Weltweit versuchen Menschen, die Coronakrise zu überstehen, ohne dass ihnen durch die massiven Einschränkungen die Decke auf den Kopf fällt. Meine Flucht aus der Metropole aufs Land zu Beginn der Krise stellte sich als glückliche Fügung heraus. Hier gleicht das gegenwärtige Leben unerwartet meinem Idealbild des Alltages vor Covid-19.

Flucht aufs Land
Vor sechs Wochen bestätigten sich die Gerüchte, die schon eine Woche zuvor erstmals ihren Weg aus unschuldigen Mündern in interessierte, aber noch ungläubige Ohren fanden. Vermutungen waren es, die Ungeduld in unserem Büro erzeugten. Bis ihnen schließlich von oberster Stelle ein Ende bereitet wurde. Aus Vermutungen wurden Tatsachen: Homeoffice auf unbestimmte Zeit war die Diagnose. Das Warten auf diese Nachricht ließ mir genügend Zeit, mit einer Idee zu liebäugeln, die ich dann auch umsetze.
Noch am selben Abend flüchtete ich vor dem verstummten Hauptstadtlärm, in die nach mir schreiende Idylle des Spreewalds, zurück in mein Elternhaus. Obwohl der Trubel in Berlin teilweise schon vereinsamten Bahnen und Bürgersteigen gewichen war, wurde Social Distancing noch ein wenig belächelt und nicht vollumfänglich ernstgenommen. Ein wenig mulmig zumute war mir trotzdem. Unter keinen Umständen wollte ich das Virus zu meinen zwar gesunden, jedoch bereits in den Fünfzigern angelangten Eltern schleppen. Der Zuspruch meiner Mutti und die Aussicht auf eine Gefangenschaft in einer knapp 30 Quadratmeter großen Zelle ohne Balkon machten mir aber Mut. Heute bin ich über diese Entscheidung mehr als glücklich.
Keine zwei Wochen nach der Ankündigung, die uns ins Heimbüro befördert hatte, kam der nächste Paukenschlag: Kurzarbeit. Von April an würden wir nur noch 50 Prozent, aufgeteilt auf die übliche 5-Tage-Woche, arbeiten. Eine Hiobsbotschaft, die für viele Kollegen in Berlin wohl folgende Frage aufwarf: Hat Netflix genügend Inhalte, um diese Masse an Freizeit zu füllen?
So viel Zeit, so viele Möglichkeiten
Auch ich fragte mich, auf dem Dorf angekommen, was ich wohl mit der Zeit anstellen sollte. Keinesfalls würde ich mich hängen lassen und der Lethargie geschlagen geben. Probates Mittel dafür war zuallererst Sport. Viel Sport. Allem voran Laufen gehen. Im tiefsten Brandenburg ist das ein ganz anderes Erlebnis als im Berliner Osten. Dort verläuft meine Stammstrecke zwar um den Weißen See und muss daher nicht ganz ohne einen grünen Fleck auf der Trekking-App auskommen. Doch im tiefsten Brandenburg ist es nicht unüblich, bei einem 10-Kilometer-Lauf keinem Fahrzeug, keinen Fußgängern und generell keiner Menschenseele zu begegnen. So fühlt sich Freiheit an – und das während der massivsten Einschränkungen des öffentlichen Lebens in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg.
