Eine Rückkehr nach langer Zeit. Ein Blick in die Zukunft, der trotzdem an Vergangenheit erinnert – in Valentins letztem Artikel auf Lesbos wird deutlich, wie sehr ihn sein Engagement für geflüchtete Menschen verändert hat.
Hier geht es zu den vorherigen Teilen der Reihe:
Teil I: https://www.firstlife.de/die-ersten-tage-auf-lesbos-teil-i/
Teil II: https://www.firstlife.de/selbst-ein-fluechtling-auf-lesbos-teil-ii/
Teil III: https://www.firstlife.de/bethel-haus-gottes-auf-lesbos-teil-iii/
Teil IV: https://www.firstlife.de/nichts-ist-normal-im-alltag-auf-lesbos-teil-4/
Teil V: https://www.firstlife.de/hollywood-im-camp-auf-lesbos-teil-5/
Der metallische Heizkörper wärmt sich beständig auf und schon bald füllt Wärme den Raum aus, wie warmes Wasser die Badewanne. So war das vor einem Jahr nicht, als ich noch einige hundert Kilometer weiter südlich war und die Tage auf Lesbos kälter wurden. Zögerlich und unaufhaltsam zugleich kehrte damals der Winter ein. Voller Dankbarkeit ließ ich die Sonnenstrahlen in mein Zimmer fallen. Sie fanden ihren Weg durch das Geäst und Dickicht des Nadelbaumes vor meinem Fenster, passierten das dünne Fensterglas, das von einer monströs mächtigen Natursteinwand festgehalten wurde und legten sich wärmend auf den Innenraum, der keine Heizung kannte. Die Zeit auf Lesbos näherte sich dem Ende.
Chocolate, please! – Ein Rückblick
„Chocolate! Chocolate!“ So langsam nervt es. Aber das muss ich ihnen lassen; hartnäckig sind sie. Und freue mich über ihre ungeschminkte Art. Dass es nicht sinnvoll ist, Schokolade an die Kinder zu verteilen, wird mir klar, als ich es tue. Zu spät. Ehe ich’s mir versah, verwandeln sich die herumhängenden Kinder in schokoladenhungrige Jäger. Ich schmunzele. Sie streiten sich um den ersten Platz in der Schlange, nachdem ich sie immerhin in eine Schlange hatte ordnen können. Das Wort „line“, was ich im Englischen ausgesprochen hatte, heißt, ohne dass ich das wusste, auch im Persischen „Line“ – also Linie, oder Schlange. Ich wollte, dass sie sich in einer Reihe aufstellen, damit nicht tausend Hände gleichzeitig vor mir nach Schokolade fischen. Die Tafel Schokolade verpufft im Nu. Nicht jede Hand bekommt etwas ab, aber ich bin erleichtert, als sie leer ist. Die Jungs sehen ein, dass es nichts mehr zu holen gibt – und die Flut ebbt ab. Puh.. Was so ein bisschen Schokolade auslösen kann. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht denke ich an meine eigene Kindheit.
Etwas anderes ist dann der Junge, der, als alle anderen lange weg waren, wieder kommt und nochmals nach Schokolade fragt. Und nie weiß ich bei ihm, ob es ihm nur um den Zauber des Geschmacks von gerösteten Kakaobohnen, Zuckerglück, oder vielleicht auch um Mehr geht. Ist er vielleicht wirklich hungrig? Ich denke an die Banane, die ich morgens aus unserer gut gefüllten Obstschale für das Mittagsdessert mitgenommen hatte. Zufälliger Weise lasse ich sie in Sichtweite auf einer Mauer liegen. Erst unsicher, dann beherzt, läuft der Junge hin, nimmt sie mutig und hat mich dann auch schon vergessen. Er wird immer kleiner, bis ich nur noch seine Silhouette sehe, wie sie fröhlich die Banane verspeist.
