Sollte man heute noch die SPD wählen, wenn man sich soziale Gerechtigkeit wünscht? Wofür steht die Partei mittlerweile? Und wieso wollen so viele Jugendliche die Union wählen? f1rstlife hat den Journalisten und Politologen Dr. Stephan Kaußen gefragt.
Im diesjährigen Bundestagswahlkampf gibt es zwei Phänomene: Angela Merkel verbucht nach rund zwölf Jahren an der Spitze des Landes weiterhin hohe Zustimmungswerte und die Sozialdemokratie hat ihren “Sexappeal” verloren. Wenn es in Deutschland bislang auch noch nicht so dramatisch um sie bestellt ist wie in anderen Teilen Europas: Bei der Bundestagswahl in wenigen Tagen droht die SPD ihr historisch schlechtestes Ergebnis einzufahren. Kritiker werfen ihr vor, die programmatische Nähe zur CDU habe sie entzaubert und für viele unattraktiv gemacht.
Ist das so? Sollte man heute noch die SPD wählen, um soziale Gerechtigkeit in den nächsten vier Jahren zu bekommen? Und wieso würden fast 30 Prozent der Jugendlichen die Union wählen, wenn sie könnten? Über diese Themen spricht f1rstlife wenige Tage vor der entscheidenden Wahl mit dem Politologen und Journalisten Dr. Stephan Kaußen. Er hat 2015 das Buch „Europas Zeitenwende – Strukturelle Macht als Bumerang des Westens“ herausgebracht, in dem er von einem notwendigen Umdenken in Politik und Gesellschaft spricht. Der Politologe betrachtet viele politischen Geschehnisse aus einer alternativen Perspektive.
Herr Kaußen, woran liegt es, dass die Sozialdemokratie so unattraktiv geworden ist?
Ich glaube nicht, dass die Sozialdemokratie an sich als Idee unattraktiv geworden ist. Ich glaube aber, dass die „modernen Gesellschaften“ sehr stark dem neoliberalen Zeitgeist unterliegen und dass die Sozialdemokratie an sich den Fehler gemacht hat, diesem Mainstream kein Alternativkonzept entgegenzustellen.
Ich glaube, dass der Zusammenbruch des Ostblocks insgesamt zur Diskreditierung des Begriffes „sozial“ geführt hat, denn sozial steckt ja bekanntlich auch im großen, ideologischen Begriff Sozialismus – und man meinte mit dem „Sieg“ des Kapitalismus über den Sozialismus quasi auch das Soziale vernachlässigen zu können. So ist aus der sozialen Marktwirtschaft, wie sie in Deutschland eigentlich staatsprägend sein sollte, eher eine neoliberale, also konsequente Marktwirtschaft, geworden, und das gilt für weite Teile Europas.
Müsste man in diesem Fall nicht davon ausgehen, dass der Durchschnittsbürger gerade deshalb eine Partei wählt, die für mehr soziale Prinzipien eintritt? Das schreibt sich klassischerweise die SPD auf die Fahne.
Das müsste tatsächlich so sein! Aber ich fürchte, dass die meisten Menschen von einer Abstiegsangst gedrängt sind und mittlerweile den Mut zu grundsätzlichen Veränderungen verloren haben. Nach dem Motto: Lieber ein kleines Stück Sicherheit, als nach grundsätzlicher Veränderung zu streben. Fakt ist aber, dass über die Jahrzehnte eine wirtschaftliche Elite in Deutschland und Europa von einem sehr großen Wachstum der Gewinne und Einnahmen in oberen Einkommensbereichen profitiert hat, während es im mittleren und unteren Segment eine Stagnation gegeben hat. Es ist kurios, dass eine große Mehrheit von Bürgern diese Zusammenhänge erkennt oder zumindest fühlt, sich aber nicht mutiger dagegen wehrt.
Ist es denn überhaupt sinnvoll, die SPD zu wählen, um die von Ihnen beschriebene Situation in den mittleren und unteren Einkommensschichten zu verändern? Viele Kritiker werfen der SPD vor, zunehmend das Klientel der CDU statt das der „kleinen Leute“ zu bedienen.
Konsequenterweise müsste man heutzutage tatsächlich “Die Linke” wählen, um ernsthafte Veränderungen herbeizuführen. Aber das Image der Linken ist immer noch belastet von den Zusammenhängen, die ich eingangs erwähnte, nämlich dem Sozialismus. Ich glaube zwar nicht, dass Sozialismus eine bessere Alternative wäre als die Grundordnung des Kapitalismus, aber zu behaupten, der Kapitalismus hätte auf ganzer Linie gesiegt, wäre ebenso falsch – wird von Historikern und Politikern der Mitte aber allgemein so vertreten. Ich bin der festen Überzeugung, dass der neoliberale Ansatz neben vielen Gewinnern auch ganz viele Verlierer produziert. Je größer der Abstand zwischen beiden wird, desto gefährlicher für den sozialen Frieden und damit auch für die beste politische Grundordnung, die man sich eigentlich vorstellen kann, nämlich unsere parlamentarische Demokratie.
