Seit Monaten beschäftigt mich die Frage: Wohin gehöre ich? Am Anfang meiner Reise, die mich nach Kasachstan führte, war es klar für mich: Ich gehöre zur kasachisch-deutschen Kultur. Gedanken über die Suche nach Heimat, Kulturschocks und Identität.
Nach 18 Monaten Auslandserfahrung in Südamerika und einem Studium für interkulturelle Studien an der ITA in Bad Liebenzell war ich ausgestattet für jede weitere Erfahrung in einem anderen Land und Leben. Dachte ich zumindest. Doch was ich momentan fühle und erlebe beschreibt man häufig als Kulturschockphase.
Der Rucksack auf meinem Rücken war überladen mit Gefühlen und Geschichten aus dem Ausland als ich in Zentralasien ankam. Ich begann meine Suche nach Identität in dem Land, das ich im Alter von 2 Jahren verließ. Nun bin ich zwiegespalten. Ich trage zwei verschiedene Heimatorte in meinem Herzen: Die kasachische und die deutsche. Wissen und Erfahrung schützt mich nicht vor dem Sturm im Inneren. Wohin gehöre ich?
Anders sein
Diese mittlerweile anstrengende Frage zermürbt meine persönlichen Antworten. Mit 2 Jahren kam ich mit meiner Familie in Deutschland an. Als Spätaussiedler nach dem Zerfall der Sowjetunion. Ich habe es noch klar vor Augen als ich erste Kontakte zu Einheimischen im deutschen Kindergarten knüpfte, meine erste verknallt-sein-Phase als kleiner Junge zu meiner damaligen Kindererzieherin erlebte und mit deutschen Freunden nach der Grundschule in den Weingärten am Rhein Heldenfiguren nachspielte. Als Kind gehörte ich zu Gruppen in der Gesellschaft dazu. Zumindest war ich ein Teil davon, auch wenn ich mich immer wieder als Randfigur fühlte und so behandelt wurde. Ich war einfach anders. Mit meinem Lieblingsessen, wie ich sprach und vermutlich wie ich roch. Ich hatte einen Platz im Alltag der Anderen. In der ersten Klasse erzählte ich stolz meiner Lehrerin, dass ich doch Russe sei. Während eines Gesprächs meiner Eltern schnappte ich auf, dass wir nicht wie die Deutschen seien. Daraufhin rechnete mein Kindskopf 1 + 1 zusammen und entschied, dass ich Russe bin.
So wie die Bezeichnungen Russlanddeutscher und Kasachen-Deutscher oder Deutsch-Kasache verwirrend sein können, so war für mich unklar, wer ich bin und wohin ich gehöre. Eines glaubte ich aber zu wissen: Ich bin nicht so wie die Deutschen. Ich bin besser. Weil ich weiß, was die Deutschen in ihrem Alltag nicht richtig machen. Das bestimmte mein Denken über die anders-Anderen. Später lernte ich, dass man solche Überlegungen über andere Menschen als Ethnozentrismus bezeichnet. Ich messe und beurteile meine Mitmenschen im Allgemeinen an dem eigenen Lebensstil. Alle Abweichungen der eigenen kulturellen Werten, wie ich morgens aufstehe, was ich esse, der Umgang mit meinen Mitmenschen und so viel mehr, habe ich als negativ empfunden und durch meine vorgeprägte Sichtweise habe ich meine eigene Kultur als überlegen angesehen. Bis zum gewissen Grad ist Ethnozentrismus normal und hilft uns Menschen, ähnlich wie bei Klischees, die Facetten unsere Umwelt begreifen und einordnen zu können. Es kann zu Fremdenhass kommen dann, wenn Ethnozentrismus extrem ausgeprägt ist.
Nun gut. Fachbegriffe im Bereich von Kultur sind mir nicht mehr fremd. Mein Verhalten und mit welchen Strategien ich meinen Alltag bewältige, kann ich formulieren und erklären. Mir ist bekannt zu welchen Kommunikationsstilen ich tendiere und das die Sicht z. B. auf die Zahl 6 in einer anderen Kultur auch als 9 gesehen werden kann. Hierbei geht es darum wie ich mein Leben gestalte und wahrnehme. Ich erkenne an, dass es andere Sitten, Gebräuche und Traditionen gibt. Dennoch gibt es Wahrheiten in der Welt, die stehen fest und können entgegen unserer Überzeugung sein.
Kulturschock und Heimatsuche
Nach etwa 10 Monaten Aufenthalt in Kasachstan während meines Studiums an der KIMEP in Almaty erlebe ich aktuell einen Kulturschock. Die Unterschiede zwischen mir und dem Gastland sind momentan so präsent und wiegen schwer in mir. In einem anderen Artikel sprach ich davon, dass ich glaube, dass Heimat mitgegeben wird und das man sich für Heimat entscheiden kann. Wie auch immer das jeder für sich formuliert. Ich bin immer noch überzeugt davon. Stelle aber gerade fest, sich Heimat auszusuchen und sich dazugehörig zu fühlen ist anstrengend. Es erfordert viel Ausdauer und Kraft. Ohne Kontakt zu Einheimischen und ohne deren Bestätigung, dass ich dazugehöre, ist es fast unmöglich ein Teil zu werden, von dem was man Heimat nennen möchte. Ich brauche ein Gegenüber, das zu mir Ja sagt. So wie ich bin und funktioniere: „Du gehörst zu uns, auch wenn du anders bist.“
Kulturschock: ja. Aufgeben: nein. Jetzt erst recht. Diese Phase wird vorüber gehen und ich werde auch hier wieder ankommen und Teil sein. Das weiß ich. Darauf warte ich. Vielleicht ist es wirklich so, dass ich mich anpasse und etwas von einem Teil meiner Mix-Kultur verliere, damit Platz für Neues wird. Das tut momentan weh. Es ist anstrengend und es zermürbt. Meine Aufregung wächst, denn ich spüre, dass meine Identität von neuen Geschichten und Erfahrungen gefärbt wird. Ich bin sicher: ich werde klarer sehen und der Verlust wird gering sein. Der Gewinn zu neuen Horizonten umso größer. Ständige Veränderungen gehören dazu und mit einem Ziel für die Zukunft überlebe ich auch diese aufwühlende und ungewisse Phase. Ich selbst bin verantwortlich für mein Leben und ich habe gelernt, dass meine Identität aus der Assoziierung mit etwas Wichtigerem und Größeren entsteht, als nur mir selbst. Es ist das Gefühl der Zugehörigkeit, durch das ein gesunder Selbstwert entsteht.
Zu diesem Kultur-Alltag in Kasachstan gehört die ständige Balance zwischen Selbstanbetung und Selbstzerstörung dazu. Und der Schock: „ich bin anders als die Menschen hier in Kasachstan“, wird sich zu einem Schatz verwandeln.
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