Unsere Autorin Frieda spricht mit Julian *, der aufgrund einer psychischen Erkrankung sein Studium aufgeben musste. Was er heute darüber denkt und was er anders machen würde, darüber berichtet er im folgenden Interview.
Dieser Artikel handelt von seelischem Leiden. Wenn du selbst betroffen bist, entscheide, ob du wirklich weiterlesen möchtest. Am Ende des Artikels findest du mögliche Hilfsangebote.
*Name wurde von der Redaktion geändert
Lieber Julian, wann hast du zum ersten Mal bemerkt, dass bei dir seelisch etwas nicht in Ordnung ist?
Julian: Das hat tatsächlich früh begonnen. Als Kind konnte ich sehr schlecht einschlafen und träumte von dunklen Phantasiewelten. Im Allgemeinen hatte ich eine große Angst vor dem Leben. So richtig bemerkt habe ich ein panikartiges Gefühl, als meine Mutter mir eine Entspannungsgeschichte vorlas. Das versetzte mich in einen großen Anspannungszustand. Später kam Panik auf in Bussen und in Räumen mit geschlossenen Türen. Eine länger anhaltende depressive Phase stellten sich in der Jugend ein.
Hast du dir Hilfe gesucht?
Julian: Ich habe lange Zeit keine Hilfe gesucht, weil ich mich dafür geschämt habe und gedacht habe, dass wenn ich darüber spreche, diese seltsamen Zustände noch realer werden würden. Auch kam mir mein Leben wie ein Karton vor, in dem etwas Gefährliches drin ist. Einerseits wollte ich Hilfe, um diesen Karton zu öffnen und gleichzeitig habe ich versucht, ihn mit Mühe und Not geschlossen zu halten.
Du hast mit 19 Jahren dein Studium begonnen. Wie war das für dich?
Julian: Ich habe mich total darauf gefreut! Endlich konnte ich mich den Themen widmen, die mich interessierten. Auch begrüßte ich die Möglichkeit, neue Leute kennenzulernen und mich selbst im Leben mehr zu entdecken und zu entfalten.
Wie ging es dir im Studium?
Julian: Ich war sehr wissbegierig und habe die Themen förmlich aufgesaugt. Ich hatte mir ein intensives Studium ausgesucht und war völlig ausgelastet. Ich versuchte, in meiner Freizeit an sportlichen Angeboten teilzunehmen, bemerkte aber zunehmend, wie ich an meine Grenzen kam.
Hast du mehr Ruhezeiten für dich einrichten können?
Julian: Nein, im Gegenteil. Ich machte mir immer mehr Stress und bemerkte, dass ich gar nicht mehr zu Ruhe kommen konnte. Entspannung sorgte nämlich seit meiner Kindheit für Panik, was ich zum damaligen Zeitpunkt überhaupt nicht einordnen konnte. Das heißt, ich habe mein Stresslevel immer stärker erhöht, mich noch mehr ins Studium reingehängt und soziale Kontakte völlig vernachlässigt.
Wie hat dein Umfeld auf dich reagiert?
Julian: Es ging schleichend los, dass Kommilitonen fragten, ob bei mir alles in Ordnung sei. Diese Fragen brachten mich noch mehr in Verzweiflung, weil ich nicht wollte, dass man mir meine missliche Lage ansah. Dann kamen vermehrt Angst- und Panikzustände in Vorlesungen auf und ich konnte nicht mehr konzentriert am Unterricht teilnehmen.
Zusätzlich hatte ich wiederkehrende Zwangsgedanken wie: „Wenn ich diese Zeile nicht richtig vorlese, werde ich blind!“ Ebenso quälte mich der Zwang, den Professor mit Gegenständen zu bewerfen. Es war wirklich schrecklich! Schließlich kam ich mit dem Vorlesungsstoff nicht mehr hinterher, schob Prüfungen und bemerkte, wie mir immer mehr mein Leben entglitt.
Hast du dir dann Hilfe gesucht?
Julian: Ich hatte von Beginn des Studiums an ärztliche und therapeutische Hilfe. Aber ich fühlte mich dort nicht verstanden. Es wurde mir ständig erklärt, dass ich zu hohe Ansprüche an mich hätte und das Studium gelassener nehmen müsste. „Backen Sie kleinere Brötchen!“, wurde mir immer wieder empfohlen. Aber genau das gelang mir eben nicht. Nach misslungener ambulanter Therapie schlug mir mein Therapeut einen stationären Aufenthalt vor, den ich daraufhin wahrnahm.
