Der Krieg in der Ukraine bedeutet für die Jüngsten auch das Ende einer unbeschwerten Kindheit. Viele Kinder müssen aus ihrer Heimat fliehen und wissen oft nicht, ob sie ihre Familien wiedersehen werden. Unsere Autorin Anika lebt in der Ukraine und hat ein junges Mädchen bei sich aufgenommen.
Heute sind die ersten Flüchtlinge angekommen. Mehrere Tage waren sie unterwegs. Ich habe sie über Telefon und Internet begleitet, Verbindungen rausgesucht, Kontakte geteilt, alles vorbereitet. Jetzt sind sie da. Die kleine Maus will gar nicht aus dem Auto aussteigen.
„Ich will nach Hause“, sagt sie traurig. Wohin sonst gehört denn auch eine Fünfjährige? Aber nein, ob sie ihr Zuhause wiedersieht, ist noch nicht entschieden. Ob sie ihre Eltern wieder in die Arme schließen kann, genauso wenig. Langsam lässt sie sich überreden, doch erstmal mit in den Garten zu gehen.
Ein Augenblick unbeschwerter Kindheit
Zumindest kann sie dort ein paar Seifenblasen pusten. Ein erstes Lächeln huscht über ihr blasses Gesicht. Sie pustet nochmal und beginnt, diesen schillernden, fragilen Wundern hinterherzulaufen. Das Mädchen vergisst, dass sie noch vor einem Tag plötzlich loslaufen musste. Einfach, weil alle losliefen. Weil einer Panik bekam und die ganze Menschenmenge ansteckte, die sich durch die Grenze schob. Hier ist sie plötzlich wieder ganz Kind und darf mit diesen Seifenblasen fröhlich in der Abendsonne durch den Garten rennen. Für einen Moment. So unbeschwert. So einzigartig. So zerbrechlich.
Und da überwältigt es mich einfach. Traurigkeit, Hilflosigkeit. Und eine so so große Wut. Wieso darf diesem Kind die Kindheit einfach so zerstört werden? Warum muss sie mit fünf Jahren schon wissen, was ein Panzer ist und dass man sich bei dem alles erschütterndem Bombenalarm im Bunker verstecken muss? Warum muss sie die dritte Nacht in Folge in einer anderen Unterkunft schlafen, bei fremden Menschen, ohne ihre Eltern? Warum muss sie Angst haben, Spielzeug im Park aufzuheben, weil ihr eingebläut wurde, dass dieses explodieren könnte? Warum durfte einer vor einer Woche entscheiden, ihre unbeschwerte Kindheit zu beenden und sie mit Flucht, Furcht und Fremde zu belasten?
Dankbarkeit in einer Zeit voller Leid
Ich bin so dankbar, sie jetzt erstmal hier beherbergen zu können. Ich spüre die Müdigkeit der letzten Tage, ständig hin- und her zu organisieren, zu telefonieren, zu koordinieren, zu hoffen und zu bangen. Doch das Gefühl, eine gute Sache erfüllt zu haben, die Erleichterung über eine erledigte Aufgabe stellt sich nicht ein. Denn mit diesem einen Mädchen, das wir aus dem Krieg herausgeholt haben, hat dieses ganze sinnlose, schreckliche Elend ein Gesicht bekommen.
Ein kleines, blasses Gesicht. Mit so durchdringenden Augen, die schon zu viel Leid gesehen haben. Und mit jedem Blick, der mir durch und durch geht, werde ich daran erinnert, dass der Krieg dort weiter seine Opfer bringt. Dass das Leid jede Minute größer wird. Dass so vielen Kindern nicht geholfen werden kann. Und diese Last drückt so schwer, dass es mir die Luft nimmt. Und noch eine Seifenblase zerplatzt.
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