Das Leben ist ein Weg mit vielen Abzweigungen – es geht mal auf, mal ab, hält Höhenflüge genauso wie Talfahrten für uns bereit. So manches Tal stellt uns vor die Zerreißprobe. Wir zweifeln und fragen uns mit bis zum Anschlag gespannten Nerven: „Wo geht es hier raus?”. Das Geheimnis liegt darin, die Augen zu öffnen und einen anderen Weg zu suchen. Abzweigungen gibt es viele.
Stille. Der Schotterweg zerfließt unter meinen Rädern. Mit atemberaubender Geschwindigkeit rase ich durch den Wald. Hier und da bricht das Sonnenlicht durch frisch getränktes Blätterwerk. Es hat endlich geregnet, nach Wochen. Ich habe Feierabend.
Zuhause angekommen fällt mir der Rucksack von den Schultern. Beim Essen schweigt Amelie, sagt wieder kein Wort. Ihr Verhalten verärgert mich. Nicht nur sich selbst zieht sie durch ihren Liebeskummer herunter, so langsam nagt ihre Schwere auch an mir. Ich weiß einfach nicht mehr, wie ich mit ihr umgehen soll. Es frustriert mich zu sehen, wie gefangen sie ist. Das war schon vor Corona so.
Ich lebe in einer WG voller unterschiedlicher Kulturen. Menschen aus Arabien, Zentralasien, Baden und Schwaben. Dazu hatte ich mich entschieden. Schon zuvor hatte ich in meiner Heimatstadt in einem ähnlichen Haus gelebt, damals mit Menschen aus Afrika und dem Mittleren Osten. Aber dieses Mal ist es anders. Damals war ich der Gastgeber, dieses Mal bin ich der Gast; bin ich es, der nachträglich eingezogen ist und der darauf angewiesen ist, dass man ihm die Hand reicht.
Auf das Zusammenleben hatte ich mich gefreut; aber das erfordert eben auch, dass wir zusammen leben. Gerade jetzt, in einer Zeit, in der wir, trotz Social Distancing, in der eigenen Wohnung enger zusammenrücken, fällt mir das stärker auf als zuvor. Die Zeiten müssen für manche ein Albtraum sein. Häusliche Gewalt, Einsamkeit und Krankheit. Sie können aber auch zu einer großen Bereicherung werden, wenn man erleben darf, wie man diese Zeit gemeinsam durch- und übersteht.
Bis dass der Reifen platzt …
Corona ist wie ein Kompressor, der Luft in einen Reifen pumpt, über das erträgliche Maß hinaus; der Reifen als unsere Gesellschaft, unsere Beziehungen. Wo die Moleküle fest zusammenstehen, ineinandergreifen, da hält der Reifen, erleben wir tiefe Gemeinschaft. Wo die Moleküle lose aneinanderhaften… PÄNG. Ich frag mich, wann mir der Kragen platzt – wegen Amelie. Und noch viel mehr frage ich mich, ob es nicht eine Alternative gäbe. Muss es ein übles Ende nehmen? Muss es das?
Ich will es nicht. Schon die Flüchtlingskrise hat an unserem Zusammenhalt gerüttelt. Davor die Finanzkrise. Davor, der 11. September. Davor war ich noch zu jung. Müssen Krisen, die de facto Teil unseres Lebens sind, immer wieder zu Zerbrochenheit führen? Kann es nicht einen anderen Weg, eine verheißungsvollere Zukunft geben, als dass Krise zu Krise, Schmerz zu Schmerz führt? Muss es so sein, dass ich dieses internationale Haus, in dem ich lebe, irgendwann ernüchtert verlasse und mir denke: „Das wars, ein geplatzter Traum?!“ Das will ich nicht. Was aber ist der andere Weg? Und vor allem, wie sieht er aus? Wie kann ich ihn festen Schrittes gehen, ohne, dass ich das Gefühl habe, dass er zwischen meinen Füßen zerrinnt, wie bei einem dahinfliegenden Fahrrad?
