Fundamentalistisch, intolerant, weltfremd. Diese Attribute werden kleinen religiösen Sondergemeinschaften schnell zugesprochen. „Sekte“ ist dabei das Schlagwort, das schnell fällt. Ein klassisches Beispiel sind die Zeugen Jehovas, ein jüngeres der Salafismus. Doch ist eine Sondergemeinschaft immer auch eine Sekte? Sind deren Mitglieder immer intolerant oder gar gefährlich? Lars Schäfers und Philipp Weiß haben darüber mit Christoph Grotepass, evangelischer Theologe und Mitarbeiter der Sekten-Info NRW gesprochen.

Herr Grotepass, welche Kriterien wenden Sie an, um Sekten und Sondergemeinschaften zu beschreiben? Welche Merkmale hat für Sie eine Sekte?
Es gilt vor allem zu differenzieren. Wenn wir zum Beispiel in Schulklassen gehen und den Sektenbegriff problematisieren, fällt schnell mal die Frage: „Sind die großen Kirchen, ist die katholische Kirche nicht selbst eine Sekte?“ Das Christentum ist schließlich historisch gesehen eine Abspaltung vom Judentum. Ist es aber dann eine jüdische Sekte? Da kann man schon drüber diskutieren, denn darum geht es ja: nicht Schubladen zimmern, sondern mit den Begriffen arbeiten. Es geht darum, konfliktträchtige Merkmale als das zu benennen, was sie sind. Ob man das nun sektiererisch oder konfliktträchtig nennt, ist zweitrangig. Wir schauen nach subjektiven und objektiven Merkmalen, also wenn wir beispielsweise eine Leitfigur in der Gemeinschaft haben, bei der nicht hinterfragt werden darf, was sie sagt und befielt – also eine Art Guru –, dann ist das ein objektives konfliktträchtiges Merkmal. Ein kritisches Merkmal ist auch eine klare Aufteilung in „Wir und die Anderen“, „wir haben die Wahrheit die anderen leben in der Lüge.“ Ein klares Freund-Feind-Denken.
Neben diesen objektiven Kriterien gibt es auch die subjektiven Empfindungen: „Ich fühle mich eingeengt oder eben nicht“ oder „ich fühle mich unter psychischen Druck gesetzt“, jemand anders aber nicht, der ebenfalls in der Gemeinschaft ist. So kommen auch Menschen zu uns, die sagen: „Sowas müsste man doch verbieten.“ Aber weshalb? Was machen die denn schlimmes? Wir sind ein freies Land, bei uns herrscht Religionsfreiheit. Das müssen wir manchmal auch in Erinnerung rufen.
Wie viele Menschen kommen pro Jahr zu Ihnen?
Wir unterscheiden zwischen Beratungsfällen und Informationsanfragen. Im Jahr 2014 hatten wir 1.022 Informationsanfragen und Beratungsfälle. Ein paar Beispiele: Die Zeugen Jehovas werden bei uns unter die synkretistischen Neureligionen gefasst, weil sie Zusatzoffenbarungen vertreten und es gab 44 Beratungsfälle zu dieser Gemeinschaft. Das waren im Vergleich mehr Fälle als zu Scientology. Das war bis vor kurzem andersherum. Die meisten Kontakte erfolgen zu den Themen Fundamentalismus und Esoterik. Zur Esoterik gab es die allermeisten Beratungsfälle; die Informationsanfragen hierzu sind aber viel niedriger.
