Erstarkender Extremismus, verrohte Debatten, Politiker-Mord: Unser demokratischer Verfassungsstaat macht zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes eine schwierige Zeit durch. Diese Entwicklung zeigt: Die Orientierung an den guten Sitten einer Demokratie, an ethischen Haltungen, die die Demokratie als Ordnung der Freiheit und der Vielfalt stärken, ist wieder gefragt, und zwar sowohl bei Politikern als auch bei uns Staatsbürgern.

„Es scheint gewagt, wäre aber angebracht, einen ‚Politiker-Spiegel‘ für die Inhaber staatlicher Gewalt zu entwerfen“ – diese Idee kommt von Joseph Kardinal Höffner, dem ehemaligen Erzbischof von Köln. In solchen „Spiegeln“ wurden in früheren Jahrhunderten Leitbilder für verschiedene Stände und Berufe festgehalten, „so daß sich der Leser wie in einem Spiegel prüfend betrachten konnte: Fürstenspiegel, Handwerkerspiegel, Bauernspiegel, Kaufmannsspiegel usw.“. Höffner entwarf einen Politiker-Spiegel mit sieben Grundhaltungen für das Ethos eines demokratischen Politikers, die nichts an Aktualität verloren haben: Charakterfestigkeit, ein Bekenntnis zu sittlichen Grundwerten, schöpferische Kombinationsgabe, Sachlichkeit, Dienstbereitschaft, Mut zu unpopulären Entscheidungen und die Bereitschaft zum Miteinander.
Dass kein Politiker heutzutage mehr tugendhaft sei, wie in den inflationären Politikerschelten der Kommentarspalten digitaler und sozialer Medien vielfach behauptet wird, ist ein unfaires Pauschalurteil, das dem Engagement vieler von ihnen nicht gerecht wird. Natürlich gibt die Politik tatsächlich nicht immer ein gutes Bild ab. So wirkte beispielsweise das politische Berlin im vergangenen Sommer wegen der Streits rund um Migration, Maaßen und Minister wie eine Tragikomödie mit besonders stümperhaftem Libretto. Solche Missstände müssen angeprangert werden.
Die hohe Berufung der Politiker würdigen
Dabei darf man nur eben nicht unfair werden. Papst Franziskus betont in seinem Schreiben Evangelii gaudium: „Die so in Misskredit gebrachte Politik ist eine sehr hohe Berufung, ist eine der wertvollsten Formen der Nächstenliebe, weil sie das Gemeinwohl anstrebt.“ Umso schlimmer, dass der rechtsextremistisch motivierte Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke sowie die Morddrohungen gegen die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker und den Altenaer Bürgermeister Andreas Hollstein, die in der Vergangenheit auch bereits Opfer von Angriffen wurden, zeigen, dass konsequent couragierte Politiker auch auf kommunaler Ebene heutzutage wieder gefährlich leben.
Ethische Appelle allein an die Politiker sind also nur die eine Seite der Medaille: „Wenn auch Verallgemeinerungen abzulehnen sind, ist es doch unverkennbar, daß die Bereitschaft, sich für den Staat verantwortlich zu fühlen, bei vielen verkümmert ist“ – heißt es bei Höffner weiter. Und es stimmt: Wir brauchen damals wie heute einen „Staatsbürger-Spiegel“, der die auch von diesem geforderten Haltungen und Tugenden erkennen lässt. In Zeiten des Hasses gegen Politiker, sprachlicher Verrohungen und enttabuisierender Debatten muss wieder intensiv für die guten Sitten einer Demokratie geworben werden!
Auch wir Staatsbürger brauchen ethische Grundhaltungen
Auch für uns Staatsbürger gilt es, das Gemeinwohl vor den eigenen Interessen zu sehen, Kompromisse zu akzeptieren und den Respekt vor Andersdenkenden und Anderslebenden zu wahren bei gleichzeitigem Mut zur Kontroverse in den politischen Sachfragen. Als Wähler sind wir mit einem „ideellen Amt“ ausgestattet, das zum Wahlgang als Zelebration eines Hochamts der Demokratie ebenso verpflichtet wie das ehrenamtliche Engagement in politischen Parteien, Ämtern und Mandaten eines jeden, dem dies möglich ist und der sich dazu befähigt sieht. Diese ungeschriebenen ethischen Anforderungen gehören zu jenen, die der demokratische Staat selbst nicht garantieren kann, wohl aber voraussetzt. Und Lübcke, Reker und Hollstein bezeugen: Heute gehört gerade auch die Tapferkeit bei der Verteidigung der pluralistischen Demokratie zum Katalog notwendiger politischer Tugenden.