Doch nicht nur die räumliche Freiheit macht sich bemerkbar. Soziale Zwänge und Gewohnheiten verlieren im Kampf gegen die Isolation gerade Runde um Runde. Der Drang, auf jeder Hochzeit tanzen zu müssen, verfliegt nach und nach. Dass diese, im übertragenen Sinne gemeinten Hochzeiten, derzeit einfach grundsätzlich nicht stattfinden dürfen, trägt wohl seinen Teil bei, wie man fairerweise zugeben muss. Aber auch an sehr wohl noch ausgeübten Gepflogenheiten muss ich nicht notgedrungen teilnehmen. Meine Freunde tindern sich in Berlin von einem Abstands-Date zum nächsten. Während in der Großstadt jeder versucht, sich in Dating-Apps eine andere einsame Seele zu angeln, fischt man hier in toten Gewässern. Wo keine überzogenen Erwartungen geschürt werden, wartet allerdings auch keine Enttäuschung. Ich möchte gewiss keiner partnerlosen Ewigkeit entgegenblicken. Der Schein, man bräuchte rund um die Uhr Bestätigung, verblasst jedoch. Die anfangs noch gefürchtete Einsamkeit erweist sich als insgesamt sehr heilsam. Mich mit mir selbst zu beschäftigen, bringt mich dem näher, was mich glücklich macht.
Die durch den verkürzten Arbeitstag und den Tinder-Verzicht gewonnene Zeit kommt mir dabei sehr gelegen. Denn trotz des Laufens bleibt davon genug übrig, um mich Dingen zu widmen, die es normalerweise nicht in meine Tagesplanung schaffen. So kann ich zum Beispiel meinem alten Herrn ein wenig aus der Misere helfen. In den vergangenen Jahren haben sich etliche Bauvorhaben auf dem Grundstück meiner Eltern angehäuft, bei deren leidlich herbeigesehnter Fertigstellung ich nun tatkräftig mit anpacken kann. Das entlastet nicht nur meinen Papa, sondern ermöglicht es mir außerdem, mal etwas mit den Händen zu schaffen. Den Durst danach kann der Bürojob in einem Start-up für gewöhnlich nicht stillen. Und auch neue Hobbys sind nebenbei nicht ausgeschlossen. Seit Jahren habe ich mit dem Gedanken gespielt, mir eine Kamera zuzulegen, ohne mich jemals endgültig dazu durchringen zu können. Nun erkunde ich Hand in Hand mit dem Frühling neugierig die Welt der Fotografie. Natürlich kommt mir auch dabei die Umgebung im malerischen Spreewald zugute.
Blick nach vorn
Sport, Heimwerkern und Fotografie: Mir ist durchaus bewusst, dass diese Interessen keine Alleinstellungsmerkmale ergeben und ich sie mir mit etlichen teile. Ebenso wie das Streben nach Freiheit. Der große Unterschied liegt darin, dass ich diese Dinge nun wirklich mache – und zwar gleichzeitig, ohne dass ich dafür meinen Job vernachlässigen müsste.
Covid-19 hat schon jetzt für zu viel Unheil gesorgt. Nicht wenigen und besonders denjenigen, die nicht zu den Risikogruppen gehören, ist jedoch die Chance gegeben, der aktuellen Situation auch etwas Positives abzugewinnen. Ich persönlich befinde mich in einem Szenario, in dem ich mich größtenteils uneingeschränkt fühle, meinen Interessen nachgehen kann und über die negativen Auswirkungen der Pandemie nur im Radio höre oder in Zeitungen lese. In einer Gegenwart direkt vor der Pandemie, in der sich viele nach weniger Hektik, mehr Zeit für sich selbst und nach der Nähe zur Natur gesehnt haben, könnte man meine derzeitige Realität fast als utopisch betrachten. Und auch wenn ich dem Ende entgegenfiebere, hoffe, dass die getroffenen Maßnahmen anschlagen und so wenige Menschen wie möglich zu Schaden kommen, werde ich wohl einiges aus dieser Phase mitnehmen können.
Wäre ich nicht zu diesem Glück gezwungen worden, hätte auch ich nicht den zumindest temporären Sprung ins kalte Wasser gewagt. Zu bedrohlich wirkt die Tiefe der Entscheidung, sich aufs Land abzusetzen und weniger zu arbeiten. So aber kann ich all denjenigen, die bisher nicht mehr als den kleinen Zeh reinstecken wollten, für eine Zeitrechnung nach Corona nur raten: Kommt rein, es ist herrlich erfrischend!
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