Vor mehr als drei Jahren hatte ich ein Gespräch mit einer jungen Frau. Sie hieß Marisol. Sie hatte einen kahlen Kopf und lag im Krankenbett, angeschlossen an vier piepsende Maschinen, die jeden Herzschlag aufzeichneten. Und doch strahlte sie über das ganze Gesicht. Sie war glücklich, denn sie hatte eine schwere Krankheit überstanden. Leukämie. Es war ein ungewöhnliches Gespräch mit ihr, in dem sie mir eine Geschichte erzählte, die meine Sichtweise auf das Leben für immer änderte.

Die Geschichte, die mein Leben änderte
„An einem Donnerstagmorgen stand ein Musiktest in der Schule an. Ich war allerdings viel zu müde, um zu lernen und deshalb beschloss ich, mich krankschreiben zu lassen. Ordentlich ausschlafen und den Test nächste Woche nach¬schreiben also. Dazu musste ich mir jedoch ein Attest holen. Ich ging zum Arzt und um das Attest auch wirklich zu bekommen, holte ich richtig weit aus. Ich zählte alles auf, was in der letzten Zeit merkwürdig gewesen war. Der Arzt schickte mich daraufhin direkt ins Krankenhaus und ich weiß noch, dass ich mich dafür schämte, weil ich Angst hatte, doch zu dick aufgetragen zu haben. Im Krankenhaus ging dann plötzlich alles ganz schnell: Blutabnahmen, Infusionen, Medikamente und Hektik – das volle Programm. Für mich war das alles ein riesiger Schock.
Zwei Tage später, am Samstagmorgen, kam dann der Arzt zu mir, setzte sich neben mein Bett und sagte: ‚Marisol, Sie haben Krebs!‘
Irgendwie hatte ich nach all dem Wirbel um mich schon mit etwas Schlimmeren gerechnet. Doch erst als der Arzt diesen Satz sagte, wurde es plötzlich real. In den folgenden Minuten erklärte er mir, was in meinem Körper passieren und was alles auf mich zukommen würde. Obwohl er laut mit mir sprach, nahm ich eigentlich nur seine Mundbewegungen wahr, denn meine Ohren waren wie taub. In meinem Kopf drehte sich alles um einen Gedanken: ‚Du hast Krebs! Du hast Krebs! Du hast Krebs! Du hast Krebs!‘ Ich konnte die Situation gar nicht begreifen.
Als der Arzt aufstand, liefen mir die Tränen über die Wangen, weil mich eine riesengroße Angst packte. Ich schrieb allen Freunden, die wussten, dass ich im Krankenhaus lag, einfach nur einen Satz: ‚Ich habe Krebs.‘ Ich glaube, ich erhoffte mir an deren Reaktion endlich zu spüren, was eigentlich gerade mit mir passiert. Es fühlte sich unecht an, bis mich die ersten weinend anriefen und sich auf den Weg zu mir machten.
Am Abend kam der Arzt noch einmal vorbei und sprach mit mir. Ich fragte ihn, wie lange ich denn realistischerweise noch zu leben hätte mit dieser Diagnose. Er sagte, dass es auf diese Frage keine richtige Antwort gebe. ‚Ich möchte Sie nicht verängstigen oder Ihnen etwas versprechen, Marisol‘, sagte er ‚aber wenn sie in einem Jahr noch leben, dann sollten sie sich glücklich schätzen.‘
Ich schaute ihn an und fing wieder an zu weinen. Es dauert knapp zwei Stunden bis ich mich beruhigt hatte. Doch dann wurde mir auf einmal Folgendes klar: Wenn ich noch ein Jahr zu leben habe, dann habe ich noch genau 365 Tage vor mir, die ich genießen kann. Am Tag danach ging ich spazieren, um nachzudenken. Auf dem Rückweg sammelte ich 365 kleine Kieselsteine. Ich nahm sie alle mit nach Hause und warf sie in einen riesigen Eimer. Seitdem habe ich jeden Tag nach dem Aufstehen den Eimer unter dem Bett hervorgeholt, einen Stein aus dem Eimer genommen und ihn aus dem Fenster geworfen – denn ich hatte wieder einen Tag weniger in meinem Leben.
Es ist verrückt, aber erst wenn man sehen kann, wie die Kieselsteine jeden Tag weniger werden, beginnt man, sich auf die wichtigen Dinge im Leben zu konzentrieren und die unnö¬tigen Dinge wegzulassen. Man verbringt den Abend nicht mehr alleine zuhause um Netflix zu schauen, sondern trifft sich mit seinen Freunden und quatscht den ganzen Abend lang. Man schläft morgens nicht mehr bis elf Uhr, sondern steht auf, um an dem Buch zu schreiben, das man schon immer schreiben wollte. Manchmal kommt es mir so vor, als bräuchten viele von uns erst einen Weckruf, um ihr Leben bewusst zu leben. Es scheint so, als müssten wir erst im Sterben liegen, bevor wir merken, dass wir jeden Tag leben“, sagte Marisol und seufzte laut.