Ich würde gerne noch kurz bei der SPD bleiben. Sie beschreiben, dass die SPD nicht mehr substanziell für das Soziale zu stehen scheint. Aber ist das der einzige Grund für ihre schlechten Umfragewerte? Was denken Sie: Warum hat die SPD an Wählern verloren?
Die SPD hat nicht mehr wie früher ein visionäres Konzept, wie es etwa Willy Brandt noch stark gemacht hat. Über die Ära Helmut Schmidts und erst recht die Gerhard Schröders ist die SPD sehr wirtschaftskonform und marktliberal geworden. Als dann mit dem Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück ein zwar hochintelligenter, aber auch hochbezahlter Funktionär, die Fahne der Sozialdemokratie hochhalten sollte, wurde das gesamte Konzept doch sehr unglaubwürdig. Über die Agenda 2010 und die hohen Vortragshonorare eines Spitzenkandidaten wie Steinbrück hat die SPD viele Menschen ihrer Basis enttäuscht und konsequenterweise wieder verloren.
Martin Schulz wirbt mit dem Slogan „Mehr Gerechtigkeit“. Was genau müsste passieren, damit dieser Slogan auch wieder zu der Partei passt, inwiefern müsste sich die SPD da verändern?
Aus meiner Sicht hätte Martin Schulz genau der richtige Kandidat zum richtigen Zeitpunkt sein können, aber auch er hat nicht den nötigen Mut zur Konsequenz aufgebracht. Über die Monate scheint es ihm seinen Worten nach zu urteilen doch wichtiger, mit der regierenden und auch das Land dominierenden Mitte und dem konservativen Spektrum konform zu gehen. Ich persönlich hätte es besser und konsequenter gefunden, offensiver für Rot-Rot-Grün zu werben, denn nur das hätte aus meiner Wahrnehmung eine echte Alternative dargestellt. Auch wenn Die Linke außenpolitisch zum Teil abenteuerliche, zum Teil naive Vorstellungen vertritt, hätte man doch Gemeinsamkeiten stärken und in den Vordergrund rücken sollen.
Martin Schulz hat es bewusst nicht versucht, sich an Die Linke anzunähern. Was meinen Sie, was war der Grund dafür? Sie haben ihn bereits vor seiner Kanzlerkandidatur kennen gelernt.
Tatsächlich bin ich von der Kanzlerkandidatur enttäuscht, weil die hervorragende Ausgangsposition durch einen Mainstream-Wahlkampf verspielt wurde. Schulz hätte sowohl die Solidarität in Europa als auch ein kulturelles Alternativkonzept gegen den Neoliberalismus stark machen sollen und die Menschen hätten ihm sicherlich zugehört, gerade weil er nicht Teil der bundesdeutschen Koalition war. Ich weiß nicht, welche Agenturen und Berater ihn im Wahlkampf geleitet haben, ich empfindende die letzten Monate aber regelrecht als eine verschwendete Chance durch Harmlosigkeit.
Was meinen Sie mit „Harmlosigkeit”?
Ich habe ein ganz klares Alternativkonzept vermisst, zum Beispiel in Bezug auf den ökologischen Umbau der Wirtschaft und damit insgesamt in Bezug auf die Idee der Nachhaltigkeit. Mir erscheinen die Parteien der etablierten Mitte – und noch viel stärker die Kräfte, je weiter man nach rechts wandert – immer nur damit beschäftigt zu sein, die Probleme im Hier und Jetzt anzugehen. Das ist aber viel mehr Symptombehandlung als grundsätzliche Weichenstellung im Sinne von Nachhaltigkeit.
Wozu würden Sie unter den genannten Umständen raten: Soll die SPD – falls diese Möglichkeit nach Sonntag gegeben ist – erneut in eine große Koalition gehen oder eher in die Opposition, wo sie Gelegenheit dazu hätte, sich neu zu erfinden?
Die Umfragen deuten auf eine Große Koalition hin und man kann auch wirklich nicht bestreiten, dass es Deutschland en gros sehr gut geht, gerade im internationalen Vergleich. Ich halte große Koalitionen jedoch deshalb für gefährlich, weil sich logischerweise unzufriedene Teile der Gesellschaft umso stärker radikalisieren, je weniger die Opposition eine hörbare Rolle spielt. Deshalb bin ich geneigt zu sagen, dass die SPD in der Opposition besser aufgehoben wäre, auch wenn es dann vermutlich vier weitere Jahre ein „Weiter so!“ gibt. Ohne starke Opposition droht aus meiner Sicht aber die viel größere Gefahr eines weiteren Erosionsprozesses unserer demokratischen Grundordnung an sich.
Sie haben das Thema Nachhaltigkeit angesprochen: Mittlerweile wird immer stärker erkannt, dass neben der Umweltpolitik auch Wirtschaftspolitik zu einer nachhaltigen Politik dazu gehört. Also zum Beispiel gerechtere Handelsabkommen mit afrikanischen Staaten, damit nicht noch mehr Menschen aus ihrer Heimat fliehen müssen. Welche Partei vertritt den Nachhaltigkeitsaspekt derzeit am besten?
