Es gibt Momente, da möchte ich jauchzen vor Glück, ich fühle unbändige Freude und das Leben ist toll. In solchen Momenten wird mir oft bewusst, wie dankbar ich bin. Für so vieles, über das ich nicht nachdenken muss, weil es selbstverständlich da ist. Aber gerade diese Selbstverständlichkeit bringt oft die Frage: Wie bin ich angemessen dankbar? Wie kann ich Dinge, die ich genießen darf, wertschätzen, ohne die Selbstverständlichkeiten zu vergessen?

Eine meiner besten Freundinnen hat mir zum Geburtstag ein Heft geschenkt, mit der Anweisung, darin jeden Abend aufzuschreiben, was mich an diesem Tag glücklich, zufrieden und dankbar macht. Seit einem halben Jahr schreibe ich fast jeden Abend ein paar Stichpunkte auf. Menschen, Erlebnisse, Zustände. Manchmal steht tagelang das Gleiche in jeder Notiz, meistens aber nicht. Und obwohl sich die Lage ändert, und ich nicht immer die gleichen Dinge wichtig finde, schreibe ich vieles, wofür ich immens dankbar bin, doch nicht auf. Meine Familie. Meine Gesundheit. Das Privileg, als Frau in einem Land zu leben, das mir erlaubt zu tun und zu lassen, was ich will. Ich schreibe auch nicht auf, dass ich glücklich bin zu atmen, zu lachen, über den Geruch von frisch gefallenem Sommerregen. Wertschätze ich diese Dinge, die keine Selbstverständlichkeit sind, nicht?
Selbstverständlichkeiten sind leicht zu vergessen, lassen sich ohne Folgen ignorieren. Und trotzdem fallen sie mir immer wieder auf. Wenn ich mit Menschen rede, die in einem oder mehreren Punkten weniger privilegiert sind als ich, die nicht so viel Glück hatten, realisiere ich, wie viel ich voraussetze, um die Dinge in mein Heft zu schreiben, die eben da drin stehen. Wenn ich schreibe, dass es auf der Arbeit entspannt war, warum schreibe ich nicht auch auf, dass ich dankbar bin, Arbeit zu haben? Wenn ich mich freue, dass die Laufrunde schön war, sollte ich dann nicht auch wertschätzen, dass ich laufen kann?
Selbstverständlichkeiten erkannt – und dann?
Vielleicht kann man sich auch fragen, was es eigentlich nützt, sich dieser zahllosen Selbstverständlichkeiten des Lebens bewusst zu sein. Es kann auch ganz schön anstrengend sein, ständig über alles glücklich zu sein, was man hat und Demut dafür zu zeigen. Und würde mich das nicht am Streben nach mehr hindern? Daran, mich zu verbessern? Mich nicht auf dem auszuruhen, was ich ohne mein Zutun genießen kann? Verpflichtet mich die Realisierung, wie vieles ich als selbstverständlich hinnehme, dazu, mehr daraus zu machen? Oder gar, anderen zu helfen, die gleichen Privilegien zu genießen? Das klingt erstmal ganz schön anmaßend.
Wenn ich nicht weiß, wie und wohin mit meiner Dankbarkeit, denke ich an dieses christliche Kirchenlied, in dem für alles Mögliche gedankt wird. Früher im Kinderchor haben wir es oft gesungen, und es hat echte Ohrwurm-Qualität. Es beginnt mit „Danke, für diesen guten Morgen, danke für jeden neuen Tag. Danke, dass ich all meine Sorgen auf dich werfen mag.“ Auch für Menschen, die nicht an Gott glauben, kann dieser letzte Satz eine schöne Bedeutung haben: Seine Sorgen wegschmeißen zu können, das ist ein Akt, der meine Dankbarkeit verdient. Hierzu braucht es keine ungreifbare göttliche Präsenz. Um meine Sorgen wegwerfen zu können, braucht es tolle Menschen und schöne Momente, die mich die Sorgen vergessen lassen.
Und dafür bin ich wirklich dankbar: keine Sorgen zu haben, die nicht mal kurz vergessen werden können, während fröhlichere Dinge in den Vordergrund rücken. Weil das Leben mich kurz nicht daran denken lässt, welche Schwierigkeiten oder Probleme meiner gerade harren und weil ich solche Momente teilen kann, aber nicht muss. Und wenn ich sie nicht teilen will, dann landen sie zumindest in meinem Dankbarkeits-Heft.
Das Heft funktioniert wie ein umgekehrter Sorgenfresser: Während die Sorgen einfach beim Sorgenfresser bleiben, schaue ich mir meine Dankbarkeit gerne wieder an. So vergesse ich die kleinen und großen Freuden nicht. Und wenn ich meine alltäglichen Dankbarkeiten sehe, kann ich diese auch besser in Perspektive setzen: Perspektive zu den Selbstverständlichkeiten. Ich muss mich nicht in jeder Minute mit meinen Privilegien und der Situation anderer auseinandersetzen. Es ist okay, das Leben im Moment zu genießen. Aber mir ist es wichtig, mir meiner Selbstverständlichkeiten, die keine sind, bewusst zu sein. Für dieses Bewusstsein bin ich dankbar. Und auch für das Heft, das mich daran erinnert.
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