Einzig das Piepen der Maschinen füllte die Stille, die den Raum durchdrang. Ich schaute Marisol an und griff mit meinen eiskalten Händen nach ihrer Hand, beinahe so als bräuchte ich jemanden, der mich festhielt, um diese Worte zu verarbeiten.
Ich weiß nicht mehr, wie lange Marisol und ich danach noch erzählten. Vielleicht waren es zwanzig Minuten, vielleicht aber auch eine Stunde. Ich weiß nur noch, dass irgendwann eine Krankenschwester in das Zimmer kam und mich höflich bat, es zu verlassen, da die Besuchszeit abgelaufen war. Ich legte meinen Mundschutz ab und zog meine Schutzkleidung aus, die ich anhatte, um Marisol vor einer Infektion zu schützen. Dann schaute ich ihr in die Augen und sagte: „Danke für das tolle Gespräche mit dir!“
Marisol beugte sich vor und legte ihre rechte Hand auf meinen Arm. „Ich habe zu danken. Schön, dass wir uns kennengelernt haben, Pascal!“
Mit einem zärtlichen Lächeln auf den Lippen tauschten wir einen letzten Blick voller gegenseitiger Wertschätzung aus, bevor ich mich umdrehte und langsam das Zimmer verließ.
Aufgeschobener Lebensplan
Als ich eingequetscht zwischen hunderten Touristen mit der S-Bahn zurück zu meinem kleinen AirBnB-Apartment in Berlin Mitte fuhr, schwirrten mir Marisols Worte immer wieder im Kopf herum. Sie waren wie eine Art Therapie für mich. Ich dachte zum ersten Mal in meinem Leben bewusst über das Sterben nach und überlegte mir, wie es wäre nur noch ein Jahr zu leben. Es war ein befremdlicher Gedanke, der eine Gänsehaut verursachte, die sich in meinem Nacken und über meinen gesamten Rücken ausbreitete.
Einige Wochen später erzählte ich meinem Kumpel Jochen bei einem Wein von der Begebenheit mit Marisol. Als er die Geschichte gehört hatte, warf er mir einen nachdenklichen Blick zu und sagte: „Ich finde, es gehört zu den eigenartigsten Dingen im Leben, dass wir glauben, unsterblich zu sein.“
„Was meinst du damit genau?“, fragte ich ihn.
„Nun ja, wir denken, wir könnten Dinge verschieben, weil wir ja noch so viel Zeit und Gelegenheit dazu haben. Aber das ist eines der größten Missverständnisse unserer Zwanziger. Wir denken, wir seien erst 20, 22 Jahre oder hätten irgendein anderes Alter, bei dem wir in unserem Kopf aufhören könnten weiterzudenken, weil wir ja noch so unendlich viel Zeit haben. Aber das geht nicht ewig so weiter. An irgendeinem Tag kommt das Ende. Bei manchen später, doch bei vielen früher als gedacht.“
„Mhm“, machte ich und musste unweigerlich an den Begriff “Deferred Life Plan” (deutsch: aufgeschobener Lebensplan) denken, über den ich einige Tage zuvor in einem Artikel gestolpert war. Mit diesem Begriff beschrieb Randy Komisar, der Autor des Artikels, die menschliche Neigung, Wünsche auf später zu verschieben. Es sei für uns in Ordnung, so Komisar, dass wir jetzt nicht glücklich sind, solange wir es in der Zukunft sein werden. Darauf würden wir unter allerlei Entbehrungen hinarbeiten. So verbrächten wir mehr Zeit damit, uns auf das vorzubereiten, was wir tun wollen, als damit, es tatsächlich zu tun.
Diesen Gedanken schrieb ich damals auf, dachte aber er sei ein alter Hut. Schließlich ist längst bekannt, dass viele Menschen ihr Glück auf später verschieben. Die Rente ist das prominenteste Beispiel für „später“. Bei ihr ist eigentlich auch bekannt, dass sie selten glücklicher verläuft als das Arbeitsleben. Wer in die Rente eintritt, fühlt sich in den ersten Wochen befreit, wie in einem Urlaub. Doch dann sinkt die Zufriedenheit der Neu-Rentner auf ihr Normalniveau zurück. Wer schon im Arbeitsleben unzufrieden war, ist es im Rentenalter auch. Kaum ein Rentner macht jene Dinge, die er sich vorgenommen hatte. Menschen stecken in ihren Routinen fest. Das ist nicht neu. Dennoch scheinen die meisten zu glauben, bei ihnen würde es anders verlaufen. Sie denken immer noch: „Erst rackern, dann genießen.“ Manchmal denke ich es noch selbst. Unser Lebenslauf ist ja schließlich so vorgesehen: Jetzt rackern, damit wir später mal glücklich sein können.