Eindeutig die Grünen. Und wenn es in der letzten Woche des Wahlkampfes noch einen wichtigen Akzent gegeben hat, dann die Rückbesinnung der Grünen auf ihr eigentliches Kernthema Ökologie. Gerade deshalb hätte ich den Mut zu einer alternativen Politik begrüßt, weil sowohl die Grünen als auch die Linken das Thema Nachhaltigkeit viel stärker auf der Agenda haben als SPD und Union.
Nachhaltigkeit bedeutet übrigens neben ökologischen Aspekten auch ganz wichtige soziale: Bessere Bezahlung von Pflegekräften und Allgemeintätigen in sozialen Berufen, also alles was mit Bildung, Erziehung und Gesundheit zusammenhängt. Der größte Skandal der neoliberalen Politik und Gesellschaftsordnung ist, dass die Berufe, in denen man auf das Geld aufpasst, so viel besser bezahlt werden als jene, in denen man auf Menschen aufpasst. Sozial wäre, das ganz klar zu stärken, was unsere Gesellschaft sowohl generationsübergreifend als auch schichtenübergreifend zusammenhält und das sind die Berufe in den Bereichen Bildung und Soziales.
Vor Kurzem wurde die U18-„Bundestagswahl“ durchgeführt. Dabei kam heraus, dass die Union mit 28,4 Prozent die stärkste Partei wäre, wenn Jugendliche am kommenden Sonntag mitwählen dürften. Was ist ihre Erklärung dafür, dass die Jugendlichen sich so entschieden haben?
Ganz einfach: Den meisten Jugendlichen geht es heute so gut wie keiner anderen Generation zuvor. Damit sind sie Teil der etablieren Verhältnisse und sie halten diese Verhältnisse natürlich auch für normal und dauerhaft. Weil in der modernen Gesellschaft leider nur noch im Hier und Jetzt gedacht wird, fallen größere Denklinien und Perspektiven oftmals unter den Tisch. Wenn die jungen Leute die Probleme wirklich realisieren würden, die fast zwangsläufig auf sie zukommen, dann würden sie eben nicht die etablierten Strukturen stärken, sondern nach alternativen Konzepten geradezu lechzen.
Welche Probleme meinen Sie genau?
Drei Beispiele. Erstens: Was nützt unser derzeitiger Wohlstand, der größer ist als je zuvor, wenn er so eklatant auf Kosten der Umwelt erwirtschaftet wird? Was hilft die Orientierung am Erhalt etablierter Arbeitsplätze beispielsweise in der Automobilindustrie, wenn diese ebenso wie der Energiesektor alles andere als nachhaltig denkt und handelt? Wir müssen endlich die ökologischen Folgekosten unseres Handelns stärker bedenken!
Zweitens: Wenn die jungen Menschen präsenter hätten, wie sehr unsere Gesellschaft altert, dann würden sie sich viel stärker für eine Reform der Rente und gerade auch der Zustände in der Pflege einsetzen – in beiden Bereichen tickt die soziale Zeitbombe schlechthin! Das Kernproblem unserer Zeit ist aber, dass die Menschen – und eben auch die jungen Leute – sich in den aktuell gegebenen Strukturen so wohl und sicher fühlen, dass sie Interesse und Mut für gravierende alternative Weichenstellungen verloren haben. Das ist wie ein Dämmerschlaf, fast wie eine seichte Narkose.
Und drittens?
Der gesamte Bereich der Bildung wird ebenfalls viel zu kurzsichtig betrachtet. Alle reden nur von der nötigen Digitalisierung des Bildungsbereichs, vergessen dabei aber den Fakt, dass es nichts Wichtigeres gibt als eine gesunde, breitgefächerte Allgemeinbildung.
Was müssten die Jugendlichen Ihrer Ansicht nach tun, um Nachhaltigkeit zu leben: Nicht nur auf Parteien bezogen, sondern auch darauf, wie sie ihr Leben gestalten müssten, damit sie eine lebenswerte Zukunft haben?
Aus meiner Sicht ist es an der Zeit, den alten Grundsatz der Älteren „Unsere Kinder sollen es ja einmal besser haben!“ zu hinterfragen. Ich fürchte, dass dieser Grundsatz, der über Jahrzehnte seine Richtigkeit hatte, von den zukünftigen Megathemen und -problemen außer Kraft gesetzt wird, weil das eben beschriebene Zukunftsszenario den Schluss nahelegt, dass wir gerade die besten Zeiten unserer Zivilisationsform durchleben, sagen wir einmal seit den 70er Jahren bis in die frühen 2000er. In diesen Jahrzehnten gab es zahlreiche Entwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten in unserer Gesellschaft. Man hat aber viel zu wenig ernst genommen, wie sehr der etablierte Wohlstand auf Pump generiert wurde. Wie soll ein Planet mit mittlerweile rund sieben Milliarden Menschen und im Jahre 2050 sicherlich neun Milliarden Menschen unseren heutigen Lebensstil aushalten?! Es wird endlich Zeit für Nachhaltigkeit! Und ja, die kann man am Sonntag sogar wählen!
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