Vom Ich zum Du
Wir alle sind von dieser Frage betroffen; es ist kein Thema für einen philosophischen Themenabend. Sie ist relevant für unser Leben nach Corona, genauso wie jetzt, weil alle Menschen von Krisen betroffen sind, bei denen wir uns die Frage stellen, wie wir sie überwinden, und wo wir unser Gepäck an den Nagel hängen können?
Um diese Frage zu beantworten, verlassen wir unser Haus und wagen einen Blick dorthin, wo der Kampf am wildesten tobt. Ich würde gerne schreiben, dass es kein Kampf um Leben und Tod ist. Aber das ist es im Fall von Corona für viele Menschen. Die Frontlinie liegt heute nicht in Verdun, sondern in den Krankenhäusern dieser Welt. Der Feind ist unsichtbar und tückisch, unsere Soldaten sind in Schutzanzüge gekleidete, mit Medikamenten und Beatmungsgeräten ausgerüstete Diener der Barmherzigkeit. Es ist ein ungewohnter Kampf, weil das erste Mal alle Menschen dieser Welt gemeinsam auf einer Seite des Grabens stehen und einen gemeinsamen Feind haben.
Wir sitzen alle im gleichen Boot. Was uns die Tränen in die Augen treibt, ist, dass wir wissen, nicht jeder Kampf wird hier gewonnen. Wir verlieren Liebste, Eltern und Kinder. Gleichzeitig geben uns die Ärzte und jeder einzelne Mitarbeiter des Gesundheitswesens Hoffnung! Es sind Menschen, die ihr Leben einer höheren Vision gewidmet haben, ungeachtet ihres eigenen Opfers ganz allein um das Eine bemüht sind: um das Heil der Menschen. Menschen, die weg von sich selbst schauen, und hin auf ihr Gegenüber. Die ihr Leben nicht gestalten nach dem Dogma: „Was brauche ich?“, sondern nach dem Motto: „Was brauchst du?“ Ohne diese Einstellung gäbe es keine Ärzte; kein Gesundheitspersonal. Ohne diese Einstellung gäbe es keine Hoffnung im Kampf gegen Krankheit und Zerbrochenheit.
Die Überwindung einer Krise vollzieht sich zuallererst in unseren Herzen, in unserem Mut, in unserer Bereitschaft, dort zu helfen, wo wir vielleicht selber ein Opfer bringen müssen. Wo wir die Last des Anderen tragen, ihm seinen Rucksack abnehmen, wo wir weg von uns selbst schauen. Das sehen wir nicht nur an den Ärzten, jetzt in dieser Situation. Gleichwohl wird das auch für alle anderen Krisen gelten. Meine Partnerschaft wird nur gelingen, wenn es mir nicht nur um mich selber geht. Auf der Arbeit kann ich mich nur dann einbringen, wenn mein Team mir Mitsprache erlaubt, wenn ich andere zu Wort kommen lasse. Unsere Gesellschaft im Ganzen wird nur dann Bestand haben, wenn wir nicht nur die Gesellschaft unserer Freunde suchen.
Regen
Ich kann meinen Kragen platzen lassen wegen Amelie. Ich kann aber auch erkennen, dass Amelie gerade einfach nicht dazu in der Lage ist, sich aufzurappeln und mich dazu entscheiden, ihr ihren Rucksack abzunehmen oder ein Stück mitzutragen, und so den Druck lindern. Ich bin nicht der Weltenretter und auch Amelie kann ich nicht retten. Wohl aber kann ich, kann jeder, dort wo er ist, sich die Frage stellen „Was würde ich mir wünschen, dass man mir tut, wenn ich in der Situation des Anderen wäre?“ und sein Leben eine Antwort auf diese Frage sein lassen.
Das ist der andere Weg. Gehen wir diesen Weg festen Schrittes, werden unsere WGs, unsere Häuser, ja irgendwann unser ganzes Land immer mehr ein Haus der Hoffnung und des Lebens. Ein Ort, wo trockenes Land des Leids, des Schmerzes und der Depression verwandelt und wiederaufgerichtet wird durch den Regen unserer Barmherzigkeit.
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