Er kommt nicht mehr um nach Schokolade zu fragen – an diesem Tag. Was am gleichen Tag aber noch passiert, ist, dass ich an einer der Hygienestationen in die Knie gehe, aufsehe und mir freundliche Kinderaugen wie glänzende Knöpfe zustrahlen. „My friend.“, sagt er. Der Junge von eben sitzt neben Erwachsenen und betätigt einen der Wasserhähne. Stark finde ich, dass er sich einbringt. Mit der neu gewonnen Kraft. Als ich so alt war wie er… ja, was habe ich da gemacht? Bin in den Kindergarten gegangen und habe im Sandkasten gespielt. Vielleicht war ich auch schon in der ersten Klasse und habe von einer großen Zukunft geträumt. Dieser Junge hier träumt vielleicht auch von einer großen Zukunft. Vielleicht aber auch nur von einer anderen Gegenwart. Auch spielt er nicht im Sandkasten. Er spielt im Dreck und wäscht erwachsenen Männern den Staub von den Händen. Obwohl ich hier gerade vor ihm knie, liegen Welten zwischen uns.
Von Zelt 1126 zu Zelt 425
Der Auftrag lautet: 1. Männer am alten Zelt abholen. 2. Männer zum neuen Zelt bringen. 3. Männern sagen, dass sie nun dort registriert sind und dort ihr Essen erhalten. Nur dort. Und ich soll ihnen 4. sagen, dass, wenn sie nicht auf das neue Zelt aufpassen und wieder in ihr altes Zelt zurückkehren… – wenn dann das leerstehende neue Zelt über Nacht wieder als Rohstofflager von anderen ausgebeutet und kaputt gemacht wird; dann ist das ihr eigenes Problem. Dabei hat das „neue“ Zelt keine Elektrizität, keinen richtigen Holzuntergrund, geschweige denn Bodenisolierung, keine Tarps und keine Decken. Das alte Zelt hat all das.
Natürlich fragen sich die Männer, warum sie umziehen sollen. Ich frage mich das auch. Es ist das erste Mal, dass ich im Nachhinein denke; einen solchen Job möchte ich nicht mehr übernehmen. Ich fühle mich unwohl. Manchen meiner Kollegen geht es ähnlich. Ich frage mich, inwieweit mein Arbeitgeber gegenüber der griechischen Campverwaltung, von der viele der Anweisungen stammen, auch mal mehr „Nein!“ sagen sollte? Inwieweit müssen wir gehorsam sein und ab wann sollte man sagen: „Nicht mit mir!“? Ein schmaler Grad auf dem sich mein Arbeitgeber hier bewegen muss. Einerseits wollen wir den Menschen im Camp helfen, was nur geht, wenn wir im Camp bleiben können – was nur geht, wenn man sich nicht nur quer stellt. Auf der anderen Seite wollen wir den Menschen auch wirklich helfen, was nur geht, wenn man ihre Interessen vertritt, die nicht immer mit den Interessen der Campverwaltung deckungsgleich sind. Ein auswegsloses Dilemma?
Ich schreibe meiner Cheffin und teile ihr meine Gedanken mit. Das hilft. Letztendlich muss ich darauf vertrauen, dass auch meine Arbeitgeber den Menschen helfen wollen und dass selbst da, wo sie unsinnig erscheinende Aufgaben weiterleiten, Verantwortung und ein größeres Ziel dahintersteckt. Gleichzeitig ist irgendwo diese Grenze, die ich nicht überschreiten möchte. Ich fühle mich ihr heute gefährlich nah gekommen und hätte nicht gedacht, dass ich ihr hier überhaupt so nah kommen werde.
Nicht so wie ich denke
Wieder ein Umzug. Wieder ein langwieriges Gespräch. Wir drehen uns im Kreis. Wieder und wieder. Ich merke, dass wir so nicht weiter kommen. Der junge Mann, der Sohn des Mannes, mit dem wir eigentlich verhandeln, übersetzt für uns und seinen Vater. Er sieht müde aus. Wir sind nicht die Ersten, die versuchen, ihn zum Umziehen zu überzeugen. Und auch sonst, nehme ich an, sind wir nicht die Ersten, die ihnen sagen, was sie dürfen und was sie nicht dürfen, was sie sollen und was sie nicht sollen. Meine Augen gleiten zu dem Stacheldrahtzaun, dann wieder zurück. Mein Kollege gibt sich Mühe und zeigt eine Engelsgeduld. So auch unser Gesprächspartner. Immer wieder kommt seine Frau vorbei, geht dann wieder. Sie zeigen auf das Grundstück neben dem Zelt. Mit gebrochener Sprache antworten wir grob gestikulierend „Showers“ und der Sohn übersetzt. Hier sollen Duschen hinkommen, was ja eigentlich jeden im Camp freuen dürfte. Allein die Familie oder eher Familien – es leben hier befreundete oder verwandte Familien in einem Zelt zusammen –, die den Duschen weichen sollen, freuen sich hierüber natürlich wenig.