Jetzt rackern, damit wir später mal glücklich sein können
Es beginnt in der Grundschule, wo wir Sternchen und gute Noten brauchen, um später aufs Gymnasium zu dürfen. Dort wiederum müssen wir gute Leistung bringen, um Jahre später einen guten Studien- oder Ausbildungsplatz zu finden. Dann lernen wir unter Hochdruck, um einen guten Job zu bekommen. Nach ein paar Jahren schieben wir vielleicht noch den Master hinterher, wenn wir ihn nicht schon sofort gemacht haben. Dann knien wir uns rein für Gehaltserhöhungen, Beförderungen, den nächsten Urlaub und natürlich auch für eine gute Rente. Von der Einschulung bis zur Rente sind es 61 Jahre, in denen wir immer auf ein späteres Glück hinarbeiten. So kann man ein Leben auch herum bekommen!
Wenn ich in meinen Bekanntenkreis schaue, dann entdecke ich die „Erst rackern, dann genießen“ – Haltung ziemlich oft. Ein selbständiger Freund sprach letztens von „Aufbauarbeit“, die er aktuell leiste. Er müsse nur noch dieses Jahr ranklotzen, dann würde endlich alles besser werden. Oder nehmen wir die Geschichte meines alten Schuldfreundes Lukas, den ich zuletzt vor zwei Jahren sah, da er weit weg wohnt und kaum noch Zeit hat, in die Heimat zu kommen. Damals traf ich ihn kurz vor Weihnachten, am frühen Abend. Er hatte genau eine Stunde für mich. Am Ende dieser Stunde erzählte er mir, wie gerne er einmal eine Weltreise machen würde. „Weißt du, so ein paar Monate lang durch Asien, Australien, Neuseeland reisen … das wäre überragend!“, sagte er und ein Lächeln huschte über sein oftmals so ernstes Gesicht.
„Aber?“, fragte ich.
„Aber ich muss auf meinen Bonus warten. Wenn ich den habe, dann bin ich weg, das garantiere ich dir!“
Er ist bis heute nicht weg gewesen.
Neulich las ich irgendwo, dass es der Sinn des Lebens sei, die kleinen und großen Momente des Lebens zu genießen. Das sei alles. Und mehr Sinn gibt es wohl tatsächlich nicht. Wir versuchen alle, das Beste aus unserem Leben zu machen, denken dabei aber sehr langfristig. Zu langfristig. Wir verlieren den Moment aus den Augen und vergessen das Wesentliche: das Leben.
Aber wie kann man anfangen den Moment zu genießen und das Leben tatsächlich zu leben? Das ist gar nicht so leicht. Denn die meisten von uns sind sehr schlecht darin – mich eingeschlossen – da wir uns ständig von unserem Verstand in die Irre führen lassen. Ständig denken wir an morgen oder gestern, selten bis gar nicht an heute.
1.000 Kieselsteine
Wenn ich auf meine Begegnung mit Marisol zurückblicke, dann wird mir klar, was mir persönlich geholfen hat „tatsächlich zu leben“: das Gespräch mit ihr. Es half mir, mich selbst zu reflektieren, Verantwortung für meine Entscheidungen zu über¬nehmen und jeden einzelnen Tag zu nutzen. Aber das waren nur die Nebeneffekte einer tieferen, viel wichtigeren Lektion. Und diese Lektion war: Das Leben ist zu kurz, um Träume auf später zu verschieben. Schließlich könnte es morgen schon vorbei sein. Und mich daran zu erinnern, dass meine Zeit vergänglich ist, egal ob durch Meditation, Gespräche oder verrückte Sachen, wie mich auf die Kante eines Felsens zu stellen, ist die einzige Sache, die mir geholfen hat, meine Träume anzugehen – heute und nicht morgen.
Vor zwei Tagen schickte mir Marisol übrigens ein Bild von einem Kuchen mit der Zahl 1000 oben drauf. Unter das Bild schrieb sie: Gestern habe ich meinen tausendsten Stein aus dem Fenster geworfen. Ich habe an dich gedacht. Ich hoffe, du hast einen wundervollen Tag!
Ich strahlte über das ganze Gesicht.
So wie sie damals.
Schön geschrieben! Hoffe, es regt Einige zum Umdenken an…
Danke! 🙂
Sehr inspirierend