War dieser Aufenthalt ein Wendepunkt für dich?
Julian: Nein, überhaupt nicht. Ich hatte noch mehr Probleme danach, weil ich vor der Klinik mit mehreren Medikamenten eingestellt wurde und dadurch in der Klinik überhaupt nicht mehr klar war, welche Symptome medikamenteninduziert oder krankheitsbedingt waren. Aus einem geplanten dreiwöchigen Wochen Aufenthalt wurde fast ein halbes Jahr. Ich kämpfte immer wieder dafür, ins Studium zurückzukehren, was mir aber nicht gelang.
Was denkst du, aus heutiger Sicht, was die Gründe dafür waren?
Julian: Ich denke, dass damals viele ungünstige Punkte zusammenkamen. Ich verstand mich selbst nicht. Ich war getrieben von undefinierbaren Motivatoren und fand für mich leider keine passende Unterstützung. Ich wollte zum Beispiel schnell wieder fit fürs Studium werden, wollte mich aber nicht mit mir selbst beschäftigen. All das, was in mir war, machte mir Angst. Gleichzeitig lehnte ich mich größtenteils selbst ab.
Was würdest du Leuten raten, die auch im Studium erstmal eine psychische Diagnose bekommen?
Julian: Ich würde mir Leute suchen, die selbst von psychischen Störungen betroffen sind. Später habe ich damit die besten Erfahrungen gemacht. Oft haben die auch Kontakte zu Anlaufstellen, berichten von ihren Erfahrungen und geben Ermutigungen weiter. Man kann bei Selbsthilfegruppen anfragen oder bei Beratungsstellen. Damals habe ich für mich kategorisch ausgeschlossen, dass ein Studium auch mit psychischer Erkrankung klappen kann.
Ich würde heute mehr schauen, meine Kapazitäten auf längere Zeit einzuteilen. Ich dachte immer sehr kurzfristig und verprasste sämtliche Energie auf einen Schlag. Auch habe ich verstanden, wie wichtig Entspannung und Gelassenheit im Studium ist. In der späteren Therapie habe ich verstanden, warum das für mich lange Zeit gar nicht möglich war, mich zu entspannen. Ich habe mich gequält mit der Frage, was ich falsch mache, dass ich nicht so wie die anderen leben kann.
Hast du eine Antwort darauf gefunden?
Ich denke, dass mein Denkfehler darin lag, die Depressionen und die Panik- und Angststörung als Ursache zu sehen. Erst später begriff ich, dass sie Folgen waren von vergangenen Erfahrungen. Ich konnte mich dadurch mehr annehmen, weil ich verstand, dass ich nicht der „Schuldige“ an meiner Lage war, sondern Mitgestalter. Das hat mir eine neue Freiheit gegeben.
Wie siehst du heute ein Studium?
Heute sehe ich ein Studium aus verschiedenen Perspektiven: Zum einen habe ich mir damals eine Anonymität versprochen. Man ist nicht so eingespannt wie in einer betrieblichen Ausbildung und ich habe gedacht, weniger Erwartungen ausgesetzt zu sein. Auf der anderen Seite habe ich mich im Studium oft einsam gefühlt. Später habe ich mich tatsächlich für eine Ausbildung entschieden.
Bereust du es, dein Studium abgebrochen zu haben?
Julian: Auf der einen Seite ist der Lebenstraum, zu studieren, für mich geplatzt und das habe ich längere Zeit betrauert. Auf der anderen Seite schaue ich heute auf einen Weg mit zig Umwegen zurück, die mich reifer gemacht haben. Ich durfte so viele Menschen kennenlernen, mich selbst und neue Lebenskraft finden. In einer Psychiatrie fragte ich mal eine Frau: „Haben Sie studiert?“ Sie antwortete mir: „Ja natürlich, habe ich studiert – und zwar das Leben!“ Da habe ich gelacht und war erleichtert: „Also habe ich auch studiert!“, sagte ich stolz.
Vielen Dank für unser Gespräch!
Mögliche Hilfsangebote findest du bei der bundesweiten Telefonseelsorge (0800 – 1110111 oder 0800 – 1110222), beim Haus- oder Facharzt, in psychologischen Beratungsstellen bei dir vor Ort, in Kliniken mit psychiatrischer Abteilung, bei Ex-In-Genesungsbegleitern, oder in Selbsthilfegruppen. Bei akuter Lebensgefahr lautet die Nummer 112 für den Rettungswagen.
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