Momentan steht das Thema Flüchtlinge im Mittelpunkt öffentlicher Debatten. Für andere Menschen bleibt oft wenig Aufmerksamkeit. Warum? Weil wir sie als selbstverständlich hinnehmen und ihr Schicksal als unveränderbar? Weil es nichts Neues ist? Sechs Monate in einer sozialen Einrichtung in Schweden veränderten meinen eigenen Blickwinkel.

Ich wollte in meinem Auslandssemester in Schweden nicht an einer der vielen Flüchtlingsinitiativen teilnehmen. Nicht, weil ich etwas gegen Flüchtlinge habe. Ich finde es sehr wichtig, ihnen zu helfen. Ich wollte mehr über die schwedische Kultur erfahren und meinen Teil dazu beitragen, auch anderen Menschen zu helfen, die oft vergessen werden und deren Probleme man meiner Meinung nach auch Interesse schenken sollte. Obdachlosigkeit, Drogen- oder Alkoholkonsum steht in unserem Bewusstsein nicht unbedingt an erster Stelle und niemand möchte wohl in solch einer Situation sein. Bedürftig zu werden kann jedoch schneller gehen, als man denkt.
Café David – mehr als nur kostenloses Essen
Betrieben durch die Stadsmission Malmö, finanziert sich Café David vorwiegend durch öffentliche Mittel. Doch auch Firmen spenden manchmal Lebensmittel oder andere notwendige Dinge. Eine breitgefächerte Zielgruppe nimmt die Unterstützung in Anspruch: unter anderem Obdachlose oder Menschen, denen lediglich geringe finanzielle Mittel zur Verfügung stehen und nicht wenige haben Suchtprobleme. Im Erdgeschoss befinden sich die Tische zum Essen, Musikinstrumente und Malutensilien oder Spiele stehen bereit.
In einer großen Küche wird täglich für über 100 Menschen Frühstück zubereitet, Kuchen gebacken oder Mittagessen gekocht. Das Frühstück ist kostenlos, niemand muss seine Bedürftigkeit nachweisen, um die drei Brote, Porridge, Müsli oder auch Joghurt und Getränke zu bekommen. Das führt dazu, dass manchmal auch nach Jahren Menschen aus reiner Routine kommen, weil es ihr zweites Zuhause wurde, selbst wenn sie später durch einen Job nicht mehr gezwungen wären zu kommen.
Andere vermeiden es, öfter als nötig zu kommen, haben Angst, zum sozialen Abschaum gezählt zu werden oder, dass Alkohol- und Drogenkonsum auch zu ihrer Normalität werden könnten. Einige der Gäste sind mal mehr, mal weniger offensichtlich betrunken oder unter Drogen und nur wer damit umgehen kann, wird als Volunteer genommen. An Weihnachten steigt der allgemeine Alkoholpegel bei den Gästen in der Regel nochmals. In der Stadsmission steht eine begrenzte Zahl an Betten im Obergeschoss für Obdachlose zur Verfügung. Jedoch kann niemand auf Dauer dort schlafen. Die Betreffenden müssen sich jede Nacht aufs Neue um ein Bett bewerben und wissen am Morgen, wenn sie die Mission verlassen, oft nicht, wo sie in dieser Nacht schlafen werden. Zwar ist Schweden ein Sozialstaat, doch es gibt genügend Menschen, die nicht aufgefangen werden können, da die staatlichen Kapazitäten begrenzt sind. Auch Wohnraum ist knapp für Menschen mit geringem Einkommen. Bei meinen Begegnungen mit den Gästen in der Stadsmission erfahre ich, dass sie oft auf langen Listen stehen, wenn sie sich für günstige Wohnungen bewerben. Haben sie Glück und bekommen eine, ist es jedoch auch oft so, dass sie nach drei Monaten wieder ausziehen müssen.
Neben den körperlichen Bedürfnissen helfen die Sozialarbeiter den Gästen dabei, wieder in ein geregeltes Leben zu finden. Bei manchen klappt es, viele jedoch kommen seit Jahren ohne Aussicht auf Besserung, da sie ihre Sucht beispielsweise nicht in den Griff bekommen. Wieder andere sind Rentner, die Hilfe bei Behördengängen bekommen. Bei einigen der Gäste handelt es sich um Migranten. Sie erhalten Sprachkurse in Englisch und Schwedisch sowie Hilfe bei der Suche nach einer Wohnung. Sie sind bereits seit längerem in Schweden. Neuankömmlinge werden durch das Rote Kreuz, von staatlichen Stellen oder speziellen Flüchtlingsinitiativen betreut.
Das Team
Nach beinahe einem Semester meines Volunteer-Daseins erfahre ich immer mehr über die Arbeit des Teams. Der gute Teamzusammenhalt garantiert laut Aussage meiner Betreuerin, dass die Motivation nicht verloren geht, man sich austauschen kann und gern in die Arbeit geht. Aber auch hier gibt es Spannungen. Mein Schwedisch ist nicht allzu gut, aber manchmal reicht es, um das Team zu beobachten und ich sehe wer gern, wer mit wem arbeitet und wer sich beim gemeinsamen Frühstück kaum unterhält. Es kann auch sein, dass verschiedene Personen mir verschiedene Anweisungen geben, doch ich merke mir mit der Zeit, wer mir was sagt und kann mich gut danach richten. Wer hier ein Problem damit hat, Anweisungen zu folgen, wird wohl früher oder später in Konflikt geraten. Ich sehe es daran, dass beispielsweise meine Betreuerin und der Partner mit dem ich an Samstagen arbeite, kaum miteinander sprechen. Sie sind beide starke Persönlichkeiten und ordnen sich nicht gerne unter.
