Michael Mertes erlebt sie mit, die Zyklen der Macht. Ob als Chefredenschreiber von Bundeskanzler Helmut Kohl oder als Staatssekretär: „Alle Macht unterliegt vom ersten Augenblick an der Erosion.“ Warum kommen Niedergänge ins Rollen und lassen sich nicht mehr aufhalten? Was macht den Aufstieg eines Politikers erfolgreich? Was ist das Rezept hinter Erfolg und Niederlage?
Herr Mertes, wann mussten Sie feststellen, dass die Macht von Bundeskanzler Helmut Kohl unaufhaltsam bröckelt?
Ein genaues Datum kann ich nicht nennen. Alle Macht unterliegt vom ersten Augenblick an der Erosion. Das sieht man aber erst im Nachhinein ganz deutlich. Stellen Sie sich eine DAX-Verlaufskurve vor, die oben links beginnt und unten rechts endet. Auf diesem Weg gibt es Abschnitte, in denen die Kurve steil nach oben weist und vielleicht sogar ein „Allzeithoch“ oberhalb des Startpunktes erreicht.
Als ich im Mai 1987 die Leitung des Redenschreiberteams im Bundeskanzleramt übernahm, hörte ich Warnungen von verschiedenen Seiten: „Der Kohl, der ist doch ein Auslaufmodell! Warum bindest du dich an einen Verlierer?“ Diese Leute hatten ein paar starke Argumente auf ihrer Seite: In den Meinungsumfragen verlor Kohl an Zustimmung, und es gab innerhalb der CDU eine Reihe von Spitzenpolitikern und -politikerinnen, die ihn als Parteivorsitzenden und Bundeskanzler ablösen wollten.
Dann kamen der Fall der Mauer und die deutsche Einheit 1989/90. Kohl machte seine Sache hervorragend, und sein Ansehen im In- und Ausland kletterte für kurze Zeit in ungeahnte Höhen. Als dann die erste Euphorie über die Wiedervereinigung verebbte und die Mühen der Ebene begannen, fing sein Stern wieder zu sinken an. Jedenfalls im Inland – im Ausland blieb sein Ansehen weiterhin hoch.
Warum lassen sich Niedergänge in der deutschen Politik ab einem flexiblen Punkt überhaupt nicht aufhalten?
Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Ich will nur einige nennen: Der „Zauber des Anfangs“ verfliegt, der Reiz des Neuen schwindet. Irgendwann wirken der Mann oder die Frau an der Spitze wie lebende Fossilien, wie versteinerte Zeugnisse ihrer eigenen Vergangenheit.
Die Zahl der Jasager im Zentrum der Macht wächst; unangenehme Nachrichten werden verdrängt oder schöngeredet, der Kontakt zur Lebenswirklichkeit der Bevölkerung – früher hätte man gesagt: zum „Mann auf der Straße“ – reißt ab. Am Ende macht sich im Publikum eine „Wechselstimmung“ breit: „Lasst doch mal die andern ran, die haben neue Ideen und unverbrauchtes Personal!“ Dagegen ist kein Kraut gewachsen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder unterschied sich mit seinem Charakter, seiner Agenda 2010 und seiner erstmaligen Regierungskoalition mit Bündnis90/Die Grünen deutlich von seinem Vorgänger. Steht er damit beispielhaft für einen Aufstieg?
Die Leute hatten einfach genug von Kohl und seiner Regierung, um es platt zu sagen.
Dass man eine alte Regierung abwählen kann, galt jedenfalls noch zu Zeiten, als Zweierkoalitionen, bestehend aus einer großen und einer kleinen Partei, der Regelfall waren. Der Niedergang der Volksparteien – Union und SPD – führt aber vielleicht dazu, dass Dreierkoalitionen im Bund normal werden.
Dadurch wird der Zyklus von Machtgewinn und Machtverlust gestört. Man muss sich nur einmal klar machen, dass die SPD praktisch seit 1998 – mit Ausnahme der Wahlperiode 2009 bis 2013 – Regierungspartei im Bund ist, und sie wird es, wenn die Ampel durchhält, zumindest bis 2025 bleiben. Das wären dann unterm Strich immerhin 23 Jahre.