Genau umgekehrt ist es bei den religiös-fundamentalistischen Gruppen, zu denen es viele Informationsanfragen und Ängste gibt, aber im Verhältnis weniger Beratungsfälle. Bei fundamentalistischen Gruppen ist also die Sorge größer und die reale Bedrohung kleiner (vom Salafismus abgesehen, zu dem wir auch Gespräche haben). Daher kommt die Frage auf: Wie wird ein Unwohlsein, eine Gefahrenlage in der Öffentlichkeit eigentlich wahrgenommen? Und wir merken: Die Esoterik ist völlig in der Gesellschaft angekommen und wird nicht als problematisch wahrgenommen, sondern als kleines privates Hobby angesehen. Viele esoterische Angebote werden auch gar nicht als solche angesehen. Dadurch wird zu spät wahrgenommen, wo es wirklich kritisch wird und Menschen bei der Esoterik in Schwierigkeiten geraten.
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© Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V.
Warum schließen sich Menschen solchen Gruppen an? Was ist ihre Motivation?
Man merkt an den Erfahrungsberichten der Menschen: Oft sind allgemeine Probleme der Grund, wobei die religiöse oder sektiererische Thematik mehr eine Art Hintergrundfolie ist, auf der sich die allgemeinen oder familiären Probleme dann konkretisieren. Ein weiterer Anlass ist Hilfe in aktuellen Notlagen durch Gemeinschaften. Etwa, wenn man sozial isoliert ist und dann ein Beitrittsangebot einer Gemeinschaft erhält, in die man sozusagen komplett fertig einschlüpfen kann. Dafür lassen sich manche auch schon mal auf ein paar Bedingungen ein.
Manchmal fängt es aber nach einiger Zeit an zu kippen, wenn ich merke: „Hier wird mir zuviel Anpassung abverlangt. Aber wenn ich mich jetzt löse, werden auch all diese sozialen Beziehungen in der Gemeinschaft schnell wieder problematisch.“ Dann wollte ich mich eigentlich gar nicht so stark einbeziehen lassen, ich komme aber nicht mehr so leicht raus aus der Nummer. Naturgemäß anders ist die Lage, wenn jemand in eine Gemeinschaft hineingeboren wird und daher zunächst keine eigene Wahl hat und auch keinen Vergleich kennt.
Wird das Thema Sekten in der Öffentlichkeit allgemein unterschätzt?
Ich habe schon den Eindruck, dass das Thema insgesamt unterschätzt wird. Oft wird beim Begriff „Sekte“ die tatsächliche Gefahrenlage überschätzt und von daher ist der Sektenbegriff auch problematisch, weil er mit massiver Gefahr assoziiert wird. Aber wenn bei einer bestimmten Gemeinschaft keine sichtbare Gefahr besteht, dann sei es auch nicht schlimm, denkt man. Der unsichtbare subjektive psychische Druck des Einzelnen lässt sich aber so nicht bemessen.
Die Zeugen Jehovas beispielsweise haben in einigen Bundesländern sogar schon den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Letztlich ist es für den Staat schwierig zu beurteilen, ob eine Gemeinschaft gefährlich ist. Was kann der Staat überhaupt machen?
Die Voraussetzungen zur Erlangung des Körperschaftsstatus sind ja auch sehr niedrig, so ist es fast schon erstaunlich, dass es bei den Zeugen Jehovas so lange gedauert hat. Jetzt haben sie fast in allen Bundesländern den Körperschaftsstatus. Der neutrale Staat darf grundsätzlich keiner Gemeinschaft den Sektenstempel aufdrücken. Die meisten Gemeinschaften sind als Verein organisiert. Aber wenn sie den Körperschaftsstatus erlangt haben, können sie sagen: „Seht her, wie haben hier die gleichen rechtlichen Grundlagen wie die katholische und die evangelische Kirche.“ Mag sein, aber die Konfliktfälle in diesen Gemeinschaften füllen trotzdem unsere Beratungs-Statistiken, also sagt dieser Status über die Konfliktträchtigkeit wenig aus.
Wird der Staat denn bei den Gruppen aktiv, bei denen Menschen in den Selbstmord getrieben und psychisch zerstört werden?
