht ihrem Vater nach, um die Wahrheit herauszufinden. Sie hat sich entschieden.
Warum wir mehr über die Kinder der Täter reden müssen
Zöllers Jugendroman über die 15-jährige Paula geht auf wahre Begebenheiten zurück. Eine alte Frau rief sie an und bat sie, ein Buch über die Kinder der Täter*innen des Nationalsozialismus zu schreiben. Einer der Täter war ihr Vater und der Jugendroman basiert auf ihrer Lebensgeschichte. Vereinigungen wie die Hitlerjugend und der BDM haben die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus jugendgerecht aufbereitet, die Begeisterungsfähigkeit der Jugend ausgenutzt. Bei einer NS-Veranstaltung sagt Paula einer Freundin aus dem BDM: „Ja, so etwas vergisst man nie. Das brennt sich in die Seele ein.“ Ein Satz, der später eine ganz andere Bedeutung für sie gewinnen wird und sie ihr Leben lang beschäftigt hat.
Der Roman wirft Fragen auf, die auch junge Menschen in der heutigen Zeit beschäftigen müssen. Wie hättest du dich als Jugendliche während der Zeit des Nationalsozialismus verhalten? Wärst du Täter*in geworden oder in den Widerstand gegangen? Sicher stellte sich spätestens nach dem Geschichtsunterricht jeder einmal diese Frage. Je älter ich werde, desto schwerer fällt es mir, eine ganz klare Antwort geben zu können, ob ich die Propaganda durchschaut hätte.
Gerade während der Pandemie gehen Verschwörungstheorien, darunter auch antisemitische, erneut in Massenbewegungen durch die Welt. Menschen entzweien sich im persönlichen Umfeld. Hier lohnt sich insbesondere ein Blick auf die Kinder der sogenannten „Querdenker“ und Anhänger*innen der faschistischen Parteien. Welche Möglichkeiten haben sie, um eine andere Sicht auf die Welt zu bekommen? Selbst zu denken? Wie werden sie mal auf ihre Kindheit oder Jugend zurückblicken? Wie werden nachfolgende Generationen darüber sprechen? Welcher Widerstand ist möglich? Wo fängt Widerstand an?
Informationen zum Buch:
Buchtitel: Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
Autorin: Elisabeth Zöller
Verlag: Fischer Schatzinsel
Seitenzahl: 272
ISBN: 3596854474
Preis: 12,99 Euro (Gebundene Ausgabe)
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