Die erste Liebe vergisst du nie. Vor allem dann nicht, wenn sie über die Jahre immer stärker wird und zur Liebe deines Lebens wird. Hier erzählt der Autor von seinem Werde(r)gang als Erfolgsfan bis hin zum leidenschaftlichen Liebhaber. Eine Liebeserklärung an Werder Bremen von Rudolf Gehrig.
Geliebtes Werder Bremen,
einen kalten, nassgrauen Tag hast du dir für unser Date ausgesucht. Es ist Mittwochabend, DFB-Pokal, zweite Runde. Staunend und mit beinahe unerträglichem Kribbeln im Bauch gehe ich die Stufen zum Weserstadion empor. Den halben Tag lang saß ich im Auto, um hier zu sein. Du und ich, wir kannten uns bisher fast nur aus der Ferne und haben uns bisher nur bei Auswärtsspielen getroffen. Der Großteil unserer Beziehung lief über das Radio und den Fernseher. Doch jetzt bin ich hier, in deinem Wohnzimmer, während die Lautsprecherboxen Musik aus den letzten Jahrzehnten abspielen, sie in der Ostkurve ihre Transparente befestigen und der Nebel sich durch deine gigantischen Flutlichter hindurch auf das graue Oval legt. Ein magischer Moment, so feierlich und glamourös, und doch spüre ich, wie mir mein Herz vor Aufregung und Ehrfurcht immer tiefer bis hinunter in die Socken rutscht. Das ist also dein Zuhause. Hier wohnst du also.
Weißt du noch, wo es begann? Auf dem Holzlagerplatz hinter unserem Haus. Ich war zehn Jahre alt und bevor ich dich überhaupt kannte, wusste ich bereits, wen ich bis auf den Tod hasse: Den FC Bayern München, diese arrogante, neureiche Ballkönigin, die jeden abblitzen ließ, der sich ihr näherte. Doch alle waren sie hinter ihr her. Bei mir in der Grundschule feuerten ein paar wenige den 1. FC Nürnberg an, der Rest war Bayern-Fan. Außer Max, der war (damals schon!) Dortmund-Fan, ein bedauernswerter Kerl, den ich nie verstanden habe. Wie konnte man sich denn nur in dieses pickelige Ruhrpott-Weib verlieben? Keiner konnte damals erahnen, was aus diesem hässlichen Entlein einmal werden wird… Ich dagegen hatte keinen Fußball-Club. Nur meinen Hass auf den FCB und einen Cousin, der mir immer wieder mal begeistert von dir erzählte. Doch was wollte ich schon mit „Werder Bremen“?
Ja, ich war ein Erfolgsfan
Das änderte sich an jenem 8. Mai 2004. Es war ein Samstagnachmittag, ich half gerade meinem Vater dabei, Holzscheite aufzuschichten. Im Radio wurde berichtet, dass der heutige Spieltag die letzte Chance für den FC Bayern sei, aufzuholen. Denn sollten die Bremer gewinnen, wären sie vorzeitig Deutscher Meister. Als der Ball rollte, drückte ich also dir, der neuen Unbekannten, die Daumen. Als Olli Kahn der Ball durch die Finger flutschte und Ivan Klasnic zum 1:0 abstaubte, jubelte ich kurz auf – nicht, weil mir viel an dir gelegen wäre, liebes Werder Bremen, sondern aus reiner Schadenfreude den Bayern gegenüber. Als Johan Micoud wenig später den Ball über Kahn hinweg sehenswert ins lange Eck lupfte (und selbst der bayerische Reporter anerkennend schnaubte), dachte ich bereits an die Schulkameraden der Bayern-Fraktion und wie ich sie am Montag in der Schule verhöhnen wurde. Als Ailton mit seinem 3:0 den Meistertitel perfekt machte, war es passiert.
“Der nervenzehrende Abstiegskampf und die vielen bitteren Niederlagen der letzten Jahre machten mich erst zu dem, was ich heute bin: Dein leidenschaftlicher Liebhaber.”
