Die südkoreanische Hauptstadt ist ein Magnet für Fernostreisende. Moderne und Tradition schaffen ein einzigartiges Flair. Ein gebürtiges Landei in der Metropole und der zweite Teil eines Erlebnisberichts. Teil 1 findest du hier.
Der Reisschnaps macht sich bemerkbar. Die Welt um mich herum wirkt entrückt und mein Kopf wie in Watte gepackt. Während ich auf einer Rolltreppe die Isu Station verlasse, ziehen Menschen wie Schemen an mir vorbei. Der schneidende Wind trifft unvermittelt mein Gesicht, ich stolpere fast über den Vorsprung der Rolltreppe. Das Viertel, in dem ich mich umblicke, wirkt, verglichen mit dem Gangnam, wie ausgestorben. Wenige Autos fahren auf der vierspurigen Straße. Kleine Bürogebäude und 24/7-Supermärkte bestimmen das Bild. Nicht weit vor mir wird ein futuristisch aussehender Turm in allen Regenbogenfarben beleuchtet. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und öffne KakaoTalk. Eine Nachricht blinkt auf. „Where R U?“ Ich drehe mich zum Eingang der Metro. „Isu 7“ tippe ich auf das Display. Fünf Minuten später fährt ein weißer Mittelklassewagen neben mir an den Straßenrand. Das getönte Beifahrerfenster schwebt summend herunter und ein mir vertrautes Gesicht grinst mich an. „There you are!“
Anna ist gebürtige Koreanerin und leitet die Redaktion eines Modemagazins. Kennengelernt haben wir uns zufällig in einer Facebookgruppe, wo ich um Tipps zur Erkundung Seouls bat. Obwohl wir uns nun seit gerade mal zwei Wochen kennen, kommen wir gut miteinander aus. Ich steige ein und wir fahren ins Ungewisse. Abwesend starre ich auf die vorbeiziehenden Lichtstreifen. Elektronische Beats tönen aus den integrierten Lautsprechern, ich bekomme eine Gänsehaut. Wir entfernen uns immer weiter vom Stadtzentrum. Die Gebäude sind niedriger, Licht konzentriert sich nur noch auf Knotenpunkte. An einer stark beleuchteten Fläche parkt Anna das Fahrzeug.
Beim Aussteigen sehe ich ein großes überdachtes Areal, unter dem dutzende Essstände und Läden mit Festbeleuchtung Kunden locken. Fremdartige Gerüche steigen mir in die Nase: Ein Gemisch aus süß, bitter und scharf. Der überdachte Essmarkt ist gut besucht. Anna führt uns zielstrebig durch das Gewusel aus Verkäufern und Kunden. An einem kleinen Restaurant halten wir. „Anything special you would like to eat?“ Ich zucke nur mit den Schultern und schaue sie etwas verunsichert an. Ein riskantes Spiel, denn Anna bestellt grinsend für mich und ich habe keine Ahnung was mich erwartet. Aus einem kleinen Kühlschrank greift sie zwei Bierflaschen. Wir setzen uns an einem Plastiktisch einander gegenüber. „Gambeh“, sagt sie und hält mir ihre Flasche zum Anstoßen hin.
Das Essen wird serviert: Koreanische Wurstsuppe, brühend heiß und scharf. Aber sie schmeckt. Bei meiner Arbeit nahe der Kleinstadt Namwon habe ich einmal beobachtet, wie die geklöppelten Innereien in den Tierdarm gefüllt werden und durch längeres Kochen eine essbare Wurst entstand. Aus einer Holzschachtel angle ich zwei Paar metallene Essstäbchen, reiche Anna eines und mache mich über meine Suppe her. Ich frage Anna wie ihre Woche war. „Very busy.“ Das ist ihre Standardantwort. Ich grinse auf meine Suppe herab. Sie kichert und erzählt mir Anekdoten ihrer Arbeit in der Redaktion. Schnell kommt sie zum Punkt, was genau sie mir heute eigentlich zeigen will. Um Wurstsuppe und Bier geht es offenbar nicht. „You know, my friends are artists and musicians. Today they meet at some kind of secret place to have a party.“ Aha? „You will see“, sagt sie und zwinkert mir zu.
