Anstellerei oder das Symptom einer Generation? Der Job, die Familie oder das Selbstbild – psychische Probleme können unterschiedliche Ursachen haben. Doch viele sehen sie nicht als eine Krankheit, sondern als eine Phase, die belächelt, ignoriert oder verlacht wird.
„Zu unserer Zeit hat es so was nicht gegeben!“, „Ach, so ein Quatsch – Burnout, die Jugend von heute!“ – solche Kommentare hört man zum Thema psychische Leiden häufiger, meist von Älteren, aber auch von Gleichaltrigen. Die Meinung, dass gerade junge Menschen, die mit dem Druck im Beruf oder an der Uni nicht zurecht kommen, verweichlicht seien, ist leider sehr verbreitet. Oft werden einfache Erklärungen gesucht, wie Faulheit. Wenn eine Krankmeldung eines Kollegen die Abteilung erreicht, verdrehen die meisten genervt die Augen: „Der will sich doch nur drücken, der faule Sack.“ Hat man einmal ein solches Image inne, ist es sehr schwer, dieses wieder loszuwerden. Das macht es mitunter noch schwieriger für die Betroffenen, erfolgreich wieder Fuß zu fassen. Doch liegt es tatsächlich an einer verwöhnten Generation oder steckt mehr dahinter, als man auf den ersten Blick vermuten würde?
Der Wandel des Arbeitsmarktes
Zur Zeit unserer Eltern war vieles anders, gerade auf dem Arbeitsmarkt. Nicht selten konnte man zu dieser Zeit mit einem guten Hauptschulabschluss eine Ausbildung in einem Betrieb beginnen und sich später durch interne Fortbildungen langsam aber stetig hocharbeiten, auch in der Gehaltsklasse. Wenn man heute nicht mindestens die Mittlere Reife vorweisen kann, wird man häufig überhaupt gar nicht erst zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Hinzu kommen verschärfte, wenn nicht sogar unmöglich zu erfüllende Anforderungen an junge Leute. Am besten waren sie zumindest ein halbes Jahr im Ausland, sind idealerweise nicht älter als 25, sprechen mindestens zwei Fremdsprachen und und und… Man bekommt hier leicht das Gefühl, den Bedingungen nicht gerecht werden zu können, egal, wie sehr man sich bemüht.
Der Druck, gute Leistungen abzuliefern ist ebenso hoch, wie der, dafür ja nicht zu lange zu brauchen. Ein Problem, das sich durch das gesamte System zieht, denn auch der unmittelbar Vorgesetzte hat eine Frist einzuhalten. Nebenbei bemühen sich viele um außergewöhnliche Zusatzqualifikationen, wie Fremdsprachen, um später bessere Einstellungschancen zu haben. Ferner ist die Angst vor Armut angestiegen, da die Kluft zwischen arm und reich immer größer wird und man auf gar keinen Fall zur unteren Gehaltsklasse gehören will. In Zeiten, in denen die Rente schon für unsere Eltern auf der Kippe steht, die Altersversorgung immer teurer wird und man kaum noch von nur einem Job seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, ist das Stresslevel so hoch wie noch nie.
Gerade im Studium haben sich die Bedingungen mit der Einführung des Bachelor/Master-Systems im Jahr 2005 verschärft. Semesterferien gibt es in dem Sinne nicht mehr, da man Praktika absolvieren, für Klausuren in der vorlesungsfreien Zeit lernen oder Hausarbeiten schreiben muss. Unterhält man sich mit ehemaligen Magister-Studenten, wird einem endgültig klar, dass Studieren zu deren Zeit noch um einiges entspannter ablief. Durch die enge Taktung der Veranstaltungen im jeweiligen Modul (die nicht selten immer nur einmal im Jahr angeboten werden) fühlt man sich, als würde man mit dem Stoff regelrecht zugeschmissen, frei nach der Devise: friss oder stirb.
