Unser Alltag – vor Corona wurde er nicht groß hinterfragt. Die Routine sorgte schon dafür, dass alles seinen gewohnten und alltäglichen Gang lief. Genauso wie unser Familienleben. Der Corona-Virus hat die Welt auf den Kopf gestellt. Global gesehen befinden wir uns in einem Ausnahmezustand, aber auch das private Leben wurde gründlich durchgeschüttelt. Nun gilt es zu entscheiden: Was wollen wir bewahren, was wollen wir neu aufbauen?

Als junges Ehepaar mit einem Baby haben wir persönlich zwar nicht so grundlegende Veränderungen erlebt wie vielleicht Familien mit Schulkindern, die jetzt plötzlich zuhause blieben. Homeschooling ist für uns noch kein Thema und auch das Süßigkeiten-Regal musste nicht vor heimlichen Plünderungen geschützt werden. Doch die Anpassung an den neuen Familienalltag verlief für uns alle, egal in welcher Situation, in drei ähnlichen Etappen.
Mehr Alltag
Am Anfang gerieten viele von uns in einen undefinierbaren Zustand. Ferien, aber ohne abwechslungsreiche Aktivitäten mit Freunden? Urlaub daheim, aber völlig ungeplant und unvorbereitet? Freiwillige Eigenisolation? Dazu die Ungewissheit und Angst, was das alles zu bedeuten hat – gesundheitlich, gesellschaftlich, wirtschaftlich, jetzt und in der Zukunft.
Wir verbrachten mehr Zeit daheim, mehr Zeit als Familie, aber vielen fiel es aus Unsicherheit schwer, etwas Gutes darin zu sehen. Stattdessen wuchs das Gefühl, zuhause eingesperrt zu sein, und sich mit persönlichen und familiären Angelegenheiten auseinander setzen zu müssen, die sonst neben Arbeit, Hobby und Freunden eher verdrängt werden. Wahrgenommene Bedrohung lässt entweder erstarren, kämpfen oder fliehen . Das häufige Resultat in diesem Mehr an Alltag: passive Verzweiflung, Stillstand, familiäre Konflikte oder die Flucht in die Bildschirmzeit.
Mein Mann war die Monate von der Quarantäne dienstlich sehr viel unterwegs. So schön es auch war, endlich mehr gemeinsame Zeit zu haben, so war der Anfang der Quarantäne dennoch herausfordernd: Zum Beispiel wenn es nun plötzlich galt, dreimal am Tag eine vollwertige Mahlzeit aufzutischen, statt vom Haferbrei der Kleinen zu snacken, wie ich es oft mache, wenn er nicht da ist. Und natürlich verfolgten wir beide das Geschehen um Corona in den sozialen Medien und merkten oft gar nicht, wie wir passiv scrollend nebeneinanderher existierten. Nicht selten führten außerdem die unausgesprochenen Erwartungen darüber, wie jeder die neue „Bonuszeit“ nutzen wollte, zu Frustration und Konflikt. Während ich mit mehr Hilfe im Haushalt und mit unserer Tochter rechnete, hatte mein Liebster seine Zeit schon für lange aufgeschobene Projekte verplant.
Neuer Alltag
Nachdem klar wurde, dass wir uns auf unabsehbare Zeit in Quarantäne befinden, erwachten die meisten Menschen aus ihrem „Survival mode“ und begannen wieder zu agieren, statt nur zu reagieren. Routinen helfen uns Menschen, weil sie uns die mentale Belastung ständiger Entscheidungsfindung abnehmen. Somit entwickelten wir angepasste Alltagsroutinen, die das „neue Normal“ erleichtern sollten. Für Papa wurde ein Übergangsbüro im Schlafzimmer eingebaut, das für die Kinder während der Arbeitszeit nun nicht zugänglich ist. Der Wecker klingelt morgens (ok, vielleicht nicht ganz so früh wie sonst), auch wenn kein Termin drängt. Einfach, um trotzdem jeden Tag nutzen zu können. Dementsprechend passte sich auch abends die Schlafenszeit langsam wieder an vernünftigere Verhältnisse an. Und nachdem die erste große Panikwelle abgeklungen ist, konnten die meisten auch wieder rationalere Entscheidungen im Konsum von sozialen Medien oder Nachrichten und beim Einkauf von Toilettenpapier oder Nudeln treffen.
Wir persönlich fanden auch unsere eigene neue Balance. Ein motivierter Start in den Tag mit Sport und Bibellese, ausgedehnte Spaziergänge zu dritt mit unserer Tochter und entspannte Abende zu zweit auf dem Sofa, mit einem Glas Wein, einem Film oder guten Gesprächen, rahmten unseren neuen Alltag ein. Dazwischen war Zeit für die persönlichen Projekte, an denen jeder für sich zu arbeiten hatte, ob Beruf, Haushalt, Heimwerkern oder Zukunftsplanung. Uns ist dabei bewusst geworden, dass wir nicht einfach nur eine neue Routine wollen. Sondern, und damit komme ich zur letzten Phase, dass wir bewusst unseren Alltag neu gestalten möchten.
Bewussterer Alltag
Der Übergang vom neuen zum bewussteren Alltag geschieht nicht unbedingt automatisch, sondern fordert eine tägliche Entscheidung. Und hier ist gerade die große Chance, die uns diese Ausnahmesituation auch auf lange Sicht schenkt: Wir können aus alten Routinen ausbrechen, die sich über die Jahre unbemerkt eingeschlichen haben. Wir können unseren Alltag neu definieren. Statt sich eingesperrt zu fühlen, ist es die Möglichkeit, den Wert von Zuhause zu erneuern. Slow down statt lock down.
Was macht unser Zuhause aus? Wer sind unsere Nächsten, was macht sie aus? Die Menschen, mit denen wir täglich zusammen sind, und die so schnell selbstverständlich erscheinen? Wir haben das Privileg, jetzt neu und bewusst in diese Beziehungen zu investieren und tragen damit zu einer Atmosphäre im eigenen zuhause bei, in der man dankbar lebt, statt fliehen zu wollen. Wie kann ich zu der Person werden, mit der meine Familie gern „eingesperrt“ ist? Ich bin überzeugt, dass wir unser Zuhause auf lange Sicht lebenswerter gestalten, wenn wir uns diese Frage gerade jetzt stellen.
Jetzt ist die Zeit, sich auf tiefe Gespräche einzulassen, mit ganzer Aufmerksamkeit zuzuhören, das Handy einmal öfter beiseite zu legen und einfach ganz da zu sein. Sich einmal mehr mit dem Lieblingsnachtisch gemeinsam aufs Sofa zu kuscheln, zu entschleunigen und die Seele zu öffnen. Damit können wir neue Rituale für die ganze Familie schaffen, die uns langfristig enger zusammen bringen. Mitten in sozialer Isolation. Mitten im Alltag.
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