Dass man verliebt ist, merkt man meistens erst, wenn es zu spät ist. So ging es mir mit dir. Ich sammelte fortan Zeitungsartikel über deine Spiele, bastelte mir daraus ein eigenes Werder-Bremen-Buch und war mit dem Dokumentieren und Einkleben gewissenhafter als bei meinem Hausaufgabenheft. In der Schule gingen die Foppereien weiter, ich verspottete die Bayern-Groupies, wo es nur ging und prahlte mit dir, meiner neuen Liebe, schamlos herum. Ich verehrte Johan Micoud (auch wenn ich seinen Namen genauso aussprach, wie man ihn schreibt), malte mir mit T-Shirt-Farben Klose-Trikots und schnorrte mir das Diego-Poster aus der Sport BILD eines Kumpels. Und als Thomas Schaaf gehen musste, war das ein noch größerer Schock als der Rücktritt von Papst Benedikt – zumal beides im selben Jahr passierte. Ja, ich war ein Erfolgsfan! Doch der nervenzehrende Abstiegskampf und die vielen bitteren Niederlagen der letzten Jahre machten mich erst zu dem, was ich heute bin: Dein leidenschaftlicher Liebhaber. Getreu dem Motto von Mutter Teresa: „Lieben bis es wehtut.“
Wie Mutter Teresa: „Lieben bis es wehtut“
Ich gebe zu: Meine Eltern mochten dich nie besonders. Fußball ist für sie massenhysterisches Ausleben der archaischen Urtriebe – auch wenn sie es anders ausdrückten: „Des is doch ä Schmarrn!“ Meine Liebesboten hießen fortan Henry Vogt und Heiko Neugebauer, die zwei Bremer Sportreporter, denen ich, wenn ich ins Bett geschickt wurde, am Radio atemlos zuhörte, während du wacker in der Champions League kämpftest. Ein anderes Highlight ist meine Videokassette mit dem Sportschau-Mitschnitt, als du 2008 die arroganten Bayern in der Allianz-Arena mit 5:2 vermöbelt hast. Stundenlang verbrachte ich auf dem Youtube-Kanal von Shadiego. Außerdem hat mir mal ein Kumpel ein Original-Trikot von Frank Baumann geschenkt, der jahrelang dein Kapitän war und aus Unterfranken kommt wie ich. Doch das wertvollste Geschenk kam von meiner Mutter: Ein selbst gestrickter Werder-Schal! Sie konnte Fußball nicht ausstehen und den völlig überzogenen Kommerz drum herum auch nicht, aber dies war eines der schönsten Weihnachtsgeschenke von ihr.
Genau diesen Schal habe ich heute wieder dabei, hier, in deinem Wohnzimmer. Werder, weißt du eigentlich, was du mir bedeutest? Wissen deine Spieler das? Während die Videoleinwand gerade das 7. Tor von Dortmund anzeigt, versuchst du irgendwie dein 1:0 über die Zeit zu bringen. Ach, wie hast du dich verändert… Wenn Max, mein alter Freund, seine geliebte Borussia in diesen Tagen auf die Tanzfläche zieht, fliegen den beiden die neidischen Blicke nur so zu – das hässliche Entlein von damals, was ist aus ihr geworden, mein lieber Schwan! Und doch möchte ich in diesem Moment nirgendwo anders sein als bei dir. Blass und kraftlos bist du geworden, hast Pickel bekommen und fette Tränensäcke. Und doch bist du für mich die Schönste auf der ganzen Welt. Während die letzten Minuten laufen und ich die Gedanken die lange Heimfahrt verdränge, bin ich mir sicher: Ich werde mir bestimmt keine überteuerten Merchandise-Produkte aus deinem Kommerz-Laden kaufen – aber dich lieben werde ich den Rest meines Lebens.
Lebenslang Grün-Weiß!
In Liebe
dein Rudolf
Lars
Ich kann nicht nachvollziehen, warum sich Menschen derartig intensiv mit einem Fußballverein befassen. Die meisten Fans können nicht einmal selber vernünftig Fußball spielen und nutzen Ihr Fandasein als Möglichkeit überhaupt etwas zu sein, weil sie ansonsten wenig haben.
Wenn ich in der Bahn sitze und angetrunkene Fußballfans Ihre primitiven Gesänge vorführen höre, und wenn wieder die Stadt Unmengen an Steuergeldern für die Sicherheit bei einem Fußballspiel durch den Einsatz hunderter Polizisten, die sich wochenends von asozialen Fans anpöbeln lassen müssen, anstatt bei Ihren Familien sein zu können, ausgeben muss, dann denke ich mir: Was soll das? Wo ist die Intelligenz der Menschen geblieben? Ist das Fansein nicht einfach ein Ausdruck von Armut?
Michael
100% Werder