Hinzu kommen zusätzliche Abgaben, die man im Semester machen muss, um für die Klausur am Ende überhaupt zugelassen zu werden. Reicht man eine dieser Abgaben zu spät ein, war’s das und man muss den Kurs im nächsten Semester, oder gar im nächsten Jahr wiederholen. Hatte man einen langen Tag an der Uni und kommt spät nachmittags oder abends nach Hause, ist noch lange nicht Schluss. Der Stoff muss schließlich nachbereitet werden. Tut man dies einmal nicht, kann man den Ausführungen des Dozenten in der nächsten Veranstaltung nicht folgen und man ist weg vom Fenster. All diese Dinge haben einen Kern: Schwäche wird nicht geduldet.
Psychischer Druck und kein Verständnis vom Umfeld
Der Mensch hält einem bestimmten Drucklevel nur eine gewisse Zeit stand, denn jeder braucht mal eine Pause. Wenn man sich dann hängen lässt und seitens der Bezugsgruppe kein Verständnis entgegen gebracht bekommt, fühlt man sich schnell verloren und zweifelt seine eigene Stärke an. In unserer Gesellschaft sind Fleiß und Ehrgeiz notwendige Charakterzüge, um es beruflich zu etwas zu bringen. Erschöpfung zu zeigen ist dagegen völlig verpönt. Als Ergebnis des sich immer stärker nach oben orientierenden Arbeitsmarktes wird den Menschen immer mehr Menschenunmögliches abverlangt.
Alles muss schneller gehen, besser werden, man muss ständig auf Abruf bereit stehen. Daheim wird dann über die Sklaventreiber geschimpft, aber man folgt dem System weiter, was nun einmal notwendig ist, wenn man seine Familie ernähren will. Doch nach einer gewissen Zeit reicht es nicht mehr, sich zu Hause Luft zu machen. Nicht selten entlädt sich der Stress physisch. Bei den meisten fängt es mit Kopfschmerzen oder Verspannungen an, andere bekommen stressbedingte Magenbeschwerden oder Schlimmeres.
Darunter fallen immer häufiger psychische Probleme. Man sucht die Schuld zunehmend bei sich, vergleicht sich mit anderen, die viel besser zurecht zu kommen scheinen, während man selber nur gerade so durch kommt. Wenn man dann auch noch angewiesen wird, sich gefälligst „nicht so anzustellen“, ist man sicher, dass man versagt hat. Und versagen ist für viele in unserem System gleichzusetzen mit dem gesellschaftlichen Aus. Man muss schließlich funktionieren. Also zwingt man sich, weiter zu machen, beißt die Zähne zusammen und frisst jegliche schlechten Gefühle immer weiter in sich rein. Dass man dafür irgendwann die Quittung bekommt, ist nur natürlich, aber scheinbar in den Augen der meisten ein Zeichen von Schwäche. Oft werden dann Vergleiche angebracht, mit hungernden Kindern in Afrika, denen es ja viel schlechter geht. Natürlich ist es objektiv gesehen schlimmer, nichts zu essen oder kein sauberes Trinkwasser zu haben, was überlebenswichtig ist.
Doch selbst wenn jemand objektiv einen halbwegs gesunden Eindruck macht, kann es ihm subjektiv schlecht gehen. Ein weiteres Problem könnte sein, dass viele noch immer denken, dass sich Person A bei einer Depression einfach „nur traurig“ fühlt und man sie lediglich aufheitern müsste. Oft kann Person A Außenstehenden gar nicht erklären, wie er/sie sich fühlt, denn meist versteht sie es selbst nicht einmal. Wenn jemand in der Familie Krebs bekommt, sind alle betroffen und schockiert, schicken Grußkarten und bieten ihre Unterstützung an. Nicht so bei psychischen Erkrankungen. Es scheint, als würden sie von den meisten gar nicht als Krankheit angesehen, sondern eher als eine Art Laune oder Phase, die schon wieder vorbei gehen wird.
