Die südkoreanische Hauptstadt ist ein Magnet für Fernostreisende, die dem gemischten Flair aus alter Tradition und futuristischen Hightech erliegen. Der erste Teil eines Erlebnisberichts darüber, als es mich, das gebürtige Landei, in eine Metropole verschlug.
Der Wind ist schneidend und ich grabe mein Kinn tiefer in den Wollkragen. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, laufe ich auf einem breiten Bürgersteig. Teure Boutiquen und schicke Restaurants reihen sich an Firmensitze und Shopping-Malls. Die bunten Lichter hunderter Fahrzeuge, Büros und Reklameschilder verleihen dem nächtlichen Panorama einen futuristischen Touch. Auf Gebäudefassaden projizierte Werbespots unterstreichen dieses Bild. Eine Kältefront aus Nordchina scheint alle anderen Ausländer von der südkoreanischen Hauptstadt Seoul fernzuhalten; im Gangnam, einem der angesagtesten Viertel, bin ich der einzige Blondschopf weit und breit.
Es ist Donnerstag und mein Handy zeigt 22:30 Uhr. Das aber nur am Rande, denn Seoul pulsiert 24/7. Tag und Nacht sind tausende Menschen unterwegs, um zu arbeiten oder zu feiern. Anmutige Gesichter ziehen an mir vorbei, ihre schlanken Träger in teure Filzmäntel und Schals gehüllt. In meinen kälteresistenten Stiefeln, der weiten Jeans und dem Norwegerpulli falle ich auf wie ein rosa Elefant. Um mich herum sehe ich viele „perfekte“ Körper, denn nicht wenige Mädchen lassen sich ab dem 16. Lebensjahr ihre Nasen, die Augen, manchmal sogar ihre Brüste richten. Man mag es verurteilen oder loben, aufgefallen wären mir die „Korrekturen“ ohne dieses Vorwissen allerdings nicht.
Gambeh!
An einem kleinen Imbiss bleibe ich stehen, bestelle frittierten Tintenfisch und nehme auf einem freistehenden Hocker Platz. Um mich herum sitzen ausnahmslos ältere Koreaner und blicken neugierig zu dem Neuankömmling. Dutzende Dampfwolken steigen bei jedem Atemzug in die Höhe. Ich bestelle eine Flasche Soju, den landestypischen Reisschnaps. Schenke mir die klare Flüssigkeit ein und verziehe schon beim ersten Schluck das Gesicht, was unter den Anwesenden für Heiterkeit sorgt. Ein Mann hebt lachend sein Glas und ruft „Gambeh!“. Das Gesicht noch verzogen, erwidere ich das Zuprosten. Die Verkäuferin hält mir grinsend den Tintenfisch hin. Ich bedanke mich mit einem kehligen „Kamsahmnida“, zahle und lasse die noch mehr als halb volle Flasche stehen.
Auf meinem Weg zerkaue ich hingebungsvoll die heißen Tentakelscheiben. Der Wind wird stärker und vor meinen wässrigen Augen verschwimmen koreanische Leuchtreklamen zu einem fernöstlichen Aquarell. Ich wische mir die Tränen weg und finde mich vor einem der mehr als zweidutzend Eingänge der Gangnam-U-Bahnstation wieder. Ich folge der Treppe abwärts in die Station. Es wird warm und sogar hier unten herrscht geschäftiges Treiben. Imbisse und kleine Supermärkte machen offenbar noch zehn Meter unter der Erde guten Umsatz. Meist junge Koreaner streben in Gruppen oder paarweise den Ausgängen zu. Junge Männer schäkern mit ihren weiblichen Begleitungen, eine Gruppe junger Frauen fängt plötzlich an schallend zu lachen, als jemand ihnen etwas auf seinem Handybildschirm zeigt. Ich wusle mich derweil durch die Menschenmenge zur Rolltreppe. Stelle mich natürlich fälschlicherweise rechts neben die Warteschlange; hier lässt man sich links in den Abgrund fahren, wobei oft auch der Pragmatismus siegt und man sich einfach nebeneinander stellt.
Wer nicht spurt, verliert
Während der Fahrt sticht mir ein Plakat an einer Säule ins Auge; es zeigt eine Szene auf der Rolltreppe, auf der ein blaues Strichmännchen einer pinkfarbenen Rockträgerin unter selbigen fotografiert. Die Szene wurde in dickem Rot durchgestrichen. Eine Ebene tiefer angekommen ignoriere ich den Fahrkartenschalter und halte stattdessen eine Plastikkarte an den Scanner. Eine Errungenschaft, von der ich hoffe, dass sie auch in Deutschland bald Einzug halten wird. Man kauft sich eine Guthabenkarte, die an jeder Station aufgefüllt werden kann und sogar Warnung gibt, wenn das Geld demnächst aufgebraucht ist. Die Bahn fährt gerade ein, als ich das Gleis erreiche. Es herrscht kein Andrang, ich gehe zur erstbesten Tür, die sich öffnet. Der Wagon ist nicht sehr voll, freie Plätze gibt es en masse. Auf einem modernen Bildschirm wird abwechselnd auf Koreanisch und Englisch die nächste Station angezeigt, eine klare Frauenstimme verhindert zusätzlich jede Verwechslung beim Ausstieg. Selbst hier an der Hauptverkehrsader Seouls, die täglich von über sieben Millionen Menschen befahren wird, bin ich in diesem Moment der einzige Europäer in Sichtweite.
Ich schaue aus dem Fenster. Wir verlassen den Untergrund und überqueren den Hangan, den breiten Fluss, der die Hauptstadt teilt. Heute ist die Sicht klar und der Mond lässt das Wasser silbern aufleuchten. Ein für diese Jahreszeit nicht ganz so gewöhnlicher Anblick, denn in der Regel trägt die herbstliche Kältefront aus China auch den Smog Pekings mit sich. Seoul hat keine richtige Skyline, aber von weitem sehe ich die neonbeleuchteten Büroetagen des wirtschaftlichen Zentrums. Tatsächlich arbeiten jetzt noch Menschen an ihren Schreibtischen, denn wer in der knallharten Geschäftswelt Südkoreas nicht spurt, hat schon verloren. Ich lasse meinen Blick durch den Wagon wandern. Eine junge Koreanerin sitzt direkt vor mir, den Kopf nach hinten gekippt, den Mund leicht geöffnet und leise schnarchend. Daneben ein Mann etwa im selben Alter, beide Ohrstöpsel aufgesetzt und die Augen selig geschlossen. Selbsterklärend, wo die arbeitende Schicht ihren Schlaf nachholt. Das Vibrieren meines Handys lenkt mich ab. Ich schaue auf das Display. KakatoTalk, das koreanische Pendant zu WhatsApp, zeigt eine neue Nachricht an. „At 12 near Isu station?“ „C u there“, schreibe ich zurück. Der Abend kann losgehen.
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