Das Schwarz-Weiße Borderline (Er-)Leben. Wer den Begriff „Borderlinestörung“ hört, assoziiert dies sofort mit Selbstverletzung und der typischen schwarz-weiß Typisierung. Die Aufspaltung in Gut und Böse ist zwar destruktiv, dient(e) dem Borderliner aber für sein Überleben.
Eine Borderlinestörung hat Ursachen. Menschen mit „Borderline“ haben in der sehr frühen Kindheit bereits negative Erfahrungen machen müssen und wurden zum Teil schwer traumatisiert. Dies führt dazu, dass diese Erlebnisse in irgendeiner Weise verarbeitet werden müssen. Da Kleinkinder nicht fähig sind, rational zu denken und in einer Abhängigkeit zu ihren Bezugspersonen, den Eltern, leben, ohne sich loslösen zu können, bildet sich eine Überlebens notwendige Strategie heraus: Die Spaltung bzw. Dissoziation. Da die misshandelnde, alkoholisierte Mutter (oder Vater) nicht mit der liebevollen Mutter (oder Vater) in Einklang gebracht werden kann – welche phasenweise auch vorhanden war – werden nach und nach diese Teile aus dem Bewusstsein des Borderliners abgespalten.
Dissoziationen helfen gegen Reizüberflutung
Dissoziationen können sich auf Wahrnehmungen der eigenen Person, der Umwelt und Erinnerungen sowie belastende Gefühle oder Schmerzen beziehen. Dieser Mechanismus hilft, den Organismus vor extremen Reizüberflutungen zu schützen, wie sie bei einem Trauma hervorgerufen werden. Da dieser Abwehrmechanismus früh „erlernt“ wurde, wird sie bei einer Borderline-Persönlichkeit zu einem Charaktermerkmal, welches auch im späteren Leben leider sehr häufig Anwendung findet. Das charakteristische Aufteilen in „Schwarz und Weiß“, „Gut und Böse“ dient dem Borderliner, das Leben in einem gewissen Maße zu kontrollieren und sich so vermeintlich in Sicherheit zu wiegen, denn es war ihm nicht möglich, in der Kindheit ein adäquates Sicherheitsgefühl aufzubauen.

Notwehrmodus – Eine biologische Stressredaktion
Ein nicht therapierter Borderliner lebt ein Leben im ständigen Notwehrmodus. Das Verhalten eines Borderliners passt sich an seine fortwährende Angst (Stichwort „frei flottierende Ängste des Borderliners“) und sein manifestiertes Misstrauen an, sodass er ständig aus einem gewissen Grad an Verteidigung heraus agiert.
Gemäß der biologischen Stressreaktion nach Walter Cannon agieren Menschen in Extremsituationen mit diesen drei Verhaltensweisen: Fight (Kampf), Flight (Flucht) oder Freeze (Erstarren) – übrigens ebenfalls in der Tierwelt sehr gut zu beobachten. Das Erstarren und Resignieren, sich ergeben, kennt er in der Regel aus seiner Kindheit, da er ohnmächtig seinen Bezugspersonen gegenüberstand. Der Borderliner muss nun zum einen lernen, dass die Notsituation und das Trauma nicht mehr gegenwärtig sind, seine Gefühle aus alten, noch ungelösten Konflikten stammen und zum anderen mittels einer Verhaltenstherapie, dass das aus den Gefühlen verbundene ausagierende Verhalten nicht immer der (heutigen) Situation angemessen ist.
Abspaltung und Ersetzen von Gefühlen
Vollkommen die Nerven in einer Situation zu verlieren, in welcher der Borderliner zum Beispiel (zu Recht) kritisiert wird, kann ebenfalls einer Dissoziation zugeordnet werden. Denn was steckt dahinter? Eine Kritik sieht der Borderliner als einen Angriff auf sein ohnehin fragiles Selbstwertgefühl. Da dieses geschützt werden muss und der Borderliner sich eher nicht mit den Gefühlen der Minderwertigkeit auseinandersetzen will, wechselt er in den Fight-Modus und geht wütend zum Angriff über. So hat er sein Gefühl von Trauer und Unsicherheit perfekt abgespalten und natürlich ist der andere der „Böse“. Wut ist erträglicher in der Empfindung als Angst, Unsicherheit und Trauer. Übrigens auch bei Menschen mit Narzisstischer Persönlichkeitsstörung (NPS) sehr gut zu beobachten!
„An Gefühlen stirbt man nicht!“ – Gefühle aushalten lernen
Das Gefühls(er)leben beim Borderliner ist kritisch. Nicht umsonst handelt es sich um eine „emotional-instabile-Persönlichkeitsstörung“. Schwierige Gefühle wahrzunehmen und nicht abzuspalten, gehört zu den Lernprozessen, welche der Borderliner in seiner Therapie lernt. „An Gefühlen stirbt man nicht!“ war der Leitsatz, den ich immer wieder hörte bei meinem Klinikaufenthalt. Doch diese zuzulassen und auszuhalten, ist für den Borderliner schwierig. Zu schwierigen Gefühlen zählen beim Borderliner viele Emotionen. Ein Vermissen des Beziehungspartners kann so unerträglich werden, dass der Borderliner lieber flüchtet (Flight) und einen Beziehungsabbruch in Kauf nimmt (dissoziative Fugue), als weiterhin dieses für ihn unerträgliche Gefühl durchleiden zu müssen.
