Real Madrid ist eine globale Marke und wohl nicht nur jedem Fußball-Fan ein Begriff, doch die spanische Hauptstadt bietet fußballtechnisch mehr. Auch in der zweitklassigen Segunda División hat Madrid mit Rayo Vallecano, AD Alcorcón und Rayo Majadahonda einiges zu bieten. Ich habe während meines Auslandssemesters in Madrid einige dieser Vereine besucht und berichte hier über meine Erlebnisse und die Historie der Madrider Vereine. Zu Beginn geht es um den Zweitligisten Rayo Vallecano.
Schon bevor ich nach Madrid gekommen bin, war meine To-do-Liste klar: Ich brauche eine Wohnung, eine Metro-Karte – und ich muss zum Fußball. Natürlich denke ich dabei an Real oder Atlético, die seit Jahren in der Champions League spielen und sich regelmäßig um die höchsten Weihen des spanischen und europäischen Fußballs streiten, doch der erste Stadionbesuch in Spanien führt mich in die Segunda División, zweite Liga. Bereits vor einigen Tagen schaute ich kurz auf mein Handy und entdeckte eine Instagram-Story meines Mitbewohners Jakob, der offenbar bei einem Fußballspiel im Stadion gewesen war. Ich staune über die Atmosphäre des Flutlichtspiels am Freitagabend und ärgere mich etwas, dass er mich nicht auch gefragt hat, ob ich mitkommen möchte. Einige Tage später spreche ich ihn darauf an und erfahre zwei Dinge: Zum einen, dass er relativ spontan mit einem deutschen Freund zum Spiel gegangen ist, den er an seiner Universität, der Carlos III in Getafe, kennengelernt hat. Und: Dass sie für das nächste Heimspiel wieder Karten kaufen wollen. Natürlich könne ich dieses Mal auch mit, sagt er, wir würden die Tickets dann bereits einen Tag vor dem Spiel an einem Schalter kaufen.
Regenbogenfarben bedeuten noch weitaus mehr als Ihr vielleicht denkt …
So finde ich mich am Freitag vor dem Spiel im Viertel Vallacas im Südosten Madrids wieder, das von einer beeindruckenden Schlichtheit geprägt ist. „Hier gehen wohl nicht mal die allermeisten Madrilenen hin“, denke ich mir und meine das nicht einmal abwertend. Ich finde es angenehm, wie bodenständig die Gegend mit der wohl größten Jugendarbeitslosigkeit Madrids wirkt. Die Tickets sind schnell besorgt, 20 Euro für einen Platz hinter dem Tor finde ich angemessen. Wir machen noch einen Abstecher zum Fanshop des Vereins, der sich in unmittelbarer Nähe des Schalters befindet, und bleiben sofort bei den Trikots stehen. Neben den aktuellen weißen Trikots mit dem roten Diagonalstreifen, der sich von links unten nach rechts oben zieht, entdecke ich etwas buntere Modelle. Der Verein kann durchaus als St. Pauli Spaniens beschrieben werden, lerne ich schnell und fühle mich bestätigt beim Blick auf schwarze Trikot mit dem in Regenbogenfarben gehaltenen Diagonalstreifen, der Unterstützung für die LGBT-Bewegung ausdrücken soll – wie ich zunächst denke.
Das stimmt zwar auch, wie ich bei meiner Recherche zuhause später entdecke, es stecken jedoch noch weitere Botschaften in dem Regenbogen: Die rote Farbe soll sich mit krebskranken Menschen solidarisieren, Orange mit Behinderten, Gelb mit Depressiven, Grün mit Umweltschützern, Blau solidarisiert sich mit Menschen, die Engagement gegen Kindesmisshandlungen zeigen und Violett wird als Zeichen gegen häusliche Gewalt verstanden. Ich entscheide mich jedoch für das grau-pinke Trikot, dessen Einnahmen wohl teilweise an mit Krebs erkrankte Menschen gespendet werden, wie die Verkäuferin mir erklärt. Eigentlich seien diese beiden Trikots schon ein paar Jahre alt, erzählt sie mir, doch weiterhin seien diese beiden Modell sehr beliebt und würden regelmäßig verkauft werden.