Hier sieht man, dass auch Sozialarbeiter keine perfekten Menschen sind, überall gibt es Konflikte. Doch das muss sich nicht auf die Zusammenarbeit auswirken. Die Gäste in der Mission bekommen nicht viel von solchen zwischenmenschlichen Dingen mit. Sie sind häufig zu sehr mit eigenen Problemen beschäftigt. Für mich jedoch ist es spannend, beide Seiten zu sehen. Die der Gäste und die des Personals. Ich fühle mich als Teil des Teams, es gibt keinen Unterschied zwischen Sozialarbeitern, Köchen oder den Freiwilligen. Hier wird jeder mit Respekt und gleich behandelt. Was bei den Gästen aber auch heißt, dass keine Extrawünsche möglich sind. Nur weil das Team strikt ist, ist das Miteinander dort möglich. Sonst bliebe neben Konfliktlösungen keine Zeit mehr für die Planung von Ausflügen, Aktivitäten, für Gespräche und verwaltungstechnische Hintergrundaufgaben.
Warum Mitleid nicht reicht
Ich war anfangs überrascht, wie viele Gäste auf Extrawünsche beharren: Da darf es kein Pappbecher, sondern muss es die grüne Porzellantasse sein, da ist das Brot das falsche, da will man einen neuen Joghurt, weil der soeben geöffnete doch nicht so schön aussieht. Anfangs taten mir viele der Gäste leid. Ich dachte daran, welche Lebensgeschichte sie wohl veranlasste, in der Schlange stehen zu müssen und nach einem Bett oder kostenlosem Frühstück zu fragen. Doch Respekt heißt auch, kein unnötig übertriebenes Mitgefühl zu zeigen.
Es gibt Regeln, die eingehalten werden müssen. Es gibt Hilfe zur Selbsthilfe. Nur Mitgefühl und ein Ausreizen der Sozialhilfe hilft den Menschen auf lange Sicht nicht. Das heißt nicht, hart zu sein, sondern die Person gegenüber mit allen Konsequenzen als das wahrzunehmen was sie ist: eine Persönlichkeit des normalen Lebens und kein Objekt für Mitleid. Letzteres würde sie nur dazu verführen, in der Antriebslosigkeit zu verharren, die oft Hand in Hand geht mit Sucht oder anderen Problemen. Hilfe zur Selbsthilfe und klare Regeln sind etwas gänzlich anderes, um einen langfristigen Ausweg zu schaffen. Das wurde mir während der sechs Monate deutlich bewusst.
Die Geschichten hinter den Menschen
Ich interviewe einige Gäste, um mehr über sie zu erfahren. Die erste Freiwillige, eine Rentnerin, wird leider nicht müde, zu betonen, wie sehr sie in Schweden aufgrund ihrer deutschen Herkunft diskriminiert werde. Zudem wäre dieser „soziale Abschaum“ im Café David nicht ihr Niveau. Das Fleisch sei zäh beim Essen und das Personal behandle sie unfair. Nach zehn Minuten beende ich das Interview höflich, sie versucht jedoch auch in meinen anderen Interviews immer wieder dazwischenzufunken und Aufmerksamkeit zu erlangen.
Mein nächster Gesprächspartner ist ein junger Mann um die 30. Ursprünglich kommt er aus Ghana, machte an der Universität in Schweden zwei Masterabschlüsse und bekam einen guten Job. Mit Anfang 30 hatte er sich ein Haus und ein solides Bankkonto erarbeitet. Gerade als er im Sommer von einem Barbecue mit Freunden am Strand nach Hause kam, erhielt er einen Anruf aus Ghana. Sein über 80-jähriger Vater hatte Krebs. Er entschloss sich, einen Arzt aus Frankreich für seinen Vater einfliegen zu lassen und das beste verfügbare Krankenhaus zu bezahlen. Es war von Anfang an klar, dass sein Vater sterbe würde.
Für ihn war klar, dass er dennoch alles tue, was helfen könnte. Als sein Vater starb, hatte er nur noch wenig Geld. Er entschloss sich, ein würdiges Begräbnis zu bezahlen und auf seinen eigenen Flug zur Beerdigung zu verzichten. Nun kommt er wann immer möglich in das Café. Er fühlt sich nicht allzu wohl dort, aber hat Angst sonst neben der Arbeit keine Beschäftigung zu haben und zu Hause in Depressionen zu verfallen. Zudem hat er nicht mehr genügend Geld.
Er bedankt sich für das Interview, obwohl ich es bin, die danken wollte für seine Zeit und sein Vertrauen. Am Schluss möchte er mich umarmen und mir für meine Arbeit danken. Meist albern wir sehr viel, wenn er in der Schlange steht. Er ermahnt mich, nie meine Werte im Leben aufzugeben. Ich soll sie mir zu bewahren, so wie mein Lächeln, das ihn immer freue, wenn er herkomme.
Was nehme ich mit?
Dies waren nur zwei von vielen Lebensgeschichten. Sie legen nahe, eine nur stereotype Wahrnehmung mitleidsbedürftiger Randgruppen zu überdenken. Ich selbst möchte auch nicht über einen Kamm geschoren werden, sondern als Persönlichkeit wahrgenommen werden, egal welche Lebensumstände gerade mein Dasein bestimmen.
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