Demokratie ist die politische Lebensform der Freiheit und die Ordnung für Vielfalt, schreiben die beiden großen Kirchen in ihrem jüngsten Gemeinsamen Wort. Letztlich bringt die Demokratie aus christlicher Sicht das Menschenbild und den Freiheitsimpuls des Evangeliums unter allen Staatsformen mit Abstand am besten zum Ausdruck. Entwerfen wir Christen also einen Staatsbürger-Spiegel und fangen wir immer wieder aufs Neue damit an, den unschätzbaren Wert unseres demokratischen Verfassungsstaates gemeinsam mit allen Menschen guten Willens tatkräftig herauszustellen. Gerade jetzt im Jahr des 70. Geburtstags unseres Grundgesetzes gilt es, hasserfüllte, demokratiefeindliche Extremismen rechter, linker sowie islamistischer Spielart entschieden zu bekämpfen. Letztlich wird aber auch ein passiv-lethargisches Selbstverständlichkeitsdenken dem Wert unserer grundgesetzlichen Demokratie keineswegs gerecht. „Wir leben im besten Deutschland, das wir je gehabt haben“, hat Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Parlamentsgespräch des NRW-Landtags kürzlich zu Recht betont. Das werde viel zu wenig wahrgenommen und wertgeschätzt, ist er überzeugt. Stimmt!
@Lars Schäfers
Wie wahr, aber auch wie unvollständig. Unwillkürlich, wenn auch völlig kontraproduktiv, stellt sich die Frage nach dem „wer hat angefangen“.
Und es stellt sich die Frage nach dem „wie damit umgehen“?
Sie zitieren zum Schluß J. Gauck und stellen kategorisch fest: „Stimmt!“ Und wenn man dem nicht zustimmt? Und das tut ein zunehmender Teil der Staatsbürger eben nicht mehr. Wo lassen Sie da den Raum für den kontroversen Dialog?
Denn das ist doch das eigentliche heutige Problem: Der gesellschaftliche Konsens ist keiner mehr. In grundlegenden Fragen hat sich die Politik vorbehalten uns vorschreiben zu wollen was Konsens zu sein hat. Und so funktioniert es eben nicht. Tabus, Ethik, Moral: Mächtige Worte, sollten sie zumindest sein. Aber es sind letztlich auch nur Worte für einen gesellschaftlichen Konsens. Sozusagen der kleinste gemeinsame Nenner auf dem Debatten dann aufbauen können und müssen.
Mit „konsequent couragiert“ konnotieren Sie ausgesprochen positiv das Engagement von Fr. Reker, Hr. Lübcker und Hr. Hollstein. Andere sehen darin feindliche Handlungen, eine massive Bedrohung. Die verbale Auseinandersetzung darüber wird vielfach als staatlich und medial tabuisiert empfunden. Und nun? Wo das Gespräch endet beginnt entweder die innere Kündigung oder die Gewalt.
Eine Entschuldigung für die Gewalttaten, ganz gleich ob nun von Links, von Rechts, oder sonstiger Position kann das natürlich nicht sein. Aber leider eine schlüssige Erklärung wie es dazu gekommen ist. Zum angeblich „besten Deutschland, was wir je gehabt haben“.
Guten Abend Skyjumper, danke für Ihren Kommentar. “Sie zitieren zum Schluß J. Gauck und stellen kategorisch fest: ,Stimmt!’ Und wenn man dem nicht zustimmt? Und das tut ein zunehmender Teil der Staatsbürger eben nicht mehr. Wo lassen Sie da den Raum für den kontroversen Dialog?” — natürlich steht es Ihnen frei, dem nicht zuzustimmen; denn der Raum zu kontroversem Dialog ist ja entgegen Ihrer Behauptung existent – wir nutzen ihn ja gerade, indem wir hier darüber diskutieren.