Neben dissoziativen Gefühlen kann der Borderliner auch in paranoide Zustände fallen („sich Filme fahren“), welche schon fast einer Psychose gleichen, was er sich da in seinem Kopf zusammen „spinnt“. Das hier passende Diagnostik-Kriterium gemäß DSM 5 [Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM; englisch für „Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen“)] lautet: „Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome“). Da braucht der Beziehungspartner schon Nerven aus Stahl, um diese Anschuldigungen nicht persönlich zu nehmen.
Der „Sinn“ hinter der Selbstverletzung
Das Spektrum der Dissoziationen bei Borderlinern ist sehr weitreichend und bei allen Betroffenen individuell ausgeprägt. Es gibt Borderliner, welche sich ritzen „müssen“, um wieder in der Realität, im Hier und jetzt anzukommen. Ich sagte mal zu meiner Therapeutin, dass kein Reiz groß genug sein kann, um mich aus diesem Gefühlszustand zurückzuholen, da müsste ich mich schon von einem Haus stürzen und gleichzeitig kam mir die Erkenntnis und das Verstehen, weshalb manche Borderliner zu Selbstverletzungen greifen. Die (bevorstehende) Dissoziation zu erkennen und dem entgegenzuwirken, bevor es kritisch wird und destruktive Verhaltensweisen ausgelebt werden, ist ein Therapieziel, welches der Borderliner sich selbst zuliebe ab einem gewissen Punkt in seinem Therapiefortschritt verschreiben sollte.
Ist die Spaltung, Abwertung und Flucht revidierbar? Oder verbleibt der Borderliner jetzt für immer in diesem Zustand der Person gegenüber? Mein Freund, den ich seit der Jugend kenne, wehrt mich plötzlich heftigst ab und kann nicht mehr mit mir sprechen. Für mich ist das schlimm und ich frage mich, was ich tun kann.
Der Zustand ist revidierbar – ich erkläre dir gerne mal, wie es bei mir ist und wie ich es bei anderen Menschen mit Borderline erlebt habe. Ich selbst habe Borderline und auch nach tiefenpsychologischer Therapie sowie Verhaltenstherapie ambulant und in Kliniken manchmal noch diese Verhaltensmuster, da sie so tief in mir verankert sind (eben aus frühester Kindheit stammen und Urängste betreffen). Manches braucht sehr viel Zeit und ich habe durch so ein Verhalten viele Freundschaften verloren oder Menschen erst gar nicht an mich rangelassen. Allerdings lag das auch daran, dass mich mein Gegenüber gar nicht verstehen konnte wegen meiner widersprüchlichen Signale oder mein Verhalten als “kindisch” wahrgenommen hat und es sich gar nicht erklären konnte. Oft möchten Menschen mit Borderline in solchen Situationen eine Versicherung erhalten, dass sie nicht verlassen werden, auch wenn sie selbst Menschen von sich wegstoßen und gegenteilige Signale aussenden. Natürlich sollte man sie trotzdem nicht bedrängen und ihnen Zeit geben. Du könntest deinem Freund schreiben, dass du sehr gerne weiterhin in seinem Leben bleiben möchtest, bei ihm bleiben willst und ihn nicht verlässt. Dass er dir sagen kann, was los ist, du immer ein offenes Ohr für ihn hast. Dass er dir vor allem sagen kann, ob du etwas ausgelöst hast (das meine ich auch gar nicht böse, es gibt einfach einige Trigger, die für Menschen ohne Borderline überhaupt nicht auszumachen sind, aber Dinge aus der Kindheit/Traumata triggern, manchmal reicht ein kleines Wort) und du das überhaupt nicht wolltest, Dass du für ihn da bist und er so wichtig für dich ist. Dass es aber okay ist, wenn er seine Zeit braucht. Und dann kann es gut sein, dass er wieder den Kontakt aufnimmt. Vielleicht braucht er auch noch Zeit und bleibt im Fluchtmodus, dann kannst du ihm aber nach einer Weile kommunizieren, dass du immer noch da bist und er sich Zeit nehmen kann. Es ist so eine Balance zwischen Nähe und Distanz und Verständnis, aber ohne Druck. Es kommt auch auf dich an, wie lange du das mitmachen möchtest. Bei mir zB hätte eine Nachricht oder vielleicht eine zweite gereicht, um den Kontakt wieder aufzunehmen, denn oft war mein sehnlichster Wunsch, dass die andere Person bei mir bleibt, egal, wie sehr ich die Person weggestoßen habe. Natürlich ist aber jeder Mensch, egal ob mit oder ohne Borderline, unterschiedlich. Man kann langfristig durch Therapie auch viel lernen und üben, ich bin schon besser geworden im Kommunizieren oder darin, selbst wenn es dazu kommt, nach der Flucht wieder auf Menschen zuzugehen – das ist aber ein Prozess mit Höhen und Tiefen, für den man selbst bereit sein muss. Ich wünsche dir ganz viel Erfolg und Kraft! Denk dabei auch immer an dich und deine eigenen Bedürfnisse und Wünsche.