Wir fahren raus dem Stadtzentrum, hinein in eine Gegend die – vor sehr langer Zeit – ein florierendes Industriegebiet gewesen sein muss. Hallen und Schornsteine reihen sich aneinander, dazwischen Wohnhäuser. Wir steigen in einer Seitenstraße aus. „We are close to the place I mentioned before.“ Ich folge ihr in eine dunkle Gasse. Von irgendwoher erklingt elektronische Musik. Aufgeregt folge ich meiner Gastgeberin. Die Lichter mehrerer Zigarettenstummel kommen uns entgegen. Nur das Glühen verrät schemenhaft die Züge der Raucher. Keiner weicht in der engen Gasse aus und irgendwo in meinem Stammhirn macht sich die Abteilung für Selbstverteidigung schon einmal warm. Kurz darauf gibt Anna Entwarnung; sie und die Lichter begrüßen sich herzlich. Offenbar kennt man sich. Einige Minuten lang stehe ich ratlos neben der plaudernden Gruppe, dann verabschieden sich die Glimmstängel. „Come on!“, sagt Anna zu mir und zieht mich in die Richtung der lauter werdenden Musik.
Die dunkle Gasse mündet in einer beleuchteten Straße. Links ein hoher Wohnblock und rechts unser Ziel. „Haus“ kann man das Gebäude nicht mehr wirklich nennen, eher einen Rohbau mit offenen Fenster- und Türöffnungen. Früher muss es einer reichen Familie gehört haben; drei Stockwerke hoch, ein eigener kleiner Garten mit Mauer sowie ein großzügiger Treppenaufgang stehen im Kontrast zum heutigen, eher kalten und engen Charakter der Neuwohnbauten Seouls. Wir betreten das Gebäude. Staunend blicke ich in eine große Eingangshalle. Sie ist rappelvoll mit Koreanern verschiedenen Alters. Manche sind – für mein Begriffe – normal gekleidet, andere tragen ihre Extravaganz (oder künstlerische Ader) offen zur Schau. Ich sehe Lederjacken, zerrissene Jeans, farbenfrohe Schals und teure Accessoires. Eine Holztreppe führt rechts neben mir auf eine Holzbalustrade im ersten Stockwerk, von wo aus noch mehr Gäste auf uns herabblicken. Elektronische Beats ertönen von irgendwo weiter hinten und hallen von den kahlen grauen Wänden wider. Anna führt mich die Treppe herauf. Wir werden von einer bunt gemischten Gruppe begrüßt. Bunt in jeglicher Hinsicht. Ein junger Mann in weißem Tanktop nimmt mich gleich zur Begrüßung in den Arm. Anna stellt ihn mir als Ausdruckskünstler und einen alten Freund vor. Zu uns gesellen sich ein Maler und ein Modeschöpfer. Verunsichert stehe ich in der kreativen Runde.
Unseren mitgebrachten Alkohol verstaut man in den Untiefen einer Kühltruhe und reicht uns stattdessen Sekt. An der Hand werde ich tiefer in das Gebäude geführt. Ein weiterer Bekannter Annas ist offenbar ein stadtbekannter Fotograf. Staunend betrachte ich das Studio, das er in einem der Zimmer eingerichtet hat. Ob Anna und ich Fotos möchten? Anna zieht mich an eine weiße Leinwand. „Cheese!“ ruft´s, ich verstehe jedoch wenig von guter Pose. Grinsend zeigt man uns die Fotos. Ich finde mein gezwungenes Lächeln auf dem Kamerabildschirm erschreckend. Anders sieht das eine sich zu uns gesellende Schauspielerin, die mich nach einer kurzen Musterung mit „You look like a Barbie“ kommentiert. Mir rutscht das Lächeln vom Gesicht. Der Fotograf und Anna schütteln sich vor Lachen. „Come on, for Koreans it is a compliment!“.