Ich stimme Ihnen auch zu, dass die ethischen Werte, die ich hier vertrete, nennen wir es die Freiheitlichkeit unserer Demokratie, die Pluralität unserer Gesellschaft und der faire, gewaltfreie Diskurs, der jeglichen Extremismus verurteilt, in unserer Gesellschaft nicht Konsens sind und wohl auch nie gänzlich waren, wohl aber – Gott sei dank – von der Mehrheit befürwortet werden. Ich bin der Meinung: Auch wer etwa in der Migrationspolitik eine restriktiviere Meinung vertritt als die drei genannten Politiker, oder in dieser gar eine “Bedrohung” sieht, sollte diese Werte anerkennen und Gewalt klar verurteilen, für die es vielleicht deskriptiv eine Erklärung geben mag, die trotzdem aber normativ niemals gerechtfertigt ist. Daher werbe ich mit meinem Artikel für diese Werte um Zustimmung, denn ich bin der Meinung, zu diesen basalen Grundwerten gibt es keine bessere Alternative.
“Die verbale Auseinandersetzung darüber wird vielfach als staatlich und medial tabuisiert empfunden” — das kann ich beim besten Willen überhaupt nicht nachvollziehen, denn allein, dass wir hier gerade diskutieren, widerlegt diesen Eindruck, genauso wie viele tausend ähnliche Diskussionen zu diesem Themenfeld in den letzten Jahren in den Medien, in der Politik, im Alltag. Wo wird da was tabuisiert? Mir scheint, dass eher eine Enttabuisierung stattgefunden hat, die zu besagter Verrohung der Diskussionskultur, insbesondere im Netz, geführt hat.
Auch Ihnen einen guten Abend Herr Schäfers,
“……. denn der Raum zu kontroversem Dialog ist ja entgegen Ihrer Behauptung existent – wir nutzen ihn ja gerade, indem wir hier darüber diskutieren.”
Das ist natürlich richtig. Richtig und dankenswert, und leider nicht mehr das normale. Und ich denke Sie wissen dass ich zwar Ihre Aussage herangezogen habe, aber das “große Bild” meinte. Menschen wie Sie, die einen Blog betreiben und vermutlich eine sehr lange Leseliste im Netz haben, oder auch meine Person die täglich zwischen 1 und 2 Stunden in Blogs und Foren querbeet liest, wir sind eine Minderheit. Und ich fürchte, dass sich innerhalb dieser Minderheit wiederum ein erheblicher Anteil lediglich in einer Echokammer bewegt.
Die große Mehrheit ist doch (noch) old school. Talkshows, Heute Journal, Tagesschau.
Wenn Sie jetzt einwenden würden: “Aber es könnten doch viel mehr die vorhandenen Räume nutzen” haben Sie natürlich erneut Recht. Andererseits ist das bei einen nicht kleinen Anteil der Gesellschaft schlicht zu viel verlangt. Und auch die müssen/sollten irgendwie mitgenommen werden.
“….. dass die ethischen Werte, …… , nennen wir es die Freiheitlichkeit unserer Demokratie, die Pluralität unserer Gesellschaft und der faire, gewaltfreie Diskurs, der jeglichen Extremismus verurteilt, in unserer Gesellschaft nicht Konsens sind und wohl auch nie gänzlich waren, wohl aber – Gott sei dank – von der Mehrheit befürwortet werden.”
Auch nach meiner Wahrnehmung ist das zum Glück noch die Mehrheit. Zur Begrifflichkeit “Konsens” haben wir jedoch (so scheint es mir) eine unterschiedliche Vorstellung. Konsens ist nicht gleichbedeutend mit absoluter Übereinstimmung aller Mitglieder einer Gesellschaft. Wäre dem so, und gäbe es diese Art “Konsens” bräuchten wir ja keine Staatsgewalt mehr die auf die Einhaltung achtet und Verstösse sanktioniert. Unter Konsens verstehe ich eine deutliche bis überwältigende Übereinstimmung. Und da waren wir nach meinen Gefühl schon mal deutlich besser aufgestellt als dies heute der Fall ist.