Wir fahren die immergleichen Argumente auf und auch sie antworten mit den immergleichen Schlagworten. Ich weiß nicht mehr, was es war. Vielleicht war es die Erfahrung der vergangenen Wochen im Camp… Irgendwann hatte ich den Eindruck, dass meine Gesprächspartner aus Sicherheitsbedenken nicht umziehen wollten. Und tatsächlich. Als wir sie überzeugen konnten, dass der Polizeiposten von ihrem neuen Zeltplatz nicht weiter entfernt sein würde, als von ihrem bisherigen Zeltplatz, kamen wir voran. Am Ende verabschiedeten wir uns respektvoll voneinander. Wir hatten geschafft, was hier so oft so schwierig ist. Aus einer potenziell entwürdigenden Situation würdevoll herauszuschreiten, erhobenen Hauptes. Gemeinsam, vor allem jedoch unsere Klienten.
Letzter Tag
Für einen Wintertag war es nicht selbstverständlich, dass die Sonne an meinem letzten Tag im Camp schien. Hinter dem Hügel traf ich auf viele Spaziergänger und Grüppchen, die sich am Hang zum Meeresufer einrichteten. Mit Picknick, Handy oder einfach guter Laune. Ja, die Menschen wirkten glücklich. Vielleicht waren sie ja wirklich glücklich. Ich traf auf eine Gruppe Jugendlicher, die ihre Gitarren dabei hatten und in die Weite des Horizonts sangen. Dem Meer entgegen. Wer weiß, vielleicht trug die Leidenschaft des ägäischen Windes ihre Stimmen ja bis in die Türkei jenseits des Meeres? Ihre Kumpels kümmerten sich um das Lagerfeuer. Ob ich nicht bei Ihnen bleiben wolle, fragten sie mich. Wir machten zum Abschied ein Selfie, dann zog ich weiter auf meiner Abschiedsrunde. Auf dem kleinen Berg wimmelte es von Fußballern, anderen Sportlern und Zuschauern. Am Infopoint sagte ich „Goodbye“. Auch Omar drückte mir die Hand und ich erinnere mich noch heute an unsere Verabschiedung.
Kaleb lud mich zum Essen ein. „Das Besteck ist sauber.“ sagte er freundlich. Das Zögern war über mein Gesicht geblitzt. Wir saßen auf dem Boden. Ich fühlte mich ertappt wegen meines unbeabsichtigten Misstrauens, für das es keinen Grund gab. Wir beteten und dankten für das Essen. Hörten einander zu, ermutigten uns gegenseitig. Begegneten uns auf Augenhöhe – von Mensch zu Mensch. Ja, wir rangen darum, Menschen zu bleiben. Und verabschiedeten uns. Auch Kaleb vergesse ich nicht.
Wohin jetzt? – Ein Blick in die Zukunft
Was bleibt von dieser Zeit? Welche Hilfe konnte ich leisten? Konnte ich es überhaupt? Was würde ich heute anders tun? Was hätte ich in den früheren Reportage-Teilen anders schreiben und einsichtsvoller sehen müssen? Und viel wichtiger: Was ist aus all den Menschen geworden, denen ich im Camp begegnet bin? Wurden die Afghanen in ihre angeblich sichere Heimat abgeschoben? Mussten sie wenige Monate später erleben, wie souverän die Taliban das Land einnehmen, als wäre es immer ihres gewesen? Wurden sie dann wieder im Stich gelassen, als die meisten westlichen Akteure, wie Streitkräfte und NGOs, das Land eilig verließen? Oder sind sie noch auf Lesbos in Griechenland und warten? Warten auf was?
Lesbos hat mich verändert. Ich frage mich: Was sind die Wege, die in die Zukunft führen? Wie bauen wir eine menschliche Gesellschaft in Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit? Sollten Flüchtlingscamps nicht eine Antwort auf diese Frage sein, anstatt dass Flüchtlingscamps unsere Gesellschaft in Frage stellen?
Ich denke an die Worte von Jesus „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“ und sehe ihre wegweisende, weltumkehrende Kraft. Wie sieht die Welt aus, die sich diese Worte zu Herzen nimmt?
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