Die Musik verebbt, Lichter werden gedimmt. Ich sehe nur noch Schemen. Neugierig gehen wir zurück zur Holzbalustrade. Die Fläche der Eingangshalle unter uns wurde geräumt. Was bleibt, ist ein einzelner Lichtkegel, an dessen Rande ein Mann mit einem Cello auf einem Hocker sitzt. Der Mann beginnt zu spielen. Eine tiefe Melodie erfüllt die Halle. Anna klatscht begeistert in die Hände. Für einige Sekunden blicke ich gebannt auf den im Halbschatten spielenden Musiker. Mit einem Mal mischen sich leichte elektronische Klänge in die Melodie. Ich bin verdutzt. Obwohl Cello und Beats nach meinem Empfinden nicht passen sollten, fügen sie sich harmonisch ineinander. Noch ehe ich darüber nachdenken kann, warum der Lichtkegel nicht auf den Künstler gerichtet ist, springt mit der Grazie einer Ballerina eine zierliche Frau hinein. Nach wenigen Sekunden wird klar: Sie ist eine Ballerina. Und eine professionelle obendrein. Die Saitenklänge, der elektronische Beat und das rhythmisch perfekt abgestimmte Tanzen halten den Saal in Atem. Alle Gäste blicken gebannt auf die Performance. Sowie die Musik verebbt klatschen alle begeistert und bestürmen die Künstler. Wie ich später von Anna erfahre, war die Inszenierung spontan abgestimmt worden. Die Künstler waren sich vorher nie begegnet. Mir rutscht die Kinnlade bei diesen Worten herunter.
Durch eines der Fenster sehe ich mittlerweile das erste Grau der Morgendämmerung am Himmel. Anna, der harte Kern ihrer Freundesgruppe und ich sitzen noch immer an einem Tisch und unterhalten uns angeregt bei Wein und Soju. Kunst als Gesprächsthema ist nicht gerade meine Expertise, dafür kann ich mit meiner Begeisterung für Weltgeschichte punkten; was im intellektuellen Pingpong mit meinen Gesprächspartnern in eine grundphilosophische Debatte ausartet. Oft stockt der Gedankenfluss an meinem nicht ganz ausgereiften Englisch bzw. am kompletten Fehlen desselbigen bei meinen Gesprächspartnern, wofür Anna mit Übersetzungen einspringt. Wir haben dennoch eine lange und angeregte Unterhaltung.
Als uns schließlich die Worte ausgehen, steht einer der Gäste auf und verschwindet im ersten Obergeschoss. Kurze Zeit später erklingen wieder elektronische Beats. Diesmal eher… alternativ. Wie ich von Anna erfahre, ist es derselbe junge Mann, der an der Performance des Cellospielers und der Ballerina mitgewirkt hat. Mehrere von Annas Freunden – allen voran der Ausdruckskünstler im Tanktop – stehen auf und wiegen sich im Takt der Musik. Anna gesellt sich zu ihnen und winkt mir ihr zu folgen. Verschüchtert bleibe ich sitzen. Plötzlich zieht mich der Ausdruckskünstler am Arm von der Bank und auf die Tanzfläche. Auf Englisch erklärt er: „Just dance how you feel. No one is judging.“ Es wirkt wie ein Zauberspruch. Mein Körper entspannt und langsam wiege ich mich im Takt der elektronischen Klänge.
„It was amazing.“ Mehr bekomme ich gerade nicht heraus. Leicht benommen sitzen Anna und ich in einem Taxi. Der Tag ist angebrochen und die Wolken spiegeln sich hellgrau in den Pfützen auf der Straße. Regen prasselt vernehmlich auf das Autodach. Anna grinst mich verschmitzt an. „I had this feeling you might like them.“ Ein wohliges Gefühl macht sich in mir breit. Schon in wenigen Tagen würde ich Seoul verlassen. Weiterziehen auf meiner Reise in Asien. Auch wenn der Aufenthalt in Südkorea relativ kurz war; die Begegnungen würde ich so leicht nicht vergessen. An einer U-Bahn-Station steige ich aus. Winke Anna ein letztes Mal zu und sprinte durch den kalten Regen. Das warme Gefühl bleibt.
Zu Seoul Teil 1 geht es hier.
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