Mir scheint wir stolpern ganz oft über die von uns verwandten Begrifflichkeiten und die unterschiedlichen Inhaltsdeutungen. “Freiheitlichkeit unserer Demokratie”, “Pluralität unserer Gesellschaft”, “der faire, gewaltfreie Diskurs”. Ich habe Sie so verstanden dass Sie diese Werte noch als gegeben ansehen. Ich sehe das aktuell nicht mehr als gegeben an. Was soll das für eine “Pluralität” sein? In der diejenigen die eine Migrationsförderung für den falschen Weg halten als Rassisten, Nazis oder gleich als Mörder verunglimpft werden. Aber auch Begriffe wie “Lügenpresse” und “Klimaleugner” erwecken bei mir nicht den Eindruck als wären wir noch eine pluralistische Gesellschaft. Ein “fairer, gewaltfreier Diskurs” wenn selbst demokratisch gewählte Parlamentarier angegriffen werden, Autos abgefackelt werden und Anschlagsanleitungen im Internet veröffentlicht werden? Und natürlich gehören auch die Gewalttaten gegen Fr. Reker, Hr. Lübcke und Hr. Hollstein unbedingt dazu. Das ist doch kein “fairer, gewaltfreier Diskurs” mehr den wir hier erleben. Um die “freiheitliche Demokratie” drücke ich mich jetzt. Dieser Begriff kann so unendlich viel mehr bedeuten als das was wir haben, ich fürchte alleine darüber könnte man stundenlang sprechen.
“— das kann ich beim besten Willen überhaupt nicht nachvollziehen, dann allein, dass wir hier gerade diskutieren, widerlegt diesen Eindruck,…….”
Nun müßte ich meinen Anfang wiederholen. Den vom großen Bild, Tagesschau, Talkshow usw. Und ich möchte Ihnen auch nicht Ihren besten Willen absprechen. Aber denken Sie mal bitte an Namen wie Thilo Sarrazin, Henryk Broder, Eva Herrmann, Heinz Buschkowsky, und viele viele mehr. Ja, die haben abweichende Meinungen geäussert. Und teuer dafür bezahlt.
“Daher werbe ich mit meinem Artikel für diese Werte um Zustimmung,….”
Ich glaube (hoffe) für diese Werte brauchen Sie gar nicht um Zustimmung zu werben. Was wir, was unsere Gesellschaft braucht, ist das gleiche Verständnis über den gelebten Inhalt dieser Werte.
Ich danke Ihnen für unseren kleinen Diskurs.
Guten Morgen Skyjumper, Sie haben natürlich recht, die Übereinstimmung mit diesen Grundwerten war mal größer, so scheint es, und in der Tat müsste man sie noch genauer definieren, um hier zu einer klareren Analyse zu gelangen, aber in dieser grundsätzlichen Feststellung sind wir uns einig.
“Was soll das für eine „Pluralität“ sein? In der diejenigen die eine Migrationsförderung für den falschen Weg halten als Rassisten, Nazis oder gleich als Mörder verunglimpft werden. Aber auch Begriffe wie „Lügenpresse“ und „Klimaleugner“ erwecken bei mir nicht den Eindruck als wären wir noch eine pluralistische Gesellschaft. Ein „fairer, gewaltfreier Diskurs“ wenn selbst demokratisch gewählte Parlamentarier angegriffen werden, Autos abgefackelt werden und Anschlagsanleitungen im Internet veröffentlicht werden?” — Da kann ich Ihnen ebenfalls nur recht geben, denn genau das meine ich mit “Verrohung der Debatten”, wenn zu schnell Schlag- und Schimpfwörter sowie Beleidigungen, Drohungen etc. herangezogen werden, ohne sich sachlich mit gegenteiligen Argumenten auseinanderzusetzen. Die gibt es in der Tat in beiden Richtungen des politischen Spektrums und ist eine Entwicklung, die besorgniserregend ist.
Dennoch halte ich das Meinungsspektrum in Deutschland für sehr plural, Sarrazin & Co. dürfen ja ihre abweichenden Meinungen auch frei äußern, harter Gegenwind und scharfe Kritik gegen diese und die Verfestigung einer Mehrheitsmeinung sind allerdings ja auch von der Meinungsfreiheit gedeckt, so lange diese eben nicht in Hass und Gewalt umschlagen. Wo das geschieht, ist das nie gerechtfertigt, egal gegen wen. In dieser Hinsicht muss Deutschland in der Tat noch besser werden, als es heute ist.
In diesem Sinne auch Ihnen vielen Dank für die Diskussion!