Wann erkenne ich als Politiker, dass ich an meinem Höhepunkt angekommen bin?
Ich denke, der Volksmund hat recht, wenn er sagt: „Man soll aufhören, wenn’s am schönsten ist.“ Der Moment des Triumphs ist oft zugleich der Moment, in dem der Abstieg beginnt. Ich hätte Bundestrainer Joachim „Jogi“ Löw nach dem Fußballweltmeistertitel für die deutsche Männer-Nationalmannschaft 2014 in Brasilien geraten, seinen Hut zu nehmen.
Da hätte es zunächst zwar großes Wehklagen gegeben, aber sein Ruhm würde heute nicht getrübt durch die WM-Pleite 2018 und die EM-Pleite 2021. Zumindest sich selbst hätte Jogi Löw also einen Gefallen getan, aber vielleicht hätte er so auch einen erfolgreichen Neustart für seinen Nachfolger ermöglicht.
Immerhin hat Gerhard Schröder zweimal die Vertrauensfrage gestellt und beim zweiten Mal Neuwahlen ausgelöst. Es könnte auch als gefährliche Schwäche oder Fehler gesehen werden, sich seinen nahenden Niedergang offen einzugestehen.
Es wird Sie nicht überraschen zu hören, dass ich kein Fan von Gerhard Schröder bin, aber ich erkenne mit Hochachtung an, dass er als Bundeskanzler einige Male großen Mut bewiesen hat – nicht zuletzt mit der Agenda 2010, die er gegen beachtliche Teile seiner Partei durchsetzte.
Meines Erachtens ist es nicht „gefährlich“, wie Sie sagen, sich im stillen Kämmerlein einzugestehen, dass die eigene Macht zu erodieren beginnt. Ganz im Gegenteil, von einem Macht-Inhaber erwarte ich, dass er auch in schwieriger Zeit zur selbstkritischen Reflexion fähig ist – dass er Chancen und Risiken abzuwägen weiß. Mächtige, die sich an die Macht klammern, imponieren mir nicht.
Sie haben sich in Ihrem Buch intensiv mit Bundeskanzlerin Angela Merkel befasst. Was war ihr anfänglicher Zauber, der die Wählerinnen und Wähler überzeugen konnte?
Es gibt etwas – Sie kennen es sicher auch aus ihrem privaten Leben –, das man als „Kraft der Naivität“ bezeichnen könnte. Alte Hasen winken müde ab, wenn ihnen ein ungewöhnlicher Vorschlag gemacht wird. Die Mühlen des politischen Alltags haben ihren ursprünglichen Idealismus pulverisiert. Sie kennen die Widerstände, mit denen man in der Politik zu kämpfen hat, sie sind zermürbt von der Zähigkeit, mit der die Bedenkenträger alles zerreden.
Die Neuen hingegen machen sich frohgemut ans Werk. Sie sind unbefangen, neugierig und tatendurstig. Sie glauben an ihre Ziele und haben genug Energie, um sich durchzusetzen. Das erzeugt eine Aura, die man als „Zauber“ oder „Magie“ bezeichnen kann.
Merkels „Zauber“ wurde jedoch schnell auf die Probe gestellt: Griechenland-Hilfen, Euro-Krise, Flüchtlingsdebatte, Klima. Wie können aus Krisen wieder Höhenflüge werden? Hat die CDU inhaltlich ihre Kernthemen verlassen? Hat Angela Merkel zu spät ihren Niedergang erkannt und damit Neuanfänge der CDU erschwert? Erfahrt es in Kürze im zweiten Teil des Interviews.
Über das Buch „Zyklen der Macht“ hat f1rstlife-Chefredakteur Timo Gadde mit Michael Mertes nach seinem Vortrag für die Jakob-Christian-Adam-Stiftung und das Seniorenhaus St. Josef in Meckenheim gesprochen. Mehr über das Buch von Herrn Mertes erfahrt Ihr hier: https://www.amazon.de/Zyklen-Macht-Stagnation-Aufstieg-Niedergang/dp/3416040848
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