“Die anarchistischsten, betrunkensten, antifaschistischen Ultras”
Ich freue mich, nun auch mit ansprechender Ausrüstung das Spiel am nächsten Tag besuchen zu können und setze meine Recherche auf dem Sofa fort. „Google mal ‘Los Bukaneros’“, sagt mir mein Mitbewohner Jakob mit Begeisterung in den Augen, und ich folge seiner Anweisung. Ich stoße auf ein Video mit einem Fangesang, der in etwa so geht: „Somos los ultras más anarquistas! Los más borrachos! Los más antifascistas!“, singen sie. Sie bezeichnen sich selber als die anarchistischsten, betrunkensten, antifaschistischen Ultras, und das sind nicht nur blanke Worthülsen: Zu Saisonbeginn protestierten sie gegen die mit 70 Euro ihrer Meinung nach viel zu teuren Trikots, indem sie ihre Kreativität auch als Designer zeigten und eigene Trikots entwarfen, die sie für 30 Euro verkauften. Im Februar 2017 verhinderten die Fans zudem den Wechsel des Ukrainers Roman Zozulya zu Rayo, da sie diesen in der Nähe von rechtsradikalen Paramilitärs verorteten. Der Wechsel kam nicht zustande, doch die Geschichte war noch nicht zu Ende. Im Dezember 2019, einige Wochen nach meinem Stadionbesuch, gastierte Albacete Balompié zu einem Ligaspiel bei Rayo, aufgestellt im Sturm bei den Gästen: Roman Zozulya. Die Fans beschimpften ihn unentwegt als „verdammten Nazi“, und so geschah etwas, was es in Spaniens Profifußball zuvor nicht gegeben hatte: Das Spiel wurde zur Halbzeit abgebrochen.
All das ahne ich noch nicht, als ich mich zum Stadion aufmache und schließlich die Metrostation Portazgo erreiche, in der man die Fußballatmosphäre schon fühlen kann. Um zu unserem Block zu gelangen, müssen wir fast um das gesamte Stadion gehen, vor Ort haben wir dann freie Sitzwahl. Im Wesentlichen besteht das Campo de Fútbol de Vallecas mit seinem Fassungsvermögen von gut 14.000 Zuschauern aus zwei Haupttribünen sowie einigen Sitzreihen hinter dem einen Tor, auf denen wir uns niederlassen. Hinter dem anderen Tor befinden sich keine Zuschauer – zumindest keine zahlenden: Unmittelbar hinter dem Stadion erstrecken sich zwei Hochhäuser, von denen man einige Bewohner sehen kann, die sich das Spiel aus bester Lage nicht entgehen lassen.
Sonnenblumenkerne als Stadion-Snack
Zu Gast ist an diesem Tag UD Almería, das ähnlich wie Rayo vor ein paar Jahren mal in der Primera División gespielt hat. Mein Spanisch ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz so ausgereift, das muss ich zugeben, doch die Sprache der Musik ist universell. Ich entdecke etwa eine halbe Stunde vor Spielbeginn einen Rayo-Fan, dessen pure Lebensfreude in diesem Moment offenbar nichts anderes zulässt, als dass er mit seiner Mundharmonika die Reihe entlangtanzt und fröhlich seine Musik spielt. Zunächst scheint er bis auf mich nicht wirklich ein Publikum zu finden, doch bald schon unterhält und umarmt er sich mit weiteren Rayo-Anhängern, die nun auch eingetroffen sind. Ich merke: Man kennt sich.
Das Spiel gestaltet sich eher unspektakulär, die Angriffsbemühungen Rayos werden erst in der zweiten Halbzeit mit dem 1:0 belohnt. Die Fans in meinem Block sind mit drei Dingen beschäftigt: Rauchen, Sonnenblumenkerne essen und sich des Lebens erfreuen. Sie brüllen Dinge aufs Spielfeld, die ich mit meinem zu diesem Zeitpunkt noch rudimentären Spanisch nicht ganz verstehe und wohl auch nicht verstehen will, und stimmen ab und zu auch mal einen Fangesang ein. In der zweiten Halbzeit werden rote Blätter verteilt, die schließlich hochgehalten werden und wohl eine Art Choreographie bilden sollen. „Nicht ganz so beeindruckend wie in den Videos von den Bukaneros“, denke ich mir, und genieße die Atmosphäre dennoch. Almería gleicht schließlich noch aus, mit dem Ergebnis kann Rayo nicht ganz zufrieden sein. Ob seine Fans zufrieden sind, kann ich nicht ganz deuten, direkt nach Spielschluss verlassen sie beinahe fluchtartig das Stadion. Was bleibt, sind Unmengen an Schalen von Sonnenblumenkernen auf dem Boden sowie ein beißender Rauchgeruch in meinem Rayo-Trikot. Ich frage mich, wie man darauf kommt, Sonnenblumenkerne beim Fußball zu essen, und steige in die Metro.
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