Diese mangelnde Ernsthaftigkeit kann dazu führen, dass sich psychisch angeschlagene Menschen verlassen und hoffnungslos fühlen. Dann ist es nicht mehr weit bis zur Verzweiflung. Man steht mit dem Rücken zur Wand und weiß keinen Ausweg mehr. An diesem Punkt ist professionelle Hilfe absolut notwendig, doch hier stellt sich häufig das Problem von langen Wartelisten und hohen Arztrechnungen. Viele verlieren dann wieder den Mut, nachdem es sie eine endlose Überwindung gekostet hat, sich überhaupt einzugestehen, dass sie Hilfe brauchen. Sowohl im System als auch in der Gesellschaft wird häufig falsch mit dem Thema umgegangen, was sich dringend ändern muss. Es wissen noch immer zu wenig Leute zu wenig über psychische Erkrankungen und es fehlt an diesbezüglicher Aufklärung.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass psychische Leiden nicht ausschließlich mit der betroffenen Person im Einzelnen, sondern auch mit deren Umfeld zu tun haben. Es ist ein Thema, das viel zu lange totgeschwiegen worden ist und das mehr öffentliche Aufmerksamkeit braucht, denn nur so kann Aufklärung betrieben und kann geholfen werden. Häufig reicht schon ein freundliches Wort oder einfach ein wenig Verständnis. Als Außenstehender sieht man bekanntlich nur die Spitze des Eisbergs, auf dessen Basis man niemals vorschnell urteilen sollte. Und wenn wir alle ein wenig offener und freundlicher miteinander umgehen, bessert sich auch das Arbeitsklima.
Tobias Kolb
Cooler Artikel,
Vielen Dank. Du hast eine wichtige Problematik erkannt und präzise und einfühlsma darüber geschrieben.
Gefällt mir.
ClaudiaBerlin
Das Problem ist doch, dass es die gesellschaftlichen / wirtschaftlichen / politischen Entwicklungen sind, die diesen extremen Druck ausüben. Das zeigst du ja im Artikel sehr gut auf. Wenn viele Menschen diesem Druck auf Dauer nicht gewachsen sind und psychische Symptome entwickeln, ist das Kind ja schon in den Brunnen gefallen. Klar wäre es gut, wenn es mehr “professionelle Hilfe” und besseren Zugang zu Therapien gäbe – aber was kann diese denn an den Zuständen ändern?
Was für Menschen meiner Generation, die noch viel “entspannter” studieren und arbeiten konnte, oft etwas unverständlich ist: Warum man das alles so bereitwillig mitmacht – sich nicht im Zweifel einfach verweigert, massenweise protestiert, “aussteigt”… Klar, das bietet dann keine gesicherte Perspektive, aber für nicht wenige Menschen meiner Generation war das egal. Und wir sind ja nicht verhungert…
Das meine ich jetzt NICHT als Vorwurf, denn auch dafür wird es Gründe geben. Über die würde ich gerne mal was von den Betroffenen lesen.
Nicolás Heyden
Ich finde Deinen Artikel gut und verständlich geschrieben! Allerdings denke ich schon, dass manche Kritik am häufigen Verwenden solcher Begriffe wie “Krankheit” und “Burn Out” gerechtfertigt ist; Stress fängt im Kopf an und hat im schlimmsten Fall weittragende Folgen für den Körper. Eine Belastungsgrenze hingegen ist, denke ich aus eigener Erfahrung zumindest, weder konkret noch konstant; ich würde soweit gehen zu behaupten, dass sie sogar mit Übung nach oben verschoben werden kann. Das dürfte stark davon abhängen wie gerne man denn das tut, was man eben tut oder ob man alle Nase lang am liebsten in den Feierabend möchte. Auch sensible Menschen können mit Übung und unter der Voraussetzung, einer für sich ansprechenden Tätigkeit nachzugehen, Dinge leisten die andere vielleicht als “unmenschlich” beschreiben würden, ohne es jedoch so zu empfinden. Damit möchte ich aber niemanden mit Depressionen oder vergleichbaren Symptomen denunzieren, denn in so einem Zustand ist der Zug lange abgefahren und die Person braucht in jedem Fall professionelle Hilfe.