Seit Wochen werben Politiker in Deutschland um Stimmen. Am Sonntag finden die Bundestagswahlen statt. Als junge Frau mit Behinderung fühle ich mich oftmals leider nur mäßig angesprochen. Ein Kommentar von Andrea Schöne.

In der Wahlarena stellte die Journalistin Natalie Dedreux Bundeskanzlerin Angela Merkel für mich eine entscheidende Frage: „Wie stehen Sie zum Thema Spätabbruch? Wieso darf man Babys mit Down-Syndrom bis kurz vor der Geburt noch abtreiben?“ Natalie Dedreux lebt mit Down Syndrom und ist Redakteurin des Magazins Ohrenkuss, das von Menschen mit Down Syndrom geschrieben wird.

Zwei Tage zuvor hörte ich Frau Dedreux auf einem Fachkongress über Inklusion in Köln. Dort berichtete sie über die Touchdown 21, eine Ausstellung mit und über Menschen mit Behinderung. Auch dort erklärte sie ihre Wut über die Abtreibung von Kindern mit Down Syndrom.
Frau Merkel gab keine direkte Antwort auf ihre Frage, wies darauf hin, dass Eltern, die einen sogenannten Spätabbruch vornehmen wollen, vorher eine Beratungsstelle aufsuchen müssen. Und verwies auf das Bundesteilhabegesetz als ein Erfolg der letzten Legislaturperiode. Ein Gesetz, das unter Menschen mit Behinderung sehr viel Widerstand hervorgerufen hat.
Wählerin zweiter Wahl
Viele Medien berichteten über Frau Dedreuxs Frage an die Bundeskanzlerin. Für mich ein kleiner Lichtblick. Die Belange von Menschen mit Behinderung und Inklusion spielten im Wahlkampf keine Rolle. Ich fühle mich etwas als Wählerin zweiter Wahl, nicht weil ich tatsächlich schon „Zweitwählerin“ bin. Sondern viel mehr, weil auch ich eine Behinderung habe. Ich bin kleinwüchsig. Gleichzeitig finde ich meine Interessen als junge Frau ebenfalls nicht im Wahlkampf vertreten.
80.000 Menschen mit Behinderung in Deutschland dürfen gar nicht bei den Bundestagswahlen ihre Stimme abgeben, weil sie einen Betreuer gesetzlich zugesprochen bekommen haben. Der Ausschluss vom Wahlrecht widerspricht der UN-Behindertenrechtskonvention. Es ist ein Menschenrecht.
Was sagen die Parteiprogramme zu Inklusion?
Warum gibt es im Wahl-O-Mat keine Frage zu Belangen von Menschen mit Behinderung? Warum wurde Inklusion nicht im TV-Duell angesprochen? Oder trügt mein Blick nur und Themen, wie beispielsweise der Ausbau des inklusiven Schulsystems, sind in der Vielfalt der Themen untergegangen? Die Bundesbildungsministerin Wanka bekam die Chance, ihre Position zu inklusiver Bildung zu äußern und nutzte sie nicht. Sie wurde zu einer Podiumsdiskussion über inklusive Bildung auf einem Fachkongress in Köln eingeladen. Aus Zeitgründen sagte sie ab.
In Parteiprogramm der etablierten Parteien kommt das inklusive Schulsystem nur zwei Mal zur Sprache: Die Linke will eine Schule für alle nach den Kriterien der UN-Behindertenrechtskonvention schaffen, für komplette Barrierefreiheit an den Schulen sowie den Rechtsanspruch auf inklusive Bildung in jedem Schulgesetz. Die AfD ist gegen ein inklusives Schulsystem und will das Sonder- und Förderschulsystem erhalten.
Die etablierten Parteien haben meist nur unzureichende Antworten auf die Belange behinderter Menschen. Frau Dedreux stellte beispielsweise ihre Frage auch am Wahlstand der Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ in Bonn. Eine Antwort bekam sie wieder nicht, dafür bot man ihr einen Luftballon oder ein Windrad an (erst deutlich später hat sich die Partei per Nachricht bei ihr gemeldet). Die neue Partei „Demokratie in Bewegung“ dagegen spricht sich klar für Inklusion in allen Lebensbereichen aus. Menschen mit und ohne Behinderung machen hier Politik und kandidieren für den Bundestag.
Wie sieht es mit Barrierefreiheit aus?
Am Sonntag gehe ich ins Wahllokal und mache meine Kreuze auf den Wahlzettel, eigentlich ganz einfach. Mein Wahllokal ist barrierefrei. Viele Wahllokale in Deutschland jedoch nicht. Dies verdeutlicht alleine schon die Dringlichkeit von Belangen behinderter Menschen in der Politik. Wenigstens bieten manche Parteien von selbst ihr Wahlprogramm auch in leichter Sprache oder Gebärdensprache an.
Was ich mir wünsche

Mein Wunsch nach Inklusion ist ein Menschenrecht, leider fehlt in vielen Bereichen der politische Wille zur Umsetzung. An dieser Stelle lohnt sich der Blick in andere europäische Länder. Ich studierte ein Jahr in Italien, dort wird seit 40 Jahren ein inklusives Schulsystem gelebt. Das erste Mal in meinem Leben war ich nicht mehr die einzige mit einer Behinderung im öffentlichen Leben. Zum ersten Mal fühlte ich mich nicht anders, sondern nur als Mensch.
Im Mai hat das Bundesjugendministerium junge Menschen nach Berlin eingeladen, um über Jugendpolitik zu diskutieren. Am Ende stellten wir Forderungen an die Bundespolitik. Wir träumten von einer Schule für alle, die niemanden ausschließt und Barrierefreiheit. Junge Menschen wünschen sich ein Ende der Aussonderung von Menschen mit Behinderung. Letztendlich tauchen unsere Forderungen im Parteiprogramm nur dürftig auf. Warum nimmt die Bundespolitik die Meinung junger Menschen nicht ernst?
Ich wünsche mir verpflichtende Barrierefreiheit für mein Lieblingscafè um die Ecke. Ich möchte reisen, ohne andere Menschen um Hilfe bitten zu müssen, weil der Zug Treppenstufen hat. Mein Auslandsstudium in Italien wäre fast gescheitert.
Nach vielen Telefonaten und Diskussionen wollte mir wegen meiner Behinderung nur eine Versicherung eine Auslandskrankenversicherung geben. Mein Studentenwerk telefonierte sich bis zu den Ministerien durch. Dort sei das Problem bekannt, aber eine Lösung gäbe es nicht. Keinem Kind mit Behinderung darf der Besuch einer Regelschule verwehrt bleiben. Ich möchte ernst genommen werden mit meinen Interessen und Belangen und keine Bittstellerin sein, denn niemand darf wegen einer Behinderung benachteiligt werden. So steht es schon im Grundgesetz.
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