Das ist aber nicht so leicht nachweisbar. Klar, es gibt bei den Gemeinschaften, mit denen wir uns beschäftigen, solche Fälle. Aber hängt das direkt mit diesen Gemeinschaften zusammen? Das muss erstmal nachgewiesen werden. Leichter ist es bei den Fällen kollektiven Selbstmords, wie bei Heaven’s Gate oder den Sonnentemplern. Da ist es im Nachhinein klar, konnte aber ja leider auch nicht verhindert werden. Wenn eindeutig gegen geltendes Recht verstoßen wird und dies bekannt wird, kann der Staat eingreifen. Insbesondere wenn das Kindeswohl beeinträchtigt ist, wie es beispielsweise zuletzt im krassen Ausmaß bei den „Zwölf Stämmen“ der Fall war. Hier wurde den Eltern das Sorgerecht entzogen.
Was denken Sie, wird das Thema Sekten und Sondergemeinschaften in der universitären Theologie ausführlich genug behandelt?
Also in meinem Theologiestudium kam es gar nicht vor. Ich denke aber schon, dass es mehr Thema sein soll. Nicht unbedingt spezielle Sekten, sondern die problematischen Anteile und Konfliktträchtigkeit von Weltanschauungsgemeinschaften allgemein. Glaube kann generell negative und positive Effekte haben. Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen zu den Fragen: „Hilft Glaube? „Heilt Glaube?“ Diese Studien zeigen, dass ein festes und stützendes Glaubensgerüst in der Tat dabei helfen kann, dass ich mich sozialkonformer oder gesünder verhalte. Aber je stärker die Anforderungen und die Sozialkontrolle in einer Glaubensgemeinschaft sind, desto stärker ist auch der psychische Druck, der etwa auch Depressionen befördern kann. Es ist letztlich auch eine Frage des Gottesbildes: Ob ich ein liebendes, positives oder aber ein strenges, autoritäres Gottesbild pflege, das macht einen riesigen Unterschied für das eigene Befinden.
Was würden Sie uns noch mitgeben?
Ich möchte gerne noch etwas zum Thema „Salafismus“ sagen. Das Thema ist derzeit medial sehr präsent und der Fokus liegt fast nur auf dem Bedrohungspotenzial. Aber auch hier muss zunächst der Dialog gesucht werden, denn wer sich mit dem Phänomen beschäftigt, kann Angst reduzieren und verfällt nicht in ein Schubladendenken. Ein großer Teil dieser Szene hat zwar fundamentalistische und teils extremistische Vorstellungen, bleibt dabei aber friedlich. Es geht generell um die Frage, wie wir mit Andersglaubenden umgehen. Da darf man sich aber auch nicht aus falsch verstandener politischer Korrektheit vor dem Diskurs drücken. Gerade Salafisten treten selbstbewusst etwa in der Fußgängerzone auf und sagen: „Wir zeigen Euch unseren Glauben – wir sind nette Jungs, man kann sich mit uns unterhalten. Wir erklären euch den Koran und unsere Religion.“ Damit behaupten sie eine Deutungshoheit über ihr Thema.
Gerade Jugendliche, die mit der altbackenen Verkündigung in der Moschee nichts anfangen können und keine Jugendangebote vorfinden, sind empfänglich für die selbstbewusste Art der Salafisten, besonders im Internet. Die trauen sich „das Maul aufzumachen“ und gegen die Verhältnisse anzupredigen: „Die deutsche Gesellschaft ist verdorben, die Demokratie ist fehlerhaft – wir wollen das einzig wahre, göttliche System der Scharia.“ Und dabei muss man der Versuchung widerstehen, zu sagen: Das ist der Islam. Da gilt es zu sagen: Nein, der Islam ist bunt. Da gibt es ganz viele Richtungen, darunter auch solche, die unsere Gesellschaft positiv mitgestalten wollen. Und es gilt klar Stellung zu beziehen zu unseren freiheitlich demokratischen Grundwerten!
Herr Grotepass, vielen Dank für das Gespräch!
Weitere Informationen gibt es hier.
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